Essstörungen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Gemäß ICD-10 werden die Anorexia nervosa oder Magersucht von der Bulimia nervosa oder Ess-Brechsucht unterschieden. In beiden Fällen besteht meist eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und das Streben nach Schlankheit. Dabei ist die Magersucht mit der höchsten Letalität verbunden. Je früher eine Essstörung erkannt und eine adäquate Behandlung eingeleitet wird, umso größer sind die Heilungschancen. Im folgenden Artikel soll daher speziell auf die Diagnostik und Behandlung von Essstörungen für die allgemeinärztliche Praxis eingegangen werden.

Fallbericht

Weil sie sich seit mehreren Monaten ständig erschöpft fühlte, stellte sich eine 21-jährige Patientin bei ihrem Hausarzt vor. Die junge Frau war seit der Kindheit in der Praxis gut bekannt und man war überrascht, wie schlank die früher zu Übergewicht neigende junge Frau geworden war. Sie wog 41 kg bei einer Körpergröße von 1,65 m (BMI 15 kg/m²).

Während sich die Patientin entkleidete, fiel auf, dass sie viele Kleidungsstücke in mehreren Schichten übereinander trug. In der anschließenden körperlichen Untersuchung imponierte ihr kachektischer Zustand. Die Haut war trocken und schuppig. Die übrige Untersuchung von Herz, Lunge, Abdomen und dem Bewegungsapparat war unauffällig. Es wurde Blut abgenommen und ein zweiter Termin vereinbart. Zu diesem zweiten Termin kam die Patientin dann in Begleitung einer Freundin, weil diese sich große Sorgen machte. Sie berichtete, dass sie seit längerem besorgt beobachte, wie sich die Patientin immer weiter beim Essen einschränke und sich auch kaum noch an Unternehmungen beteilige. Auf gezieltes Nachfragen gab die Patientin an, danach zu streben, noch schlanker zu werden und beispielsweise eine "Thigh Gap" zu haben. Damit wird ein durchgängiger Freiraum zwischen den Oberschenkelinnenseiten bezeichnet.

Zuletzt habe sie morgens Joghurt, mittags Trockenobst und abends eine Scheibe Knäckebrot mit Magerquark gegessen. Zudem sei sie immer häufiger joggen gegangen. Es habe ihr so schlichtweg die Zeit für Treffen mit der Freundin gefehlt.

Ausgehend von der ursprünglich unspezifischen Symptomatik wurde bei der jungen Frau letztlich die Diagnose einer Magersucht gestellt und zunächst eine ambulante Therapie eingeleitet.

Diagnosekriterien und klinisches Erscheinungsbild

Zu den Essstörungen zählen nach ICD-10 die Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sowie nach dem neuen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) der American Psychiatric Association auch die Binge-Eating-Störung. Für eine Anorexia nervosa ist ein absichtlich herbeigeführtes Untergewicht von mehr als 15 % des für Alter und Körpergröße zu erwartenden Gewichts oder ein Body-Mass-Index (BMI) von 17,5 oder weniger charakteristisch.

Der Gewichtsverlust kann durch die Vermeidung hochkalorischer Speisen (restriktiver Typ) oder auch durch selbstinduziertes Erbrechen und Abführen, übertriebene körperliche Aktivität sowie seltener durch den fälschlichen Gebrauch von Abführmitteln, Diuretika, Appetitzüglern und Schilddrüsenhormonen (bulimischer Typ) erreicht werden. Es besteht eine mehr oder weniger ausgeprägte Körperschemastörung in Form einer massiven Angst, zu dick zu werden. Auf das Kriterium einer Amenorrhö wird in DSM-5 verzichtet, da dieses Kriterium aufgrund der Einnahme von Kontrazeptiva oder bei immer früherem Auftreten der Erkrankung vor der Pubertät letztlich häufig nicht anwendbar ist. In ICD-10 besteht noch das diagnostische Merkmal einer endokrinen Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse in Form einer Amenorrhö bei Frauen bzw. eines Libido- und Potenzverlustes bei Männern. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die pubertäre Entwicklung verzögert oder gehemmt.

Übersicht 1
Folgende Einteilung der Gewichtsbereiche ist üblich:
  • hochgradiges Untergewicht:
  • Grad II mit BMI < 13,0 kg/m²
  • hochgradiges Untergewicht:
  • Grad I mit BMI 13,0 bis 15,99 kg/m²
  • mäßiggradiges Untergewicht:
  • BMI 16 bis 16,99 kg/m²
  • leichtgradiges Untergewicht:
  • BMI 17 bis 18,49 kg/m²
  • Normalgewicht:
  • BMI 18,50 bis 24,99 kg/m²

Für die Bulimia nervosa sind wiederholte Essanfälle mit anschließendem Erbrechen oder andere oben bereits genannte gegensteuernde Maßnahmen vor dem Hintergrund einer Körperschemastörung diagnostisch relevant. Die Betroffenen weisen im Gegensatz zur Anorexia nervosa jedoch ein normales Gewicht auf.

Im Unterschied zur Bulimia nervosa sind für die Binge-Eating-Störung ebenfalls Essanfälle oder ein sogenanntes "Grasen", ein unaufhörliches Essen unterschiedlichster Nahrungsmittel, charakteristisch. Die Betroffenen üben jedoch in der Regel keine gegenregulatorischen Maßnahmen aus, um eine Gewichtszunahme zu verhindern, so dass die Binge-Eating-Störung häufig mit Übergewicht oder Adipositas vergesellschaftet ist. In den Tabellen 1, 2 und 3 werden die diagnostischen Kriterien einer Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung zusammengefasst dargestellt.

Entstehungsfaktoren von Essstörungen

Neben genetischen und neurobiologischen Faktoren spielen bei der Entstehung vor allem individuelle Faktoren eine Rolle. Häufig lassen sich ein niedriges Selbstwertgefühl, hohe Ansprüche an sich selbst, Perfektionismus und Übergewicht in der Kindheit beobachten. Daneben sind soziokulturelle Faktoren, z. B. Leistungsanforderungen in der Gesellschaft und das medial vermittelte Schlankheitsideal, relevant. Aufrechterhalten wird die Erkrankung durch Anerkennung für die Gewichtsabnahme und das Gefühl, sich selbst unter Kontrolle zu haben.

V. a. Essstörung – was ist zu beachten?

Essstörungen haben unbehandelt häufig schwerwiegende körperliche und psychische Folgen. Daher sollten Betroffene frühzeitig einer spezifischen Therapie zugeführt werden. Bei Verdacht auf eine Essstörung können neben den diagnostischen Kriterien die in nebenstehender Info-Box genannten Fragen der AWMF-S3-Leitlinie "Diagnostik und Therapie der Essstörungen" hilfreich sein [1].

Übersicht 2
Körperliche Folgen einer Essstörung:
  • Zahnschmelzschäden und Speicheldrüsenschwellung
  • trockene Haut und brüchige Nägel
  • Hypothermie
  • Akrozyanose
  • Haarausfall
  • Lanugo-Behaarung
  • Ödeme
  • Bradykardie
  • Hypotonie
  • Herzrhythmusstörungen
  • Speiseröhrenentzündung
  • Obstipation
  • zerebrale Atrophie
  • periphere Nervenschäden
  • Osteoporose
  • verzögerte Pubertätsentwicklung und Minderwuchs
  • Aussetzen der Menstruation

Der weiteren diagnostischen Einschätzung dient dann das Wiegen der möglicherweise betroffenen Patienten. Es sollte in Unterwäsche und ohne Schuhe gewogen und auch selbst gemessen werden. Bei Erwachsenen ist die Berechnung des Body-Mass-Index üblich (BMI in kg/m²), bei Kindern und Jugendlichen werden altersbezogene Perzentilenkurven verwendet. Beim Wiegen ist besonders auf Manipulationen zu achten, wie z. B. falsche Größenangaben oder Zutrinken. Eine übliche Einteilung der Gewichtsbereiche ist der Übersicht 1 zu entnehmen.

Im allgemeinärztlichen Bereich sollte die medizinische Diagnostik neben der Gewichtserfassung mindestens folgende Elemente enthalten: Blutdruck und Puls, Körpertemperatur, Inspektion der Körperperipherie (Durchblutung, Ödeme), Auskultation des Herzens und der Lunge, Palpation und Auskultation des Abdomens, Elektrokardio-gramm, ggf. Sonographie und Echokardiographie (Aszites, Pleura- und Perikarderguss). Bei längerem Krankheitsverlauf ist auch eine Knochendichtemessung anzuraten. Wichtige Laborparameter sind Blutbild, Blutglukose, Elektrolyte, Kreatinin, Leberwerte, Kreatinkinase und Schilddrüsenwerte. Die sich aus der medizinischen Diagnostik dann häufig ergebenden Befunde sind in Übersicht 2 und 3 zusammengefasst.

Komorbiditäten

Essstörungspatienten, die komorbid unter Diabetes mellitus leiden, gehören einer besonderen Hochrisikogruppe an. Sie sind durch ein mögliches "Insulin Purging" unmittelbar und langfristig bedroht. Zur Gewichtsreduktion wird beim Insulin-Purging zu wenig Insulin gespritzt, um die Zuckeraufnahme zu begrenzen und das Gewicht zu reduzieren. An psychischen Begleiterkrankungen bestehen zuallermeist Schlafstörungen, Depression sowie Angst- oder Zwangsstörungen. Nicht selten weisen Betroffene mit bulimischer Symptomatik eine emotional-instabile Persönlichkeit auf und es treten auch Suchterkrankungen auf.

Behandlungsmöglichkeiten

Sind die diagnostischen Kriterien der jeweiligen Essstörung erfüllt, sollte auf empathische, nicht vorwurfsvolle oder belehrende Weise die Erkrankung mit deren körperlichen und psychosozialen Konsequenzen erklärt und Behandlungsmöglichkeiten besprochen werden. Möglicherweise ist eine wiederholte Informationsvermittlung notwendig, weil die Patienten bedingt durch die Kachexie an kognitiven Beeinträchtigungen leiden können. Es sollte die Wichtigkeit einer frühzeitig spezialisierten Therapie vermittelt werden. Psychotherapie ist dabei die Behandlungsmethode der Wahl und in leichteren Fällen ist auch eine ambulante Therapie möglich. Als Richtwert sollte dabei ein BMI von 20 für magersüchtige Patienten vereinbart werden. Stets zu beachten ist jedoch, möglichst an einen für Essstörungen spezialisierten Therapeuten zu verweisen. Wenn dies nicht mehr ausreicht, sollte eine stationäre Versorgung in einem für Essstörungen spezialisierten Setting angestrebt werden. Nach S3-Leitlinie sollte eine stationäre Behandlung insbesondere dann eingeleitet werden, wenn ein rapider oder anhaltender Gewichtsverlust trotz ambulanter oder teilstationärer Therapie besteht, bei gravierendem Untergewicht mit BMI < 15, schwerer bulimischer Symptomatik, ausgeprägter psychischer Komorbidität oder auch ausgeprägter körperlicher Gefährdung oder Komplikation. Eine Zwangsbehandlung ist nur bei akuter Lebensgefahr eine Option und an strenge juristische Vorgaben gebunden.

Medikamentöse Therapie

Eine zumeist auf Erbrechen rückführbare Hypokaliämie soll engmaschig kontrolliert und durch Kaliumsubstitution ausgeglichen werden. Hyponatriämie ist zumeist Zeichen einer Hyperhydratation bei Polydipsie. Der Ausgleich erfolgt über die Normalisierung der Wasseraufnahme sowie bei normaler Natriumzufuhr über die Ernährung.

Übersicht 3
Häufige pathologische Laborbefunde bei Magersucht und Bulimie:
  • Blutbildveränderungen (am häufigsten Leukopenie)
  • Hypokaliämie
TIPP: besonders bei Erbrechen
  • Transaminasenerhöhung
  • Erhöhung der Kreatinkinase
TIPP: oft im Zusammenhang mit exzessiver körperlicher Aktivität
  • fT3-Hypothyreose
BEACHTE: charakteristische Erniedrigung von fT3 bei normalem fT4 und TSH als physiologisches und nicht behandlungsbedürftiges Phänomen bei Untergewicht

Bei längerer Erkrankungsdauer ist auch an eine medikamentöse Osteoporoseprophylaxe mit einem Kalzium/Vitamin-D-Kombinationspräparat zu denken. Eine untergewichtsbedingte charakteristische Erniedrigung von fT3 bei normalem fT4 und TSH gilt als physiologisch und ist nicht behandlungsbedürftig.

Für den Einsatz von Psychopharmaka bei Essstörungen gibt es nur wenig Evidenz. Bei Bulimia nervosa kann insbesondere dann, wenn auch ein komorbides depressives Syndrom vorliegt, Fluoxetin verordnet werden. Magersüchtige Patienten werden im stationären Setting gelegentlich bei Gedankenkreisen, Schlafstörungen und Bewegungsdrang mit Olanzapin behandelt. Die Psychopharmakotherapie wird jedoch stets nur für eine begrenzte Zeit, unterstützend und im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans eingesetzt [2].

Info-Box
Bei Verdacht auf eine Essstörung können folgende Fragen hilfreich sein:
  • "Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Essverhalten?"
  • "Haben Sie Ihr Essverhalten in der letzten Zeit verändert?"
  • "Möchten Sie ändern, was und wie viel Sie essen?"
  • "Beeinflusst Ihr Gewicht Ihr Selbstwertgefühl?"
  • "Machen Sie sich Sorgen wegen Ihrer Figur?"
  • "Lassen Sie manchmal Mahlzeiten bewusst aus?"
  • "Essen Sie heimlich?"
  • "Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal mit dem Essen nicht aufhören können?"
  • "Kommt es vor, dass Sie sich übergeben, wenn Sie sich unangenehm voll fühlen?"


Literatur
1. S3-Leitlinie "Diagnostik und Therapie der Essstörungen". Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) 2010.
2. Greetfeld M, Cuntz U, Voderholzer U. Pharmakotherapie von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa: State of the Art. Fortschr Neurol Psychiat 2012; 80: 9-16.



Autoren:

Dr. med. univ.Tabea Bauman

Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer
Schön Klinik Roseneck
83209 Prien am Chiemsee

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (2) Seite 16-19