Jede medizinische Maßnahme stellt grundsätzlich eine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung dar. Nur durch die gültige Einwilligung des Patienten in die vorgesehene Maßnahme bleibt ärztliches Handeln rechtmäßig. Voraussetzung für eine gültige Einwilligung sind die Einwilligungsfähigkeit des Patienten und eine ärztliche Aufklärung (informed consent). Fehlt eine dieser Voraussetzungen ,so ist ärztliches Handeln auch im Nachhinein rechtlich angreifbar. Anhand eines Beispielfalls, wie es in jeder Hausarztpraxis vorkommen kann, werden in diesem Beitrag die medizinischen, ethischen und juristischen Aspekte fehlender Einwilligungsfähigkeit erläutert.
- Ab wann kann man von einer Einwilligungsunfähigkeit ausgehen?
- Wer kann stellvertretend für die Patientin entscheiden?
- Muss ggf. ein Gericht entscheiden?
- Kann die Amputation bei weiterer Verschlechterung des Zustandes evtl. auch gegen den Willen der Patientin vorgenommen werden, um ihr Leben zu retten?
Einwilligungsfähigkeit
Der einwilligungsfähige Patient entscheidet selbst (nach eingehender Aufklärung) über geplante medizinische Maßnahmen. Anders als bei der Geschäftsfähigkeit ist eine volle Urteilsfähigkeit nicht erforderlich. Die Einwilligungsfähigkeit orientiert sich vielmehr an der Komplexität und der Tragweite der Entscheidung und zwar zum Zeitpunkt der Einwilligung und Behandlung. So kann eine Person, die unter gesetzlicher Betreuung steht, durchaus für bestimmte Maßnahmen (z. B. Zahnbehandlung) einwilligungsfähig sein. Deshalb sollte der Arzt sich immer zuerst mit der Aufklärung an den Patienten wenden. Erst, wenn feststeht, dass der Patient das Aufklärungsgespräch nicht versteht und eine rechtswirksame Einwilligung somit nicht möglich ist, sollte der Arzt eine Vertreterentscheidung herbeiführen.
Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit
Im Rahmen des Aufklärungsgesprächs prüft der Arzt drei relevante Merkmale der freien Willensbildung. Er prüft, ob die Person Gründe für ihre Entscheidung hat, ob sie aus verschiedenen Alternativen die für sie geeignete auswählen kann und schließlich, ob sie selbst ohne innere und/oder äußere Zwänge frei entscheiden kann. Der Arzt stellt sich dabei folgende Fragen:- Hat der Patient die Informationen über die Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten verstanden?
- Erkennt er, was dies lebenspraktisch für ihn bedeutet?
- Kann die Person auch einen Bezug zu eigenen Wertvorstellungen evtl. mit lebensgeschichtlicher Einordnung und affektiver Beteiligung herstellen?
- Werden die verschiedenen Informationen gewichtet und Entscheidungsgründe geäußert?
- Kann der Patient schließlich die Entscheidung treffen, artikulieren und auf Nachfrage verteidigen?
Abschließend kann man den Patienten bitten, in seinen Worten die Gründe für seine Entscheidung zu nennen und Verständnisfragen zu beantworten.
Die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit kann in "Graubereichen" wie einer beginnenden Demenz oder bei bestimmten psychischen Erkrankungen, z. B. Anorexie, recht schwierig sein. Sie ist nicht lediglich die Zuschreibung einer Normabweichung und die Tragweite der Entscheidung (Zahnbehandlung versus Amputation) ist von großer Bedeutung für die Anforderungen. Besonders auch bei Maßnahmen am Lebensende basiert sie auch auf ethisch-normativen Überlegungen unter Abwägung ethischer Werte in spezifischen Situationen.
Ethische Aspekte
Mit der Feststellung der Einwilligungsunfähigkeit ist das eigentliche Problem nicht gelöst. Während der selbstbestimmte Patient souverän und autonom über die Wahl der "Gesundheitsdienstleistung" entscheidet, tritt bei einwilligungsunfähigen Patienten, die sich nicht behandeln lassen wollen, die Fürsorgepflicht des Arztes (wohltun und nicht schaden) in den Vordergrund. Er kann dann besonders in Graubereichen (Bsp. Anorexie) erheblichen ethischen Konflikten ausgesetzt sein. Soll er die selbstschädigende Entscheidung des Patienten akzeptieren (Perspektive der Selbstbestimmung) oder gibt er der Schadensvermeidung und Behandlung den Vorrang? Soll er u. U. die Maßnahmen sogar gegen den Willen des Patienten und unter Anwendung von Zwang (Zwangsbehandlung) durchführen? Lässt sich das ethisch rechtfertigen, auch wenn der gewünschte therapeutische Effekt nicht garantiert werden kann, der Patient anschließend unter "Nebenwirkungen" der Behandlung leidet oder sogar verstirbt?
Rechtliche Aspekte
Ist der Patient nicht einwilligungsfähig, dann kann der Arzt nur in Notfällen eigenmächtig handeln. In allen anderen Fällen ist eine Stellvertreterentscheidung erforderlich. In Deutschland haben Angehörige nicht automatisch eine Entscheidungsbefugnis. Nur wenn sie durch eine Gesundheitsvollmacht bzw. eine Generalvollmacht dazu autorisiert sind, können sie im Sinne des Vollmachtgebers entscheiden. Ohne diese "Vorsorgevollmacht" muss vom Betreuungsgericht ein gesetzlicher Betreuer bestellt werden. Dessen Entscheidung soll sich am mutmaßlichen Willen des Patienten orientieren. Das Gericht wird erst aufgrund einer Betreuungsanregung z. B. durch den Arzt tätig. Es fordert ein ärztliches Betreuungsgutachten an und bestellt nach Anhörung des Patienten einen geeigneten Betreuer. In Eilfällen kann das Verfahren auch abgekürzt werden (Betreuerbestellung durch einstweilige Anordnung; s. Kasten 1).
Nachdem der Arzt den Betreuer aufgeklärt hat, kann dieser in der Regel unter Einbeziehung des Patientenwillen, darüber entscheiden, ob er der Maßnahme zustimmt oder nicht. Bei gefährlichen ärztlichen Maßnahmen (§ 1904 BGB, siehe Kasten 2) muss sich der Betreuer oder der Bevollmächtigte die Entscheidung vom Gericht bestätigen lassen. Diese "bürokratische Hürde" dient sowohl dem Schutz des Betreuten als auch des gesetzlichen Vertreters. In unserem Beispielfall wird dies deutlich. Die Entscheidung zur Amputation bedeutet den irreversiblen Verlust eines Körperteils mit Einschränkung der Mobilität und Lebensqualität. Aufgrund der Multimorbidität ist die Maßnahme nicht ohne Risiko. Komplikationen evtl. mit Todesfolge sind nicht ausgeschlossen. Für den gesetzlichen Vertreter bedeutet die richterliche Genehmigung eine emotionale Entlastung, die Entscheidung ruht auf mehreren Schultern. Für den Patienten kann sichergestellt werden, dass keine voreiligen oder nachlässigen Entscheidungen getroffen werden (Vier-Augen-Prinzip).
Wie wurde im Falle der Patientin Frau Müller entschieden?
Zurück zu unserem Beispielfall: Zwischenzeitlich hat sich der Allgemeinzustand der Patientin weiter verschlechtert. Der Hausarzt weist die Patientin zur stationären Behandlung in das Krankenhaus ein. Mittlerweile wurde der gesetzliche Betreuer vom Betreuungsgericht bestellt, erscheint beim Stationsarzt und weist sich dort durch seine Bestellungsurkunde als gesetzlicher Vertreter der Patientin aus. Nach einem ausführlichen Aufklärungsgespräch kommen Arzt und Betreuer überein, dass die Amputation erforderlich ist, um das Leben der Patientin zu retten. Vorbehaltlich der Bestätigung durch den Betreuungsrichter genehmigt der Betreuer die Amputation. Aufgrund der Dringlichkeit meldet sich der Richter umgehend, lässt sich vom Stationsarzt ausführlich informieren, spricht mit der Patientin und bestätigt dann die Einwilligung des Betreuers.
Erwartungsgemäß ist die Patientin postoperativ delirant, nach gerontopsychiatrischer Intervention kann die geriatrische Frührehabilitation begonnen werden. Letztendlich ist die Patientin weiter pflegebedürftig und wird in einem Pflegeheim untergebracht. Der Hausarzt, der die Patientin nach vielen Jahren auch weiterhin im Pflegeheim betreut, stellt sich nach seinen Besuchen immer wieder die Frage: War die Entscheidung zur Lebenserhaltung im Sinne der Patientin oder hätte sich die Patientin im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte vielleicht dagegen entschieden
Interessenkonflikte: xxx
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (14) Seite 68-70