Dr. med. Stefanie Lutz, die eine Hausarztpraxis in Mainz betreibt, berichtet, wie es ihr seit Beginn der Corona-Pandemie ergangen ist – und wie es das Team immer wieder schafft, den Praxisbetrieb aufrechtzuerhalten.

Wie haben Sie die Pandemie-Zeit bis jetzt erlebt?
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Montag, 16.03.20, 13:20 Uhr: Ich hämmere gegen die Eingangstür des Gesundheitsamtes. Gerade habe ich erfahren, dass die Krankenschwester, die am Freitag bei uns war, positiv auf Corona getestet wurde. Endlich öffnet eine Mitarbeiterin. Sie holt auf mein Flehen hin eine Ärztin aus der Mittagsbesprechung. Diese nimmt meinen "Fall" auf, will sich melden. Ich entscheide, meine Praxis heute geschlossen zu lassen.

Um 15:00 Uhr ist Teambesprechung. Wir haben nichts vom Gesundheitsamt gehört. Wir entscheiden: Meine Kollegin, welche die Krankenschwester untersucht hat, geht in Quarantäne. Alle anderen sind nicht Kategorie 1 und arbeiten weiter. Wo kriegen wir mehr Schutzausrüstung her? Wir beschließen auch, die Abstriche nicht mehr im "Quarantäneraum" zu machen, sondern draußen vor der Tür oder aus dem Auto heraus. Wir müssen verhindern, dass sich das wiederholt.

Dienstag, 17.03.20: Das Telefon steht nicht still. Die Patient:innen haben 1.000 Fragen oder sagen ihre Termine ab. Die Praxis selbst ist gespenstisch leer.

Mittwoch, 01.04.20: Das Max-Planck-Institut spendet uns selbst hergestelltes Desinfektionsmittel. Sechs Kanister verschenke ich an hausärztliche Kolleg:innen. Zusammenhalt war noch nie so wichtig!

Montag, 11.05.20: Es kommt eine Patientin, die sich während des Lockdowns nicht aus dem Haus traute. Diagnose: Peritonealkarzinose bei Ovarialkarzinom. Kollateralschaden der Pandemie? Ich animierte unsere Patient:innen verstärkt, Vorsorgetermine wahrzunehmen und bei Beschwerden in die Praxis zu kommen. Auch Hausbesuche nehmen wir wieder vor, selbstverständlich unter maximalen Schutzvorkehrungen.

Dienstag, 08.09.20: Nach erneut zwei Monaten ohne Corona-Fall sind heute fünf von elf Abstrichen positiv! Nimmt das Pandemiegeschehen wieder Fahrt auf?

Dienstag, 13.10.20: Der SWR berichtet über unsere Arbeit als Corona-Schwerpunktpraxis. Wir machen viele Abstriche, heute 24: diagnostische PCRs, Reiserückkehrer, aber auch schon erste Schnelltests als IGeL.

Dienstag, 27.10.20: Am Freitag hatten wir das Team nach Praxisschluss getestet, alle negativ. Aber dann war es ein Fehler, uns in Sicherheit zu wiegen, als wir am Samstag nach unserer Grippe-Impfaktion zusammen Mittagessen waren. Sonntags wurde eine MFA krank, die PCR war positiv. Um den Laden am Laufen zu halten, beantrage ich für mich und meine Erstkraft beim Gesundheitsamt, dass wir als "Schlüsselpersonal" trotz Quarantäne arbeiten dürfen.

Freitag, 18.12.20: Als ich einen Patienten wegen eines auswärtigen positiven Schnelltests für die PCR abstreiche, hustet er mir ins Gesicht. Trotz kompletter Schutzausrüstung mit FFP2-Maske könnte ich mich infiziert haben. Den Familienbesuch an Weihnachten setzen wir aus, ich teste mich täglich. Höchste Zeit für die Impfung!

Montag, 04.01.21: Ab heute können sich alle über 80 anmelden. Auch wir als Corona-Praxis sind in der Priorisierungsstufe 1, dürfen uns registrieren. Gleichzeitig ist die Doppelbelastung Praxis und Homeschooling für uns als Familie sehr anstrengend!

Mittwoch, 03.02.21: Als mobiles Impfteam bin ich mit meiner MFA im Pflegeheim. Administrativer Wahnsinn: Der Impfling bzw. seine Betreuung muss sieben Unterschriften leisten. Ich hoffe, dass es keine weiteren bürokratischen Hindernisse mehr gibt.

Montag, 08.03.21: Ab heute gibt es kostenlose Schnelltests. Bürger dürfen sich mindestens einem Schnelltest pro Woche unterziehen. In den ersten beiden Wochen machen wir über 200 Tests. Die Tests sind von uns zu beschaffen, die Kosten bekommen wir mit der Quartalsabrechnung zurück. Sollte das unser weiteres Pensum sein, muss ich Tests für das nächste Quartal mit 8.000-10.000 € vorfinanzieren? Das will gut überlegt sein.

Donnerstag, 11.03.21: Immobile Patient:innen über 70 sollen zu Hause geimpft werden dürfen, mit bis zu zwei engen Kontaktpersonen. Mit meinen habe ich im Vorfeld gesprochen. Die meisten können es kaum erwarten.

Montag, 15.03.21: Die Impfung mit AstraZeneca wird gestoppt. Fälle von Sinusvenenthrombosen haben sich im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung gehäuft. In England sind fast 10 Millionen Menschen mit AstraZeneca geimpft, ohne signifikante Häufung dieser Komplikation. Liegt es daran, dass wir nur die Jungen damit impfen und dass diese im medizinischen Bereich oder als Grundschulpersonal zu einem großen Anteil Frauen sind?

Mittwoch, 17.03.21: Heute bin ich im hiesigen Impfzentrum beschäftigt. Von den 530 Impflingen sind viele nicht gut zu Fuß. Wir müssen den Impfstoff in die Praxis bringen und zu unseren Patient:innen nach Hause!

Freitag, 19.03.21: Obwohl AstraZeneca wieder freigegeben wurde, startet die Impfung unserer immobilen Patient:innen nicht wie geplant. Wegen Impfstoffknappheit sollen erst einmal nur die über 80-Jährigen geimpft werden, die Impfung ihrer Kontaktpersonen ist zunächst nicht mehr vorgesehen. Nähere Infos dazu sollen wir in einer E-Mail zum Ende der KW 15 erhalten: Das ist erst Mitte April!

Dienstag, 06.04.21: Der ersehnte Impfstart nach Ostern ist holprig, da mir der Apotheker heute Morgen noch keine Auskunft zu Impfstoffmenge und Lieferzeitpunkt geben kann. Der erlösende Anruf um 13:20 Uhr beflügelt: In Windeseile bestellen wir noch Impflinge für heute ein und planen die nächsten Tage. Von den diese Woche bestellten 150 Impfdosen bekommen wir 108. Damit lässt sich arbeiten. Wir sind überglücklich, vor allem die Patient:innen: Manche weinen vor Glück.

Dienstag, 27.04.21: Wir impfen was das Zeug hält: Ich habe unsere Homepage mit einer Online-Terminanfrage ausgestattet. Jetzt läuft unser Mailpostfach über. Auch wir sind am Limit. Was wird sein, wenn ab Mitte Mai zu weiteren Erstimpfungen die bereits terminierten Zweitimpfungen hinzukommen? Lohnt sich der ganze Stress auch finanziell? Das Impfhonorar wird wohl maximal die Umsatzeinbußen des stillstehenden "normalen" Praxisbetriebs während des Impfens decken. Egal, morgen feiern wir unsere 500. Spritze!



Autor
Stefanie Lutz
Hausärztin in Mainz

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (5) Seite 74-75