Schmerzpatient:innen, vor allem mit chronischen Beschwerden, möglichst wirksam und nebenwirkungsarm therapieren: Das bleibt eine Herausforderung. Heute weiß man, dass der Schmerz am Pathomechanismus orientiert behandelt werden sollte. Bei chronischen Schmerzsituationen sind Stufenkonzepte meist hilfreich. Ein neues Stufenmodell, das der Autor zur differenzierten Schmerzbehandlung im klinischen Alltag angepasst hat, stellt er hier – mit Fokus auf die medikamentöse Therapie – vor.

In der Schmerzbehandlung ließen sich bis heute zwar diverse neue, potenziell pharmakologische Target Points identifizieren, das Portfolio an gezielt wirksamen Medikamenten bleibt jedoch überschaubar: Es klafft weiter eine Lücke zwischen neuen Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung und der gezielten Diagnostik und Behandlung.

Einflussfaktoren auf die Schmerzbehandlung

Vor allem chronische Schmerzen werden auch heute noch nach dem "Trial-and-Error-Prinzip" behandelt. Dabei spielt die Fachrichtung der Erstbehandler häufig die entscheidendere Rolle für die Behandlung als der zugrunde liegende Schmerz [1]. Bei chronischen muskuloskelettalen Schmerzen wird etwa beim Erstkontakt durch Orthopäd:innen vorwiegend Physiotherapie verordnet und keine pharmakologisch basierte Maßnahme eingeleitet. Allgemeinärzt:innen und Internist:innen beginnen eher mit einer pharmakologisch basierten Therapie. Auch medikolegale Ereignisse beeinflussen die Behandlung. So waren NSAR bis zum Rofecoxib (COX-2-Hemmer)-Skandal von 2004 mit 94 % die am häufigsten verschriebenen Nicht-Opioide bei muskuloskelettalen Schmerzen in den USA. Im Anschluss wurde nur noch ein Drittel der Patient:innen beim Erstkontakt mit NSAR (sowohl selektive als auch unselektive) behandelt [1]. Weitere Aspekte wie die Kostenübernahme von Präventionsprogrammen oder physiotherapeutischen Behandlungen beeinflussen das Verschreibungsverhalten.

Stufenkonzepte: Tradition in der Schmerzbehandlung

Die Verwendung von Stufenkonzepten hat spätestens seit dem WHO-Stufenkonzept von 1986 eine Tradition in der Schmerzbehandlung (Abb. 1). Gegen Tumorschmerzen entwickelt, wird das Konzept bis heute als Behandlungsrichtlinie, auch für nicht tumorassoziierte Schmerzen, verwendet. Interessanterweise wurde es nie als Therapie im Rahmen nicht tumorbedingter Schmerzen validiert [2]. Moderne Anpassungen raten heute zu einem 4-Stufen-Konzept, wobei häufiger empfohlen wird, die zweite Stufe (schwache Opioide) bei der Behandlung von Tumorschmerzen zu übergehen. Die Evidenz für eine vierte Stufe (interventionelle Schmerztherapie) oder für den Einsatz von Co-Analgetika/atypischen Analgetika ist bisher schwach [3]. Die klinische Erfahrung zeigt jedoch, dass im Rahmen der Behandlung von tumor- und tumortherapieassoziierten Schmerzen der Einsatz sinnvoll sein kann. Durch die stark verbesserten onkologischen Behandlungsoptionen, auch im fortgeschrittenen Stadium, ist hier vor allem an die größer werdende Gruppe der Langzeitüberlebenden zu denken [4]. Ist es das Ziel, einen Schmerz möglichst gezielt zu behandeln, kann man auf diese Medikamentenklassen häufig nicht verzichten. Das gilt auch für nichttumorassoziierte Schmerzen.

Neues Stufenkonzept

In der Tradition eines Stufenkonzepts haben Vardeh et al. einen systematischen Ansatz in der Beurteilung von chronischen Schmerzen für eine möglichst zielgerichtete Therapie entwickelt [5]. Ihre Arbeit wird hier zusammenfassend dargestellt und das Stufenprinzip auf ein Patientenbeispiel aus der persönlichen Praxis des Autors angewandt. Dabei liegt der Fokus auf der Darstellung einer Option, sich einer Schmerzproblematik klinisch strukturiert anzunehmen.

Praktisches Vorgehen

Die Diagnostik erfolgt jeweils in drei aufeinander aufbauenden Fragestellungen (vgl. Abb. 2):

  1. Welches Schmerzbild liegt vor?
  2. Welcher Mechanismus löst dieses Bild aus?
  3. Welche pharmakologischen Angriffspunkte (Target Points) ergeben sich daraus?

Ziel dieses Vorgehens ist es, "Trial and Error" zu minimieren und von Beginn an eine möglichst am Pathomechanismus ausgerichtete Therapie zu etablieren. Denn jeder gescheiterte Behandlungsversuch reduziert die Compliance der Patient:innen und somit die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Therapie [6]. In Tabelle 1 und 2 werden Schmerzbild und Schmerzmechanismen kurz erläutert. Ein Schmerzbild definiert sich immer aus Symptomen und zusätzlichen Erkenntnissen aus der Diagnostik mittels Bildgebung, laborchemischer und apparativer Diagnostik (Zeichen).

Anwendung des Stufenkonzepts: Fallbeispiel

Ausgangssituation

Ein 35-jähriger Mann wird zwölf Monate nach Leistenhernien-Op. links und mit Schmerzpersistenz durch eine chirurgische Praxisklinik zugewiesen.

Anamnese

  • Die Vorstellung bei den Kollegen erfolgte bei brennenden Schmerzen in den Bereichen Leiste, Skrotum und dezent auch an der Innenseite des linken Oberschenkels (OS).
  • Die Diagnose: Leistenhernie mit V. a. neuronales Entrapment.
  • Es besteht die Indikation zur operativen Versorgung mittels laparoskopischer Netzplastik.
  • Postoperativ kommt es zur Verschlimmerung des brennenden Schmerzes (Berührung des Hodensacks/Anheben des Hodens löst elek-trisch einschießende Schmerzen aus).
  • Die Sexualität ist aufgrund der Berührungsempfindlichkeit stark eingeschränkt.
  • Im Verlauf: größer werdendes Schmerzareal (Penisschaft, Innenbereich des OS).

Medikamentenanamnese

  • Das gegebene Pregabalin musste bei starken Nebenwirkungen (Konzentrationsschwäche und Doppelbilder) abgesetzt werden.
  • Danach Gabe von Ibuprofen und Metamizol: abgesetzt wegen Wirkungslosigkeit.
  • Aktuell: Oxycodon/Naloxon retard 10 mg 1-0-1 sowie maximal dreimal tägl. 10 mg in Reserve (wird ausgeschöpft); Nebenwirkungen: Tagesmüdigkeit und Obstipation, Libidoverlust.

Klinische Untersuchung

  • Inspektorisch: reizlose Narbenverhältnisse nach Hernienversorgung.
  • Verifizierung der Allodynie beim Bestreichen der Haut mit Wattestab skrotal sowie an der Innenseite des OS links. Pinprick-Test wird nicht toleriert. Keine makroskopischen Auffälligkeiten des Hautbilds.

Bildgebende Diagnostik

  • MRI: kein Hinweis auf Inflammation im Bereich der Netzplastik, kein Erguss, neurale Strukturen nicht sicher abgrenzbar.

Stufenschema Diagnostik

Stufe I: Das Schmerzbild

Anamnestisch und klinisch besteht der Verdacht auf einen neuronalen Schaden (differenzialdiagnostisch vorausgegangenes Entrapment) des N. genitofemoralis links. Der Patient kann den initialen Schmerz differenziert auf das Versorgungsgebiet des Nervs eingrenzen. Nach dem Stufenkonzept sprechen die Symptome für ein neuropathisches Schmerzbild. Überschneidend weist die Schmerzareal-Ausweitung auf ein zentralisiertes/dysfunktionales Schmerzbild hin.

Zusammenfassung

Symptome: brennend, elektrisch einschießender Schmerz. Zeichen: positive Allodynie-Testung, Bildgebung nicht konklusiv. Ausweitung des Schmerzareals ohne Hinweise auf periphere Inflammation. Die Hypothese nach Stufe I: Gemischt neuropathisches und zentralisiertes Schmerzbild.

Stufe II: Pathomechanismus

Der langfristige Nutzen therapeutischer Infiltration peripherer Nerven ist schlecht belegt. Gezielt eingesetzt, können Infiltrationen jedoch bei diagnostischen Fragen unterstützen. Hier resultierte die gezielte ultraschallgesteuerte Blockade des
N. genitofemoralis mit Lokalanästhetikum in einer kompletten Schmerzfreiheit im Versorgungsgebiet des Nervs bei nun testbarer persistierender Hyperalgesie (Pinprick) im Bereich des medialen OS.

Zusammenfassung:

Eine Teilkomponente des Schmerzes ist durch eine gezielte Nervenblockade ausschaltbar. Es persistiert eine Hyperalgesie über das eigentliche Versorgungsgebiet des Nervs hinaus. Die Hypothese nach Stufe II: Schmerzmechanismus: ektope Aktivität plus zentrale Sensitivierung/Aufhebung der Hemmung (klinisch praktisch nicht zu differenzieren).

Stufe III: Möglichst zielgerichtete Therapie

Aufgrund ihres modulierenden Wirkmechanismus an den Opiatrezeptoren lassen sich Opioide, wie im Fallbeispiel, theoretisch bei fast allen Schmerzen einsetzen, können aber nie als gezielte Schmerztherapie betrachtet werden. Nach aktueller S3-Leitlinie zur Langzeitbehandlung nicht tumorbedingter Schmerzen (LONTS) sind Opiate nur bei klarem Ansprechen über mehr als 12 Wochen einzusetzen [7]. Die Gabe eines spezifischen Natriumkanalblockers wäre hier die zielgerichtete Therapie auf molekularer Ebene. Trotz vielversprechender Grundlagenforschung blieb der Durchbruch dieser Medikamentenklasse aber bisher aus [8, 9]. Anamnestisch wurden bei neuropathischen Schmerzen häufig eingesetzte Pentinoide (Pregabalin, Gabapentin) nicht toleriert. Bei dringendem V. a. zentrale Sensitivierung oder aufgehobene Hemmung sind neben NMDA-Antagonisten (z. B. Ketamin) duale Amin-Reuptake-Inhibitoren mit den bekannten Vertretern der Noradrenalin-Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SNRI) die Therapie der Wahl.

Verlauf

Als SNRI wurde Duloxetin in der Dosierung 30 mg (im Verlauf 60 mg) eingesetzt. Innerhalb von zwei Wochen kam es zu einer deutlichen Rückbildung der Allodynie-Komponente. Die Opiate konnten innerhalb von vier Wochen schrittweise ausgeschlichen werden. Eine Berührung wurde wieder tolerabel und nach Absetzen der Opiate verbesserte sich die Libido ebenfalls. Persistierend waren elektrisch einschießende Schmerzen, jedoch in abgeschwächter Form. Ein erster Auslassversuch der Medikation nach sechs Monaten gestaltete sich frustran. Nach 12 Monaten konnte die Medikation erfolgreich ausgeschlichen werden.

Anmerkung zur Polypharmazie

So wünschenswert eine zielgerichtete Therapie von Beginn an ist: In der Schmerztherapie werden wir häufig mit einer etablierten Polypharmazie bei unzureichend eingestellten Schmerzen konfrontiert. Gerade hier kann es sinnvoll sein, sich dem Schmerz nach dem Stufenmodell zu nähern, um primär nicht zielführende Medikamente zu identifizieren und möglichst beschränken oder absetzen zu können. Häufig lassen sich Nebenwirkungen bei unveränderten Schmerzen reduzieren, wodurch die Lebensqualität der Patient:innen verbessert werden kann. Gerade bei einer pharmakologischen Behandlung chronischer Schmerzen ist die regelmäßige Reevaluation der Wirksamkeit einer etablierten Schmerztherapie bedeutsam, um eine wirkungsarme und nebenwirkungsreiche Polypharmazie zu verhindern.

Fazit

Therapien, die spezifisch auf den molekularen Pathomechanismus des Schmerzes ausgerichtet sind, haben häufig noch nicht den Weg in den klinischen Alltag gefunden. Ein stufenweises Vorgehen bietet die Möglichkeit, sich einer komplexen Schmerzsituation anzunehmen. Ziel sollte es dabei sein, fehlgeschlagene Behandlungen möglichst gering zu halten und nebenwirkungsreiche Polypharmazie zu verhindern.

Essentials: Wichtig für die Sprechstunde
  • Chronische Schmerzen werden auch heute noch nach dem "Trial-and-Error-Prinzip" behandelt.
  • Bei einer komplexen Schmerzsituation sollte man hier immer stufenweise vorgehen.
  • Opioide lassen sich bei fast allen Schmerzen einsetzen, aber nie als gezielte Schmerztherapie.
  • Opiate sind nach aktueller S3-Leitlinie zur Langzeitbehandlung nicht tumorbedingter Schmerzen (LONTS) nur bei klarem Ansprechen über mehr als 12 Wochen anzuwenden.
  • Polypharmazie sollte man durch regelmäßige Reevaluation der Wirksamkeit der Schmerztherapie verhindern.


Literatur:
1. Feldman DE, Carlesso LC, Nahin RL. (2019) Management of patients with a musculoskeletal pain condition that is likely chronic: Results from a national cross sectional survey. J Pain
2. Eisenberg E et al. (2005) Time to Modify the WHO Analgesic Ladder? Pain Clin Update;13
3. Bennett MI. (2017) Mechanism-based cancer-pain therapy. Pain 158 Suppl 1:S74-S8
4. Ruppen W, Schneider T. (2020) Moderne Schmerztherapie in der Onkologie. Der Onkologe 26(2):139-43
5. Vardeh D, Mannion RJ, Woolf CJ. (2016) Toward a Mechanism-Based Approach to Pain Diagnosis. J Pain 17(9 Suppl):T50-69
6. Jin J et al. (2008) Factors affecting therapeutic compliance: A review from the patient‘s perspective. Ther Clin Risk Manag 4(1):269-86
7. Cremer-Schaeffer P, Sommer C. (2020) Long-term opioid use in non-cancer pain (LONTS 3). Schmerz 34(3):200-3
8. McDonnell A et al. (2018) Efficacy of the Nav1.7 blocker PF-05089771 in a randomised, placebo-controlled, double-blind clinical study in subjects with painful diabetic peripheral neuropathy. Pain 159(8):1465-76
9. Cardoso FC, Lewis RJ. (2018) Sodium channels and pain: from toxins to therapies. Br J Pharmacol 175(12):2138-57


Autor:

Dr. med. Tobias Schneider

Department für Anästhesie
Universitätsspital Basel
CH-4031 Basel

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (2) Seite 16-19