Patienten, die einen krankhaft hohen Konsum an Online-Pornografie oder ein anderes hypersexuelles Verhalten an den Tag legen und darunter leiden, wenden sich immer häufiger auch an den Hausarzt. Schwieriger wird es, wenn "sexsüchtiges" Verhalten nicht offen angesprochen wird, sondern sich etwa hinter psychosomatischen Beschwerden versteckt. Tatsächlich erfüllt nur eine Subgruppe besonders schwer betroffener Personen die Kriterien einer wirklichen Verhaltenssucht.

Die Frage, wie viel Sex zu viel ist und welche Formen sexuellen Handelns potenziell schädlich sind, ist in der Theorie kompliziert und vielschichtig. Wendet sich ein Patient in der Praxis direkt hilfesuchend an seinen Arzt, ist es natürlich immer einfacher, die Symptomatik zu erkennen, die individuelle Problematik zu verstehen und den Leidensdruck des Patienten nachzuvollziehen (vgl. Kasuistik).

Kasuistik
Ein erfolgreicher selbstständiger Unternehmensberater, 44, berichtet, dass durch die ständige Beschäftigung mit Sex sein Leben "aus dem Ruder zu laufen" drohe. Er wacht morgens mit dem Gedanken an Sex auf und schläft abends mit dem Gedanken an Sex ein. Eigentlich sei er glücklich verheiratet und habe ein regelmäßiges und befriedigendes Sexualleben mit seiner Frau, betont der Patient. Trotzdem wartet er jeden Abend nur darauf, dass seine Frau ins Bett geht, um dann stundenlang bis zur Erschöpfung in einschlägigen Chatforen aktiv zu sein und/oder exzessiv Pornografie zu konsumieren. Seit etwa zwei Jahren verabredet er sich zusätzlich auf seinen häufigen Dienstreisen mit anderen Frauen. Die sexuellen Kontakte bricht er häufig wieder ab, weil sie für ihn nicht besonders erregend und befriedigend sind. Im Grunde will er nicht fremdgehen, weil er weiß, dass dies für seine Frau die "rote Linie" ist. Gegen den Impuls zu diesem "Jagdverhalten" komme er trotzdem nicht an, erklärt er. Alle Versuche, sein Verhalten zu kontrollieren, seien gescheitert. Er sei oft verzweifelt, wisse nicht mehr weiter.

Kernmerkmale und Klassifikation

Als Hypersexualität bezeichnet man die fortgesetzte oder wiederkehrende intensive und exzessive Beschäftigung mit sexuellen Fantasien, Impulsen und Verhaltensweisen, die für den Betroffenen kaum oder gar nicht zu kontrollieren ist, was zu subjektivem Leidensdruck und negativen Konsequenzen führt [1]. Hypersexuelles Verhalten kann sich in einer Vielzahl von Verhaltensweisen ausdrücken. Als wichtigste Spezifikatoren gelten:

  • Prädominanz der Masturbation gegenüber Partnersexualität. Bei einem hohen Prozentsatz der Betroffenen stellt die Masturbation den Hauptausdruck sexuellen Verhaltens dar und besitzt einen höheren Stellenwert als die beziehungsorientierten Komponenten der Sexualität. Die Selbstbefriedigung wird oft als drang- oder zwanghaft erlebt und ist meist verbunden mit Pornografiekonsum. Frequenzen von mehr als fünfmal täglich sind nicht selten und werden oft nicht von sexueller Befriedigung, sondern von körperlicher Erschöpfung beendet. Häufig wird der Orgasmus extrem lange herausgezögert und führt zu keiner oder nur zu einer kurzfristigen Sättigung. Postorgastisch tritt vielfach eine dysphorische Stimmung auf ("Katerstimmung"), die das masturbatorische Verhalten perpetuiert.
  • Exzessiver Pornografiekonsum. Exzessiver Pornografiekonsum findet sich als zentrales Merkmal ebenfalls bei einem hohen Prozentsatz der Betroffenen und hat durch die leichte Verfügbarkeit eines riesigen Angebots an pornografischen Möglichkeiten im Internet zweifellos an Brisanz gewonnen. Der Konsum von Pornografie kann trotz eingetretener oder drohender negativer Konsequenzen (Probleme am Arbeitsplatz, Entdeckung durch die Partnerin, finanzielle Aspekte) nicht reguliert werden.
  • Promiskuität/multiple Sexualpartner. Das dritte Kernmerkmal exzessiven Sexualverhaltens bezieht sich auf einen Komplex aus Promiskuität, notorischem Fremdgehen und Sex mit multiplen Sexualpartnern. Die Verhaltensweisen können sich sowohl auf Prostitution als auch auf nicht-käuflichen Sex richten und nehmen einen Großteil der verfügbaren Zeit und Energie ein. Die Umgebung wird praktisch permanent auf mögliche Sexualpartner "gescannt". Es besteht auch häufig ein großes Geschick, potenzielle Partner "herumzukriegen", worin nicht selten das Hauptziel des Verhaltens besteht. Sehr häufig werden dazu Chat-rooms und Online-Partnerschaftsportale (Cybersex) genutzt.

Klassifikatorisch wird hypersexuelles Verhalten als Verhaltenssucht, Störung der Impulskon-
trolle, Zwangsstörung oder als hohes, dysreguliertes Sexualverlangen eingeordnet [2]. Für jede dieser Zuordnungen gibt es Argumente pro und contra, so dass es für die Praxis am sinnvollsten erscheint, Hypersexualität als multifaktorielles Hybridphänomen zu betrachten, dessen gemeinsamer Nenner die dysregulierte Sexualität ist.

Prävalenz

In Ermangelung zuverlässiger epidemiologischer Studien muss auf Schätzwerte zurückgegriffen werden, die davon ausgehen, dass zwischen 2 und 6 % der Allgemeinbevölkerung betroffen sind, wobei dies nicht bei allen mit einem signifikanten Leidensdruck einhergeht [3]. Die überwiegende Mehrzahl der Ratsuchenden sind Männer, wobei sich die kritischen Verhaltensmuster zwischen den Geschlechtern deutlich unterscheiden. Bei Frauen beziehen sie sich mehr auf promiskes Verhalten und Online-Chats. Für Männer nimmt die Pornografie und die Masturbation den zentralen Bereich ein, für Frauen haben diese Bereiche einen untergeordneten Stellenwert.

Das Vorgehen beim Hausarzt

Wie lässt sich zwanghaftes Sexualverhalten diagnostisch erfassen? Im Fokus der Diagnostik stehen das Gespräch mit dem Patienten und die detaillierte Erfassung des hypersexuellen Verhaltens inklusive seines aktuellen und biografischen Hintergrunds. Eine orientierende Sexualanamnese ist hilfreich: Bei nicht wenigen Betroffenen liegen sexuelle Dysfunktionen vor. In der Praxis erweisen sich vier Screening-Fragen als sehr nützlich [4]:

1. Hatten Sie jemals wiederkehrende Schwierigkeiten, Ihr sexuelles Verhalten zu kontrollieren?

2. Hatte Ihr sexuelles Verhalten negative Konsequenzen (juristische, in der Partnerschaft, im Beruf, medizinisch, zum Beispiel sexuell übertragbare Krankheiten)?

3. Gab es Versuche, das Verhalten zu verheimlichen, und/oder Schamgefühle?

4. Hatten Sie jemals das Gefühl, zu viel Zeit mit sexuellen Aktivitäten zu verbringen?

Als Ergänzung zur Diagnostik kann man Selbstbeurteilungsfragebögen wie das "Hypersexual Behavior Inventory" (HBI 19) einsetzen – mit einem Cut-off-Wert, der für die Beurteilung des Schweregrads hilfreich ist [5]. Wichtige Differenzialdiagnosen sind sexuell getönte Zwangsgedanken, vermehrte sexuelle Impulse bei manischen oder hypomanischen Episoden, die im Rahmen bipolarer Störungen, bei der Borderline-Persönlichkeit oder bei schizophrenen und wahnhaften Störungen auftreten. Diese sind jedoch direkt an die affektive oder psychotische Symptomatik gebunden und entaktualisieren sich mit dieser auch wieder. Exzessives Sexualverhalten ist auch von sexuellen Auffälligkeiten bei neuropsychiatrischen Störungen (z. B. frontalen oder temporal-limbischen Läsionen) und einer medikamenteninduzierten Störung bei Parkinsonpatienten unter Dopaminersatztherapie abzugrenzen.

Beratung und Therapie

Die Praxiserfahrung zeigt, dass sich die Mehrzahl der Ratsuchenden mit der Selbstdiagnose "Sexsucht" vorstellt. Häufig, nachdem das verheimlichte sexuelle Verhalten – Bordellbesuche, Affären, Chatroom-Aktivitäten oder (am häufigsten) exzessiver Pornografiekonsum – "aufgedeckt" worden ist und es zu unangenehmen Konsequenzen in der Partnerschaft oder im beruflichen Kontext kam. Nicht selten wurden die Patienten von ihrer Partnerin ultimativ aufgefordert, "etwas zu unternehmen". Das Etikett "Sexsucht" sollte der Arzt nicht als feststehende Diagnose übernehmen, sondern zunächst nur als Anzeichen dafür werten, dass der Patient und/oder seine Partnerin seine Sexualität oder bestimmte Aspekte davon als problematisch, inakzeptabel oder besorgniserregend empfindet. Alles Weitere muss man im individuellen diagnostischen Prozess mit dem Patienten beziehungsweise dem Paar klären. Dabei sind die beschriebenen Screeningfragen und Fragebögen nützlich. Noch wichtiger ist eine Analyse der aktuellen Lebenssituation und der Bedingungen, unter denen das hypersexuelle Verhalten auftritt.

Folgende Aspekte können dabei wichtig sein [6]:

  • Ist das Problemverhalten als Reaktion auf eine unbefriedigende partnerschaftliche Sexualität oder andere Beziehungskonflikte entstanden?
  • Gibt es sexuelle Dysfunktionen (z. B. Erektionsstörungen, vorzeitiger oder verzögerter Orgasmus), die durch das problematische Sexualverhalten kompensiert werden sollen?
  • Welche Bedeutung haben persönliche oder religiöse Wertvorstellungen, auch aufseiten der Partnerin?
  • Welches sind die zentralen Funktionen des Verhaltens (Flucht/Vermeidung, Ausgleich von negativen Gefühlen oder Langeweile, angenehmes Gefühl sexueller Erregung, Erleben von Macht und Kontrolle etc.)?
  • Welche Stressoren und Belastungsfaktoren gibt es im Leben des Patienten und in welchem Zusammenhang stehen diese zum Problemverhalten?
  • Gibt es Probleme mit stoff- oder nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten?
  • Gibt es zugrundeliegende oder komorbide psychische Probleme oder Krankheiten?

Für den Patienten stellt das vertrauensvolle Gespräch mit dem Hausarzt meist das erste Mal dar, bei dem er sich mit seinem oftmals streng verheimlichten und mit großer Scham belegten Verhalten offenbart. Diese Selbstöffnung kann eine hohe kurative Kraft entfalten und bereits erste Schritte zu Verhaltensänderungen ermöglichen. Dem Patienten kann man dann verdeutlichen, dass ohne eine verbesserte Selbstregulation und eine deutliche Reduzierung der sexuellen Überstimulation eine erfolgreiche Veränderung dysregulierten Sexualverhaltens nicht möglich ist.

Ein erster wichtiger Schritt besteht in einer möglichst detaillierten Protokollierung der Gedanken, Gefühle und typischen Situationen, die dem Problemverhalten vorausgehen. Eine solche Selbstbeobachtung sollte einige Wochen umfassen und führt häufig schon zu einer besseren Verhaltenskontrolle. Darauf aufbauend ist es hilfreich, mit den Patienten im Sinne eines gestuften Abstinenzversuchs eine deutliche Reduktion oder "Pause" von jeder artifiziellen sexuellen Stimulation zu vereinbaren. Wie lange diese Phase dauert und was für den Patienten ein realistisches Reduktionsziel ist, muss individuell abgestimmt werden. Manchmal reichen schon vier bis sechs Wochen für spürbare Veränderungen aus. Wichtig ist, dass weder sexuelle Partnerkontakte noch Masturbation in dieser Zeit "verboten" sind, Letztere sollte jedoch nicht in Verbindung mit Pornokonsum oder anderen artifiziellen Reizen (Chatrooms, Telefonsex, Datingseiten etc.) erfolgen. Oft entwickeln die Patienten von sich aus alternative Bewältigungsstrategien auf Stressoren und negative Gefühlszustände. Das Gefühl der Kontrolle steigt, die Patienten nehmen wieder mehr am Leben teil, berichten über eine "gesündere" Sexualität.

Schnittstelle zum Spezialisten

Für diejenigen Patienten, bei denen eine längerfristige und spezialisierte Behandlung deutlich benötigt wird, gibt es die sexualwissenschaftlichen beziehungsweise sexualmedizinischen Universitätsinstitute (Berlin, Hamburg, Hannover und Kiel), Spezialeinrichtungen wie das Sexualmedizinische Kompetenzzentrum Hannover sowie die Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten, die über sexualmedizinische und sexualtherapeutische Kompetenzen verfügen. Diverse psychotherapeutische und psychosomatische Fachkliniken haben zudem spezielle stationäre Angebote. Für die Therapie bewährt haben sich multimodale Ansätze, die Elemente kognitiver Verhaltenstherapie (KVT), Rückfall-Vermeidungs-Therapie, psychodynamisch orientierte Verfahren sowie pharmakotherapeutische Optionen beinhalten. Die Therapieprogramme bestehen in der Regel aus einer individualisierten Kombination von Strategien zur Kontrolle/Regulation des hypersexuellen Verhaltens und der Bearbeitung tief verwurzelter intrapsychischer oder dyadischer Faktoren, die das Verhalten verursacht haben oder aktuell aufrechterhalten. In vielen Fällen gehören Intimitätsdefizite und ein fehlender Zugang zu den eigenen Gefühlen zu den Kernproblemen [7].

Neben der Psychotherapie lassen sich bei einem exzessiven oder hochriskanten Problemverhalten vorübergehend auch pharmakotherapeutische Optionen einsetzen. Ziel ist es, die Kontrolle über das Problemverhalten durch die Substanzen zu verbessern oder permanent andrängende Sexfantasien oder Handlungsimpulse abzudämpfen. Das übliche Therapieschema beginnt mit SSRI, die affektmodulierend und steuerungsverbessernd (vor allem hinsichtlich der Fantasieproduktion) wirken, geht weiter über Mood-Stabilizer oder Antiepileptika bis zu Antiandrogenen (Cyproteronacetat, LHRH-Analoga), wenn eine eindeutige Fremd- oder Selbstgefährdung vorliegt.

Fazit für die Praxis
Probleme mit der Regulation von sexuellem Verhalten und Pornographiekonsum sind häufig, erfüllen aber nur zu einem Teil die für die ICD-11 vorgeschlagenen Störungskriterien oder die Merkmale einer Verhaltenssucht. Die häufigsten negativen Konsequenzen hypersexuellen Verhaltens sind partnerschaftliche und berufliche Probleme sowie sozialer Rückzug. In der Praxis sollte die Selbstdiagnose des Patienten durch Screeningfragen und eine orientierende Sexualanamnese verifiziert werden. Die Beratung zielt zunächst auf ein Selbst-Monitoring sowie auf eine gestufte Reduktion der problematischen Verhaltensweisen. Wichtig ist, dass der Leidensdruck der Ratsuchenden ernst genommen wird und der Hausarzt als Ansprechpartner verfügbar ist. Mit seinen Mitteln und seiner Erfahrung kann er den Patienten so helfen, die Spirale aus exzessivem Verhalten und Selbstverachtung zu durchbrechen.


Literatur
1. Walton MT, Cantor JM, Bhullar N, Lykins AD. Hypersexuality: A critical review and introduction to the "Sexhavior Cycle". Archives of Sexual Behavior. 2017;46:2231-2251
2. Hartmann U, Mörsen CP, Böning J, Berner M. Exzessives Sexualverhalten. In: Mann K, Hrsg. Verhaltenssüchte. Berlin: Springer; 2014
3. Kaplan MS, Krueger RB. Diagnosis, assessment, and treatment of hypersexuality. Journal of Sex Research. 2010;47:181-198
4. Kafka MP. The paraphilia-related disorders: Nonparaphilic hypersexuality and sexual compulsivity/addiction. In: Leiblum SR, Rosen RC (Eds.) Principles and Practice of Sex Therapy 3rd Ed. New York: Guilford; 2000.
5. Reid RC, Garos S, Carpenter BN. Reliability, validity, and psychometric development of the Hypersexual Behavior Inventory in an outpatient sample of men. Sex Addiction and Compulsivity. 2010;18:30-51
6. Hartmann U (Hrsg.). Sexualtherapie – Ein neuer Weg in Theorie und Praxis. Berlin: Springer; 2018
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7. Kobs J, Spenhoff M, Hartmann U.) Sexsucht – Diagnose, Differentialdiagnose, Therapieansätze und ein Fallbeispiel. Sexuologie. 2010;18:72-80.



Autor:

Prof. Dr. Uwe Hartmann

Sexualmedizinisches Kompetenzzentrum Hannover
30159 Hannover

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (9) Seite 48-52