Aktuell wird nur eine Minderheit depressiv Erkrankter leitlinienkonform behandelt. Insbesondere eine Psychotherapie ist häufig erst nach langer Wartezeit verfügbar. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, das die Kostenerstattung regelt und die Nutzung digitaler Gesundheitsanwendungen erleichtert, soll sich das ändern. Wie können Hausärzt:innen diese neue Möglichkeit nutzen, um Defizite in der psychotherapeutischen Versorgung depressiv Erkrankter zu reduzieren?

Depressive Erkrankungen (F32.- und F33.-) zählen mit einer Ein-Jahres-Prävalenz von 9,5 % für Frauen und 3,4 % für Männer auch in der hausärztlichen Versorgung zu den häufigsten Erkrankungen [11]. Während die medikamentöse Behandlung von depressiv Erkrankten mehrheitlich durch Hausärzt:innen durchgeführt wird, erfolgt die psychotherapeutische Regelversorgung durch ärztliche und psychologische Psychotherapeut:innen. Laut Leitlinien soll Patient:innen mit Depressionen eine Psychotherapie angeboten werden, wobei hier bei leichten Depressionen die Psychotherapie gegenüber der Pharmakotherapie präferiert wird [9].

Bei depressiven Erkrankungen ist ein psychotherapeutisches Verfahren mit guten Wirksamkeitsbelegen die sog. kognitive Verhaltenstherapie [8, 15]. Dieser eher pragmatische psychotherapeutische Ansatz umfasst Elemente wie Tagesstrukturierung sowie Modifizierung negativer Gedankenkreise mittels "Hausaufgaben", über die veränderte Verhaltensmuster eingeübt werden können. Bei depressiv Erkrankten, die im gesunden Zustand häufig sehr leistungsorientierte Menschen sind, ist häufig das Erkennen und ausreichende Berücksichtigen eigener Bedürfnisse eines der Lernziele, um so der Tendenz der Selbstüberforderung entgegenzuwirken. Diese und andere Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie können von Patient:innen mit leichteren Depressionen durchaus in Form von digitalen Versorgungsangeboten angewandt werden [7].

Welche digitalen Angebote gibt es?

Die Mehrzahl digitaler Interventionen für depressiv Erkrankte beruht auf den Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie. Diese können in solche unterteilt werden, die mit oder ohne professionelle Begleitung angeboten werden. Letztere sind kritisch zu sehen, da in Metaanalysen gezeigt wurde, dass derartige unbegleitete Programme signifikant schlechter in ihrer antidepressiven Wirkung sind [16]. Wird professionell begleitet, so kann dies durch Hausärzt:innen, Fachärzt:innen, Psychotherapeut:innen oder andere spezialisierte Personengruppen wie Fachpflegekräfte oder geschulte Psycholog:innen erfolgen.

Nutzung durch die Hausärzt:in

Ein speziell auch für eine Begleitung durch Hausärzt:innen zugeschnittenes Programm ist das iFightDepression®-Tool [4], das in Deutschland von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe kostenfrei angeboten wird. Es wurde vom Institut für hausärztliche Fortbildung als "für Patient:innen geeignet" zertifiziert und es wird bereits jetzt zunehmend durch Hausärzt:innen depressiv Erkrankten angeboten. Hier ist eine Face-to-Face-Begleitung durch die Hausärzt:in vorgesehen. Andere Programme bieten eine Begleitung über E-Mail, Textnachrichten oder Telefonkontakte an. Möglich ist auch, die Nutzung des digitalen Angebotes im Sinne einer Blended Therapy mit der regulären Face-to-Face-Psychotherapie zu kombinieren.

Den Zugang zum iFightDepression®-Tool erhalten Patient:innen über ihre Hausärzt:in oder einen anderen Health Professional. Es ist auf Patient:innen mit leichteren Depressionen zugeschnitten, da derartige Programme bei schweren Depressionen zu Selbstüberforderungen und Frustrationen führen können. Um der Patient:in Zugang geben zu können, ist Voraussetzung, dass sich die jeweilige Hausärzt:in mit dem Tool vertraut macht (siehe auch Abb. 1). Dafür steht unter https://ifightdepression.com/webinar/ ein ebenfalls kostenfreies E-Learning-Tool zur Verfügung. Darin wird das Tool mit seinen Modulen vorgestellt, Basiswissen zur Depression vermittelt und am Ende mit einem Multiple-Choice-Test der Lernerfolg geprüft. Bei bestandener Prüfung werden zwei CME-Punkte vergeben und die Berechtigung erteilt, Patient:innen Zugang zu gewähren. Die Hausärzt:in hat dann die Möglichkeit, Patient:innen mit leichteren Depressionen ein Selbstmanagementangebot zu machen. Beim nächsten Termin kann sie im Sinne der professionellen Begleitung die Patient:in befragen, ob das Tool genutzt wurde, wie die Erfahrungen damit sind, ob es Fragen und Probleme gibt und ob die Patient:in den Eindruck hat, dass dieses Angebot brauchbar und hilfreich ist.

Das iFightDepression®-Tool ist nicht als Alternative zu einer regulären Behandlung mit Antidepressiva oder Psychotherapie gedacht, sondern als Ergänzung. Dennoch ist es zur Überbrückung der Wartezeit auf eine Face-to-Face-Psychotherapie oder als unterstützende Begleitung einer Behandlung mit Antidepressiva oder auch nur als eine Möglichkeit des Selbstmanagements bei leichten Depressionen anzusehen. Bisher haben bereits mehr als 1.000 Begleiter:innen das E-Learning-Tool durchlaufen und über 4.000 Patient:innen das iFightDepression®-Tool angeboten. Mit dem Inkrafttreten des neuen Digitale-Versorgung-Gesetzes ist zu erwarten, dass die Verschreibung derartiger E-Mental-Health-Programme und der Zeitaufwand für die Begleitung abrechenbar sein werden.

Evidenz für die antidepressive Wirksamkeit

Die Evidenz für die antidepressive Wirksamkeit der E-Mental-Health-Programme bei Depression fußt auf Metaanalysen, in denen diese digitalen Angebote mit einer Face-to-Face-Psychotherapie verglichen wurden. In einer derartigen Metaanalyse wurde keine Unterlegenheit des digitalen Angebotes, sondern sogar eine numerische Überlegenheit gegenüber der Face-to-Face-Psychotherapie gefunden [2].

Zu bedenken ist in diesem Kontext jedoch, dass eine Gleichwirksamkeit hinsichtlich des antidepressiven Effektes noch nicht bedeutet, dass diesen Behandlungsansätzen auch eine äquivalente klinische Bedeutung zukommt. Bei einer Face-to-Face-Psychotherapie ist bspw. die Chance größer, dass suizidale Krisen oder andere negative Entwicklungen erkannt werden, mit der Möglichkeit, gezielt zu intervenieren.

Zu bedenken ist zudem, dass auch Psychotherapie und E-Mental-Health-Tools nicht ohne Risiken sind. Bspw. können derartige digitale Angebote als Alternative zu einer Behandlung mit Antidepressiva oder Face-to-Face-Psychotherapie verwendet werden, ohne dass die Gleichwertigkeit bisher ausreichend dokumentiert und belegt ist. Auch kann der Einsatz bei schwerer depressiv Erkrankten oder gar Patient:innen mit psychotischer Depression zu einer Überforderung mit resultierender Verzweiflung und Selbstvorwürfen führen, oder das tägliche Selbstmonitoring zu einer übertriebenen Fokussierung auf das eigene Befinden mit einer möglichen Tendenz zur Somatisierung.

Fazit für die Praxis: Digitale Angebote sinnvoll nutzen
Digitale Versorgungsangebote werden Eingang in die Routineversorgung bei psychischen Erkrankungen und insbesondere auch der Depression finden. Hierbei ist insbesondere eine Stärkung der hausärztlichen Rolle bei der Verschreibung der Angebote ein erfreulicher zu erwartender Begleiteffekt. Eine routinemäßige Nutzung hausärztlich begleiteter digitaler Interventionen bei Patient:innen mit leichteren Depressionen im Sinne eines Selbstmanagements, z.B. durch Nutzung des iFightDepression®-Tools, ist ein sehr sinnvoller Weg, um die großen Engpässe in der psychotherapeutischen Versorgung zu reduzieren und psychotherapeutische Elemente in die hausärztliche Versorgung zu integrieren.



Autor:

Ulrich Hegerl

Senckenberg Distinguished Professorship an der Goethe-Universität Frankfurt, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Goethe-Universität Frankfurt
60528 Frankfurt a. M.

Interessenkonflikte: Prof. Ulrich Hegerl ist und war Mitglied eines Advisory Boards für Janssen Pharmaceutica, erhielt Reisekosten und Honorar als Referent sowie Forschungsförderung für eine Investigator-initiierte Studie von Medice sowie Reisekosten und Honorar als Referent von Servier.


Erschienen in: doctors|today, 2020; 1 (1) Seite 20-22