Der Südosten der Türkei wurde gerade erst von einem heftigen Erdbeben erschüttert, das zehntausende Menschenleben forderte. Obwohl diese Region prädestiniert ist für solche Katastrophen, haben sich Menschen schon vor langer Zeit dort angesiedelt und beeindruckende Kulturen begründet, wie archäologische Ausgrabungen aus den vergangenen Jahrzehnten zeigen. Unsere Reiseautorin zeigt sich begeistert.

Zähnefletschende wilde Tiere glotzen uns an. Riesige Spinnen und Krebse mit scharfen Zangen kriechen uns entgegen. Doch zum Glück sind die mordlustigen Gesellen im Archäologischen Museum von Şanlıurfa in der südöstlichen Türkei aus Stein. Obwohl sie etwa 12.000 Jahre alt sind, wirken sie recht lebendig. Diesem bedrohlich wirkenden Szenarium waren der deutsche Archäologe Klaus Schmidt und seine türkischen Kollegen ausgesetzt, als sie im Jahr 1995 in der hügeligen, kargen Kalksteingegend in der südöstlichen Türkei mit der Ausgrabung begannen. Ein Bauer hatte sie zu diesem Hügel geführt. Sie hatten ihn gefragt, ob es in der Gegend einen Hügel "Göbekli Tepe" (bauchiger Berg) gebe und dort Feuerstein herumläge. Tatsächlich war der Hügel mit von Menschenhand gefertigten Feuersteinsplittern übersät. Also durfte hier vorsichtig der Spaten angesetzt werden. Nach einem Jahr waren die ersten der großen, T-förmigen Pfeiler freigelegt worden – alle mit plastischen oder fein gearbeiteten Tierreliefs versehen.

Wir machen uns auf nach Göbekli Tepe. Von einem umlaufenden Steg schauen wir hinunter in das große, runde Ausgrabungsareal. Jeweils mehrere kreisförmig aufgestellte Steinpfeiler in T-Form sind gegeneinander durch Mauern abgegrenzt. Auch hier kriechen auf fast jedem dieser Pfeiler wilde Tiere umher, hüpfen aber auch elegante Gazellen. Einige der Steinkörper scheinen von feingliedrigen Händen umfasst zu werden. Wir staunen und versuchen zu verstehen. War es eine Art Tempel? Sollten diese Tiere durch ihre Darstellung geehrt oder vielleicht beschworen werden, den Menschen nichts Böses zu tun?

Nach oben gepflügte Geschichte

Es lässt uns keine Ruhe. Deshalb besuchen wir eine weitere Ausgrabung in der Nähe: Karahan Tepe. Hier treffen wir den türkischen Archäologen Prof. Necmi Karul von der Universität Istanbul, der hervorragend Deutsch spricht. In der kargen Sandsteinregion sind er und seine Kollegen auf eine ähnliche Anlage gestoßen, aufmerksam gemacht durch einen Bauern, der dort seine Felder bestellte und beim Pflügen immer wieder auf störende große Steine stieß. Bis ein "großes wildes Tier" ihn stutzig machte, an dem sein Pflug hängen geblieben war. Er meldete es den Behörden. Als Entschädigung für seine Felder, die jetzt Grabungsareal sind, ist er nun stolzer Chef der Arbeiter und betreibt im "Visitor Center" ein kleines Café.

In Begleitung von Professor Necmi Karul balancieren wir auf einem Sandsteinplateau vorsichtig durch die Grabung, was sonst streng verboten ist. Arbeiter bergen gerade einen großen vollplastischen Löwen. Das sei bisher einzigartig, sagt der Archäologe. Dann weist er uns auf eine ungewöhnliche, mit Sitzbänken versehene Grube hin, in der säulenartige Gebilde stehen. Sie sind eindeutig als riesige Phalloi zu erkennen. Dahinter steht auf einer Wand ein menschlicher Kopf mit Bart, von einer Schlange umschlungen. Diese und andere Besonderheiten weisen darauf hin, dass hier Mannbarkeitsrituale abgehalten worden sind – "ähnlich wie heute noch bei einigen Völkern in Afrika oder Neuguinea", meint Prof. Karul. Doch das müsse noch näher untersucht und aufgearbeitet werden.

Uralte Kultstätte der Jäger und Sammler

Zu dieser Zeit um 10.000 v. Chr. waren die Menschen, so die bisherige Meinung, noch Jäger und Sammler. Sie zogen dem zu erbeutenden Wild nach, ernährten sich von Früchten, Pilzen, Beeren, Nüssen und Samen. Hier scheinen erstmals umherziehende Stämme gemeinsam eine Art Kultstätte errichtet zu haben. Wozu sie diente? Niemand weiß es bisher, da es zu dieser Zeit noch keine Schrift gab. Wir sind begeistert, bei dem Freilegen einer so umwälzenden Epoche der Menschheitsgeschichte "Zeuge" sein zu können.

Wer Kultstätten dieser Art errichtet, wo Menschen mit primitiven Werkzeugen solche Kunstwerke schaffen, muss vor Ort sein, kann nicht umherziehen. Anzeichen für Wohngebäude gibt es bisher keine. Jedoch finden sich Schabsteine, auf denen Getreide zu Mehl gerieben wurde, um daraus über Feuer etwas zu backen oder zu kochen. Kürzlich konnte ein Stück Brot geborgen werden. Vielleicht lebten die Menschen zunächst in aus Bäumen, Ästen und Fellen gefertigten Behausungen? Später scheinen diese offenbar heiligen Stätten zugeschüttet worden zu sein, um sie – vor Feinden? – zu schützen. Etwa 20 dieser Hügel in der näheren Umgebung warten noch darauf, ausgegraben zu werden.

Zurück in Şanlıurfa bummeln wir durch den nach allen Gewürzen des Orients duftenden Bazar. Der Legende nach wurde Abraham in Şanlıurfa geboren, der Stammvater aller drei Buchreligionen (Christentum, Judentum, Islam). Neben einem Wasserlauf wird er in einer kleinen Moschee verehrt. Auf jeden Fall ist diese Stadt mit dem historischen Namen Edessa, die auch "Perle Südostanatoliens" genannt wird, einen Besuch wert. Weiter geht es in die bunte, lebensfrohe Stadt Mardin mit vielhundertjähriger Geschichte. Sie gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Mardin ist ein vom Tourismus noch nicht überlaufenes Juwel mit ethnischer und religiöser Vielfalt. Der Duft von frisch gebackenen Süßigkeiten in allen Variationen weht uns überall entgegen. Anderswo stapeln sich in kleinen Läden handgemachte Seifen aus diversen Ölen und Duftstoffen. Im Museum, das sich in einem prächtigen, ehemaligen Palast befindet, sprechen Exponate von einer sehr frühen Kultur.

Der Beginn der Sesshaftigkeit

Die Ausgrabungen bei Göbekli Tepe und Karahan Tepe scheinen der Beweis dafür zu sein, dass die Entwicklung der Sesshaftigkeit der Menschen in dieser Region begann. Dafür spricht auch eine Studie des Max-Planck-Instituts in Leipzig, dass die rätselhaften Minoer auf Kreta vor etwa 9.000 Jahren aus Anatolien auf die Insel in der Ägäis eingewandert sind. Aus dieser Zeit, etwa 7.000 v.Chr,. lassen sich bei Knossos erste Siedlungsspuren der späteren minoischen Hochkultur nachweisen. Also aus genau der Region, wo sich nach den Ausgrabungsergebnissen die Lebensweise der Menschheit von umherziehenden Jägern und Sammlern zu ersten Anfängen der Sesshaftigkeit entwickelt hat. Es gleicht einer detektivischen Spürarbeit, Mosaiksteine dieser Art zusammenzusetzen.

Reise-Informationen: Göbekli Tepe
  • Turkish Airlines fliegt ab mehreren deutschen Flughäfen via Istanbul nach Şanlıurfa und auch nach Mardin. Göbekli Tepe gehört seit 2018 zum Weltkulturerbe.
  • Literatur: Klaus Schmidt: "Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum am Göbekli Tepe." C. H. Beck (im Internet bestellen)



Autorin
Dr. phil. Renate V. Scheiper

Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (4) Seite 62-64