Es gibt nur wenige Orte auf dieser Welt, von denen nicht bekannt ist, wer sie einmal erschaffen hat. Die sogenannte "Shell Grotto" in der englischen Kleinstadt Margate ist so ein Ort. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts durch einen Zufall entdeckt, ist das Rätsel bis heute ungelöst geblieben, wer hinter dem Bau der wundersamen Höhle mit ihren reichen Muschelverzierungen steckt – und wozu sie diente. Unser Autor und Arzt Martin Glauert hat sich auf Spurensuche gemacht.

Eigentlich wollten sie nur den Garten des Belle Vue Cottage umgraben, doch dann war den beiden Arbeitern im Mai 1835 eine Steinplatte im Weg. Als sie sie anhoben, tat sich dahinter ein großes Loch auf. Die beiden krochen durch einen engen Gang und fanden sich plötzlich in einer Art Zauberhöhle wieder, deren Wände im Kerzenlicht vor lauter Schmuck funkelten. Sie ahnten nicht, dass sie soeben eines der geheimnisvollsten archäologischen Rätsel Englands entdeckt hatten.

Heute muss man zum Glück nicht mehr kriechen, um in die Höhle hineinzukommen. Brav zahlt man seinen Eintritt in dem kleinen Souvenirladen in einer Seitengasse des Küstenortes Margate. Über grobe Stufen steigt man hinab in einen engen, gewundenen Gang, der aus dem Kreidefelsen herausgehauen ist. Nur wenige kleine Lampen erhellen den Weg. Und doch schimmert und leuchtet es von überall her. Erst als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, sieht man, dass die Wände und die Decke komplett ausgetafelt sind mit unzähligen Muscheln unterschiedlicher Größe und Farbe. Beim genauen Hinschauen erkennt man Miesmuscheln, Jakobsmuscheln, Herzmuscheln und Austern, angeordnet in raffinierten Mustern. Um ein einziges dieser delikaten Mosaike zu komponieren, würde selbst ein passionierter Strandläufer wahrscheinlich die Abende eines ganzen Jahres benötigen. Immer wieder meint man, Blumen und Pflanzen zu erkennen, meist aber sind es geometrische Figuren, Kreise und Sterne. Die verschiedenen Muschelsorten schimmern in allen Farben, manchmal ist der Gang in ein unwirkliches orientalisches Grün getaucht, dann wieder leuchten einige Figuren golden wie in Aladins Schatzhöhle.

Märchenhafte Stimmung

Allmählich wird der Besucher durch diese märchenhafte Umgebung in eine traumartige Stimmung versetzt. Und erschrickt umso mehr, als plötzlich der eigene Begleiter, der gerade noch hinten ging, unerwartet vor ihm steht, aufgetaucht aus dem Nichts. Des Rätsels Lösung heißt Rotunda, hier gabelt sich der Weg und führt im Kreis um eine große Säule herum. Wo beide Wege wieder zusammentreffen, befindet sich in der Decke ein kuppelartiger Kamin, in dessen Öffnung der Himmel zu sehen ist, der "Dom". Findige Beobachter haben herausgefunden, dass durch diese Öffnung das Himmelslicht wie bei einer Lochkamera einen Lichtkreis auf die Wand wirft. Dieser Kreis ändert je nach Jahreszeit seinen Einfallswinkel. Und jetzt wird es spannend: Exakt zur Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühling fällt der Lichtkreis auf das obere Ende einer vertikalen Musterlinie an der Wand. Im Laufe der Monate wandert er immer weiter nach unten, wird dabei größer und erreicht zum Zeitpunkt der herbstlichen Tag-und-Nacht-Gleiche Ende September das untere Ende des Muschelmusters. Danach wandert er wieder nach oben. Handelt es sich hier etwa um einen prähistorischen Kalender, ein unterirdisches Stonehenge?

Wer sind die Erbauer?

Und schon sind wir mittendrin in einem verwirrenden Rätselspiel, das mehr Fragen als Antworten bereithält. Wer hat diese seltsame Höhle eigentlich gebaut, wann, und vor allem: warum? Die Spekulationen darüber gehen weit auseinander und schießen manchmal auch mächtig ins Kraut. Einheimische erinnern sich an die Erzählungen ihrer Großeltern, dass Anfang des 19. Jahrhunderts die beiden Brüder George und Austen Bowles, ein Bauer und ein Maurer, die Höhle gebaut hätten, bevor sie 1812 nach Amerika auswanderten. Wir staunen. Wie schaffen es zwei Menschen, nach Feierabend dieses 21 Meter lange Gangsystem auszugraben und 190 Quadratmeter Wandfläche bei Kerzenschein mit fein gearbeiteten Mustern zu dekorieren? Knapp fünf Millionen Muscheln müssten sie dafür am Strand sammeln, herbeischaffen und kriechend durch einen engen Gang transportieren – und all das unbemerkt von den Augen einer neugierigen Nachbarschaft! "Niemals!", sagt unser müder Rücken. Handelt es sich also vielleicht eher um ein folly, die exzentrische Idee eines spleenigen Adligen mit untergründigen Neigungen? Den Briten ist schließlich alles zuzutrauen. Andererseits: Wer so viel Mühe und Geld investiert, der will sich dann auch im Neid der Seinesgleichen sonnen. Warum also die Tür verschließen, den Schatz verbuddeln und das Werk geheim halten, statt damit zu prah-len? Und dann ist da noch etwas: Wie kommen eigentlich die ausländischen Muscheln hierher, die Königsmuschel aus der Karibik und die Muschelschalen aus dem Pazifik?

Rätsel über Rätsel

Wir müssen tiefer graben und stoßen auf eine Erkenntnis: Wer suchet, der findet, was er finden will. So erkennen Informatiker in der Anordnung der Muscheln mathematische Gesetzmäßigkeiten, die der griechische Philosoph Pythagoras schon vor zwei Jahrtausenden postuliert hat. Psychoanalytiker und esoterische Anhänger des New Age erleben den Gang durch die Grotte als eine symbolische Reise des menschlichen Lebenslaufs. Der enge Eingang steht für den Geburtskanal, von dort gelangt man in die Rotunda als Bereich des Lebens und der Fruchtbarkeit. Tatsächlich finden sich dort zahlreiche phallische Darstellungen und Figuren, die man mit etwas Phantasie als Gebärmutter und Nabelschnur interpretieren kann. Die folgende gewundene Schlangenpassage steht für den mühevollen Tod, sie endet in einer viereckigen Kammer, in der ein kleiner Altar steht, umgeben von dekorierten Sonnen und Sternen, Ausdruck der Wiedergeburt und des ewigen Lebens.

Physiker haben der Höhle ein weiteres Geheimnis entlockt. Einige Muschelbündel sind mit ihrer Unterseite nach innen in die Wand gedrückt. Dadurch entsteht ein spezieller akustischer Effekt. Ein Flüstern gegen die Wand im runden Dom pflanzt sich den ganzen Weg hinab durch die Schlangenpassage und kann am Eingang der Schlusskammer deutlich gehört werden. Möglicherweise wurden hier Orakelsprüche geäußert. Die Stimme pflanzte sich unsichtbar fort bis zum Hörer und schien aus dem göttlichen Nichts zu kommen.

Wurde hier in die Zukunft geblickt?

Wer aber hörte sie denn? Die abstruseste Erklärung ist zugleich wissenschaftlich am besten belegt. Danach haben hier die Phönizier 500 Jahre vor Christi Geburt eine Orakelhöhle angelegt, in der sie die Zukunft und den Willen der Götter erfragten. Das Volk aus dem Gebiet des heutigen Libanon trieb lebhaften Handel und exportierte schon damals das Zinn aus Cornwall zum europäischen Kontinent. Sprachforscher behaupten sogar, das Wort "Britannien" stamme vom phönizischen Wort "Bratanac" ab, was so viel heißt wie "Land des Zinns". Zudem waren die phönizischen Seefahrer berühmt für ihre Muschelindustrie, besonders für die violette Farbe, die sie aus der Purpurschnecke herstellten. Auch die Ikonographie unterstützt diese Theorie. Die eigenartigen Motive, darunter dreizackige Sterne, komplizierte Rautenmuster und skurrile Pflanzen mit Augen in einem verlängerten Kopf, findet man nirgends in Europa, wohl aber auf Säulen und Schmuckstücken im arabischen Raum. Auf der ganzen Welt sind kaum noch Spuren dieser vergangenen Hochkultur zu finden, nur Staub und Scherben blieben übrig. Liegt ausgerechnet in dieser Höhle im lieblichen Kent ihr geheimnisvolles Erbe verborgen?

Reise-Informationen: The Shell Grotto

Grotto Hill, Margate CT9 2BU, Kent, England
Tel. +44-(0)1843 220008, info@shellgrotto.co.uk

Öffnungszeiten: Im Winter Freitag, Samstag und Sonntag 11 bis 16 Uhr. Ab dem 30. März täglich geöffnet 10 bis 17 Uhr.

Eintritt: Erwachsene 4 Pfund, ermäßigt 3,50 Pfund, Kinder 1,50 Pfund, darunter freier Eintritt.

Nachdenklich und ein wenig schwindelig von all den unglaublichen Geschichten schlendern wir zurück zum Eingang, vorbei an den betörend schönen Muschelmustern. Wer mag die einst geschaffen haben? Was ist Wahrheit, was ist Traum? Die Grotte bewahrt ihr Geheimnis.



Autor:
Martin Glauert

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (2) Seite 66-68