Im Norden von hohen Felswänden umgeben und am Ufer von hübsch herausgeputzten Örtchen gesäumt bietet der Lago Maggiore einen reizvollen Anblick. Übersetzt bedeutet Lago Maggiore „Größter See“. Tatsächlich ist er nach dem Gardasee aber nur der zweitgrößte unter den Seen in Norditalien. In Sachen landschaftliche Vielfalt und mediterraner Charme kann der Lago Maggiore aber durchaus mit dem Gardasee mithalten. Vor hundert Jahren war ein idyllischer Ort am Lago Maggiore der Geheimtipp für Aussteiger:innen aus ganz Europa, hier kamen sie zusammen auf der Suche nach einer neuen Welt. Unser Autor und Arzt Martin Glauert hat sich auf eine Spurensuche begeben.

Die armen Tessiner Bauern trauten ihren Augen nicht. Dort oben auf dem Hügel tanzten am helllichten Tag nackte Menschen im Kreis, Weibsleut‘ und Männer durcheinander, und hoben singend ihre Arme zur Sonne empor. Musik klang aus einer Hütte heraus, Gedichte wurden laut gelesen, einen Langhaarigen hatte man sogar auf dem Kopf stehen sehen. Was die verunsicherten Einheimischen da beobachteten, war eines der spannendsten und skurrilsten Experimente des vergangenen Jahrhunderts – der Monte Verità.

Rückkehr zur Natur

"Aus grauer Städte Mauern", wie es in einem Wanderlied der damaligen Zeit hieß, zog es Jugendliche und Idealisten um 1900 hinaus in die Natur. Der verkrusteten kaiserlichen Gesellschaft mit ihren verlogenen Moralvorstellungen wollte man den Rücken kehren, den düsteren Mietskasernen der Arbeiterviertel entkommen, dem Profitstreben der Gründerzeit einen radikalen, selbstbestimmten Lebensentwurf entgegensetzen. Die einen sammelten sich im Wandervogel, andere fanden Erfüllung im Nudismus oder im Fleischverzicht, einige suchten Erlösung in Esoterik oder der Weltrevolution. Das gemeinsame Credo war die Rückkehr zur Natur, zu den Ursprüngen eines unverdorbenen Lebens. Zum Inbegriff und Mekka der "Lebensreformbewegung" entwickelte sich der Monte Verità im Süden der Schweiz.

Ida Hofmann und Henri Oedenkoven waren sich bei einer "atmosphärischen Kur" begegnet und fassten den Entschluss, selbst ein Sanatorium zu gründen, das zugleich Lebensschule für eine neue Gesellschaft sein sollte. Fündig wurden sie 1901 auf einem Berg oberhalb von Ascona, weitab der Welt, mit herrlicher Aussicht auf den Lago Maggiore. Schon bald sprach sich das Experiment herum und zog Aussteiger:innen jeglicher Couleur an.

Hermann Hesse vermisste seine Matratze

Die Lebensreformbewegung war ein buntes Kaleidoskop unterschiedlichster Strömungen. Die Nudisten etwa glaubten an die heilende Kraft von Licht und Luft. Auf alten Postkarten sieht man nackte bärtige Männer, die einen Acker umgraben, Gemüsegärten anlegen und Obstbäume pflanzen. Der Bau einer eigenen "Licht-Luft-Hütte" galt als handwerklicher Einsatz mit heilender Wirkung. Einer dieser einfachen Holzbauten ist noch erhalten. Durchs Fenster erkennt man die spartanische Einrichtung: Ein Holzboden ohne Teppich, ein Eisenbett, ein Stuhl aus Korbgeflecht, ein Waschtisch, nur selten gab es zusätzlich einen Schreibtisch. Hermann Hesse verbrachte 1907 einen Monat in der Aussteigerkolonie, um durch bewusst naturnahen Lebenswandel seine psychische Krise zu überwinden. Erfrischend selbstironisch beschreibt er, wie er anfangs begeistert nackt in der Sonne arbeitet, Laub für sein Schlaflager sammelt und sich von Wasser, Brot und Nüssen ernährt. Doch bald friert er ohne Decke im Nachtwind, der harte Boden stört den Schlaf, er träumt von der heimischen Matratze, einem Glas Wein und einem heißen Bad. Nach einem Monat erklärt er die Kur für beendet, die Erfahrung aber hat ihn verändert und bereichert, was sich auch in seinen späteren Büchern niederschlägt.

Frühe Veganer:innen proben die freie Liebe

Einige Überzeugungen der Kolonist:innen wirken verblüffend modern. Eine vegetarische oder vegane Ernährung galt ihnen als selbstverständlich. Die Rücksicht auf die Natur und der schonende Ackerbau ohne Dünger und Maschinen würde heute strengsten Etiketten ökologischer Landwirtschaft genügen. Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau war Grundkonsens, angereichert und in der Praxis auf die Probe gestellt durch das Prinzip der freien Liebe. Weder Gehorsam, Treue noch Eifersucht sollten das erotische Glück der Menschheit schmälern.

Das roch nach Anarchie. Und tatsächlich wurde der Monte Verità Anziehungspunkt für so bekannte Anarchisten wie Kropotkin und Bakunin, die hier im herrschaftsfreien Raum eine urchristlich-kommunistische Gesellschaft zu finden hofften. So auch Erich Mühsam. Aus der Schwabinger Szene war der bärtige, langhaarige junge Mann mit den dunklen Augen auf den Berg gekommen, hier verlebte er genüssliche Monate persönlicher Anarchie, bevor er desillusioniert das Experiment für sich abhakte. Mit diesen Individualist:innen, die ihr Glück in Licht, Luft und Liebe suchten, ohne jeden Sinn für genossenschaftliche Organisation, war einfach keine Weltrevolution zu machen.

Die Naturheilkunde erblüht

Auch Ärzt:innen gehörten zur Belegschaft des Monte Verità. Die Naturheilkunde war soeben ihren Kinderschuhen entwachsen und entwickelte sich in diesem idealen Experimentierfeld zu ungeahnter Blüte. Der anarchistische Arzt Otto Gross brachte die neuen und faszinierenden Ideen der Psychoanalyse auf den Berg herauf. In seinen Augen lagen die Ursachen für seelische Erkrankungen in den sozialen und sexuellen Zwängen der verlogenen Gesellschaftsmoral. Deren Überwindung durch Ausübung der freien Liebe widmete er sich ausgiebig, zeugte mehrere Kinder mit verschiedenen Frauen und warb für die orgiastische Erfahrung durch Sex und Drogen zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft. Seine eigene Ankunft im ausgemalten Paradies gelang allerdings nicht. Er wurde international per Haftbefehl gesucht, für geisteskrank befunden und in eine Anstalt eingewiesen. Verlassen und vergessen starb er in einem Krankenhaus in Berlin.

Das Ende eines Traums

Nach 25 aufregenden Jahren war der Traum dann aus. 1926 wurde der Monte Verità an einen Banker verkauft. Seither befinden sich hier ein Museum über die Aussteigerkolonie und ein modernes Seminarhaus und Hotel (https://www.monteverita.org/de). Das Gelände ist frei zugänglich. An den abenteuerlichen Geist der verrückten Jahre erinnern nur noch eine Holzhütte, eine Teeplantage und eine morsche Duschanlage unter freiem Himmel. Geblieben aber ist der herrliche Blick auf den Lago Maggiore und die Sehnsucht nach einem freien Leben.


Martin Glauert


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (8) Seite 68-70