Jedes Jahr erhalten europäische Städte den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Seit 1985 hat die Initiative, deren Ziel eine Förderung des Beitrags von Kultur zur Entwicklung von Städten ist, bereits mehr als 50 Städte ausgezeichnet. Timișoara oder Temeswar im Westen Rumäniens ist in diesem Jahr eine der drei europäischen Kulturhauptstädte. Bislang war Timișoara kein ausgesprochenes Ziel für Tourist:innen. Tatsächlich hat die Stadt aber viel zu bieten, meint unser Reiseautor.

Während des Kulturhauptstadtjahrs steht die multikulturelle Tradition der Stadt, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zur Habsburger Monarchie gehörte, im Mittelpunkt. Mehrere große Events bilden den Rahmen für ein Jahr mit Hunderten von kulturellen Veranstaltungen. Das Programm steht unter dem Motto "Shine your light – light up your city" und verspricht Vielfalt pur – von Tanzvorführungen in Hinterhöfen über Sound-Installationen in Synagogen bis hin zu Theatervorstellungen in Kirchen und Open-Air-Konzerten an zentralen Plätzen und in den Parks am Ufer des Bega-Kanals. Timișoara will sich 2023 als weltoffene Stadt präsentieren, in der unterschiedlichste Menschen und Kulturen friedlich zusammenleben. In der drittgrößten Stadt Rumäniens gibt es nicht nur ein Staatstheater, sondern gleich drei: ein rumänisches, ein ungarisches und ein deutsches.

Die Stadt zu Fuß erkunden

In Timișoara finden sich mehr als zehntausend denkmalgeschützte Gebäude, vorwiegend aus der Zeit des Barock sowie der Sezession bzw. des Jugendstils, drei große Plätze, die zum Besichtigen, Flanieren und Dinieren einladen, großzügige Parkanlagen und moderne Shoppingmalls, Revolutions-, Freilicht- und Kunstmuseen, alternative Kultur- und Theaterprojekte und Reste einer alten Festungsanlage.

Neben der Altstadt, dem Stadtteil Cetate, mit Dom, orthodoxer Kirche, Opernhaus, Hunyadi-Schloss und Dikasterialpalast lohnt sich auch eine Besichtigung etwas außerhalb gelegener Stadtteile, etwa der Fabrikstadt, der Josefstadt oder der Elisabethstadt. Für das Kulturhauptstadtjahr hat die Vereinigung der Tourguides der Stadt mehrere thematisch orientierte Stadtrundgänge ausgearbeitet. Neben der klassischen Tour durch die Innenstadt und einem Spaziergang durch die Fabrikstadt sind auch Stadtführungen zur Street-Art und zur Sezessionsarchitektur im Angebot.

Ludovic Satmari, der diese Touren konzipierte, hat während meines Besuchs in Timișoara Zeit für mich – und bietet mit seinen geführten Stadtspaziergängen einen idealen Einstieg in eine faszinierende Stadt. Sein Rundgang durch die Altstadt beginnt am Schloss Hunyadi, das von den Ungarn Anfang des 14. Jahrhunderts erbaut wurde. Später geriet die Region unter osmanische Kontrolle. Timișoara und das Banat waren über 150 Jahre lang eine türkische Provinz. Als Prinz Eugen die Stadt 1716 für die Österreicher zurückeroberte, wurde sie komplett neu aufgebaut. Es entstand eine neue, quadratisch angelegte Stadt, doch es fehlte an Bewohnern. Also beschlossen die Österreicher, katholische Siedler hierherzubringen. Viele davon aus Süd- und Südwestdeutschland. Die meisten reisten per Boot über die Donau an. Von 1718 bis 1785 gab es drei große Kolonisierungswellen – sodass sich die Bevölkerungsstruktur der Region massiv veränderte. "Vor dem Ersten Weltkrieg hatten wir hier etwa 40 % Deutsche und 40 % Rumänen, dazu kamen Serben, Ungarn, Juden, Roma und andere Gruppen", erläutert Ludovic Setmari. Beim Anblick der prachtvollen Häuser und Stadtpaläste in der Cetate, insbesondere am Domplatz, am Freiheitsplatz und am Siegesplatz, wird fassbar, warum Timișoara auch Klein-Wien genannt wird. Doch wenn man vom Siegesplatz entweder den Corso oder die gegenüberliegende Straße, den Surrogat, entlangläuft, wird einem schnell wieder bewusst, dass wir uns nicht in Wien, sondern in Rumänien befinden: Am Ende der beiden Boulevards ragen die Türme einer orthodoxen Kirche, der Kathe-
drale der Heiligen drei Hierarchen, gen Himmel.

Nicht herausgeputzt, aber dennoch sehenswert

Während die Innenstadt weitgehend autofrei ist und viele Häuser renoviert, gestrichen und herausgeputzt sind, wirkt die Fabrikstadt derzeit noch wie eine hässliche Schwester. Sicher, auch hier gibt es prachtvolle Jugendstilgebäude, doch ihr Zustand ist oft stark verbesserungswürdig. Ludovic Setmari beginnt seinen Rundgang durch die Fabrikstadt am Trajanplatz. Der rechtwinklige Platz wurde von österreichischen Militäringenieuren im Jahr 1740 nach dem Vorbild des Piata Unirii, des Einheits- oder Domplatzes im Stadtzentrum, entworfen. Hier beeindrucken der Merkurpalast, der kurz nach dem Jahr 1900 im Stil der Sezession erbaut wurde, das Mirbach-Haus aus dem Jahr 1904 und die orthodoxe Sankt Georgs-Kirche. Auf dem Platz steht zudem eine übermannshohe steinerne Glocke, die als Freiheitsglocke an die Revolution im Jahr 1989 erinnert. Diese begann in Rumänien nicht in Bukarest, sondern hier in Timișoara.

Über die Strada Daclior, die auf einer Brücke über die Bega führt, schlendern wir zur Piata Badea Cartan. Dort stoßen wir auf der rechten Straßenseite auf einen der größten Märkte der Stadt. Hier werden Paprika und Sauerkraut verkauft, aber auch Tomaten, Gurken, Weintrauben, Wassermelonen und Auberginen. Wir probieren einen Lángos, ein ungarisches Fladenbrot, in Fett herausgebacken und gefüllt mit Käse und Dill.

In Timișoara verbinden 14 Brücken das Nordufer der Bega mit dem Südufer. Lohnend ist ein Besuch im Kinderpark, dem Parcul Copiilor, zwischen der Michelangelo-Brücke und der Decebal-Brücke, dort finden sich Karussells, Spielplätze und zahlreiche kindgerechte Themenwelten. An Ständen werden Popcorn, Zuckerwatte, frisch gepresster Orangensaft, Eis und Kaffee verkauft.Für Blumenfreunde lohnt sich ein Spaziergang zum "Parcul Rozelor", dem Rosengarten bzw. Rosenpark. Dieser wurde, wie die gesamten Parks an der Bega, nach der Schleifung der Festungsanlagen angelegt. Sein jetziges Aussehen, geprägt durch Rundbeete, Rosenspaliere und Promenadenwege, erhielt er im Jahr 2011. Eine schon länger bestehende Open-Air-Bühne im Park bietet eine Traumkulisse für das jährliche Opern- und Operettenfestival (meist in der zweiten Augusthälfte und Anfang September) sowie das Folklorefestival Inimilor (meist im Juli) – sowie für weitere Aktivitäten während des Kulturhauptstadtjahrs.

Reise-Informationen: Rumänien
  • Anreise: Direktflüge bieten Lufthansa von München und Wizz Air ab Dortmund, Hahn, Karlsruhe und Memmingen. Mit dem Auto reist man über Österreich und Ungarn an – ab Wien benötigt man für die restlichen 500 Kilometer etwa fünfeinhalb bis sechs Stunden.
  • Geführte Stadtrundgänge: Guides vermittelt die Tourist-Info (E-Mail: infoturism@primariatm.ro), sie können aber auch online gebucht werden: www.timisoaracitytours.com, www.holdas.at bzw. simion@holdas.at. Deutschsprachige Führungen bieten Beny Neurohr (www.temeswar.ro) und Liviu Samoila (www.banatguide.com). Die Kosten für eine zweistündige Tour liegen meist bei etwa 50 bis 60 €.
  • Übernachten: Eines der besten Häuser in der Stadt ist das NH Timisoara, Strada Pestalozzi 1/a (www.nh-hotels.de).
  • Infos zum Kulturhauptstadtjahr und zu den Veranstaltungen gibt es unter: www.centruldeproiecte.ro. Über die Stadt Timisoara informiert die Website www.romaniatourism.com/timisoara.html, über ihr Architekturerbe die Website www.heritageoftimisoara.ro/en. Mehr zum Reiseland Rumänien findet sich auf www.rumaenien-tourismus.de.



Autor
Rainer Heubeck

Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (3) Seite 64-66