Eine wichtige Maßnahme, um Übergewicht bei Kindern abzubauen, ist regelmäßige körperliche Bewegung. Das Dilemma dabei: Aufgrund des Übergewichts ist die sportliche Leistungsfähigkeit oft eingeschränkt. Allerdings trifft dies nicht auf alle motorischen Beanspruchungsformen zu. So ist die Kraftentwicklung z. B. nicht gestört. Bei der Motivation zum Sport ist eine altersgerechte spielerische Herangehensweise wichtig.

In Deutschland sind gemäß DEGS-Studie des RobertKoch-Institutes 67 % der Männer und 53 % der Frauen übergewichtig mit einem BMI > 25 kg/m3, adipös mit einem BMI > 30 kg/m3 23,3 % der Männer und 23,9 % der Frauen zwischen 18 und 91 Jahre. In den vergangenen drei Jahrzehnten kam es ungefähr zu einer Verdreifachung der Anzahl übergewichtiger Kinder und Jugendlicher weltweit, d.h. aktuell sind ca. 340 Millionen übergewichtig. In den USA werden 12 Millionen Kinder und Jugendliche als übergewichtig eingestuft. Eine Langzeituntersuchung des RobertKoch-Institutes zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) konnte feststellen, dass ca. 15 % der Kinder und Teenager zwischen 3 und 17 Jahren zu dick sind (1,9 Millionen), 6 % sogar fettleibig (2018). Als einer der wesentlichen Faktoren zur Reduktion des Körpergewichtes wird körperliche Aktivität bzw. Sport gesehen. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang biomechanische Voraussetzungen bzw. Anpassungsvorgänge, die mit Übergewicht einhergehen. Sie haben Einfluss auf Bewegungsabläufe bei sportlichen Aktivitäten und auf die Belastbarkeit des Bewegungsapparates. Zur Bewertung sportlicher Leistungsfähigkeit werden in der Sportwissenschaft die motorischen Beanspruchungsformen Kraft, Koordination, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Ausdauer herangezogen. Auch diese sind bei adipösen Personen verändert, können aber durch Aktivität modifiziert werden.

Biomechanik

Zahlreiche Studien konnten belegen, dass Kinder mit Übergewicht im Bereich der unteren Extremität eher zur Entwicklung von X-Beinen (Valgusdeviation) neigen. Ca. 70 % der übergewichtigen Kinder haben eine Valgusfehlstellung [4] (Abb. 1). Je nach deren Ausprägung sind damit Überlastungen der lateralen Gelenkstrukturen der Kniegelenke verbunden. Personen mit Valgusfehlstellungen über 5 Grad haben ein erhöhtes Arthroserisiko im Bereich der Kniegelenke. Der Intermalleolenabstand bei geschlossenen Kniegelenken im Stand kann zur Einschätzung des Ausmaßes der Fehlstellung genutzt werden. Kinder mit Übergewicht zeigen darüberhinaus ein verändertes Gangmuster mit größerer Schrittweite und einer reduzierten Muskelfunktion. Sportrelevante übergewichtsbedingte Veränderungen im Bereich der oberen Extremität werden normalerweise nicht beobachtet. Im Bereich der Wirbelsäule lassen sich gehäuft Hyperlordosen an der Lendenwirbelsäule feststellen, die wie die Achsabweichungen an den Beinen einen Einfluss auf die sportliche Belastbarkeit haben können und in der Beratung berücksichtigt werden müssen.

Kraft

3-D-Bewegungsanalysen konnten zeigen, dass bei übergewichtigen Kindern mit Valgusfehlstellung der Beine eine verminderte Hüftabduktion vorhanden ist, die durch spezifische Trainingsmaßnahmen reduziert werden kann. Grundsätzlich muss Körpergewicht keinen Einfluss auf die Kraftentwicklung bei sportlichen Aktivitäten haben. Gerade bei Kampf- und Kraftsportarten oder bei den leichtathletischen Wurfdisziplinen ist mit höherem Körpergewicht eine größere Kraftentwicklung möglich. Auch bei Kindern und Jugendlichen werden Höchstleistungen in den gewichtsabhängigen Sportarten oder in den Wurfdisziplinen von Athlet:innen erreicht, die einen BMI deutlich über dem oberen Normbereich aufweisen. In welchem Verhältnis Muskelkraft und Körpermasse optimal für die sportliche Leistung sind, ist schwer zu bewerten und von sportartspezifischen Faktoren abhängig.

Koordination

Übergewichtige weisen gegenüber Normgewichtigen teilweise erhebliche Koordinationsdefizite auf. Häufig wird als einfach durchzuführendes Messinstrument der Einbeinstandtest (mit offenen oder geschlossenen Augen) herangezogen. Inwieweit aufgrund koordinativer Defizite bei übergewichtigen Kindern tatsächlich eine erhöhte Verletzungsgefahr resultiert, wird wissenschaftlich widersprüchlich diskutiert. Es scheint aber ein Zusammenhang zu bestehen [1]. Zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit existieren zahlreiche Übungsprotokolle, die zuverlässig die koordinativen Defizite reduzieren können. Aus Studien mit Sportlerkollektiven ist bekannt, dass Übungsprogramme, zwei- bis
dreimal wöchentlich über ca. 15 Minuten durchgeführt, das Verletzungsrisiko um bis zu 50 % reduzieren können.

Beweglichkeit

Der Bewegungsumfang der Gelenke der unteren Extremität (vor allem Hüft- und Kniegelenke) ist bei übergewichtigen Kindern im Vergleich zu normgewichtigen reduziert. Auch der Finger-Boden-Abstand als einfach festzustellendes Maß für die Einschränkung der Beweglichkeit variiert zwischen Norm- und Übergewichtigen. Unabhängig hiervon findet sich bei Übergewichtigen kein Hinweis auf das gehäufte Auftreten einer individuell vorgegebenen Laxität der Gelenke. Aus Untersuchungen an Erwachsenenkollektiven ist bekannt, dass eine eingeschränkte Beweglichkeit großer Gelenke mit einem erhöhten Arthroserisiko einhergeht.

Schnelligkeit und Ausdauer

Es ist naheliegend und in Leistungsstatistiken
offensichtlich festzustellen, dass Übergewichtige üblicherweise schlechtere Ausdauerleistungen absolvieren und auch bei explosiven Manövern im Vergleich zu normgewichtigen schlechtere Leistungen aufweisen. Allenfalls bei Kindern, die kraftbetonte Sportarten ausüben, können bei kurzzeitigen Sprintbelastungen vergleichbare, teilweise sogar bessere Leistungen abgerufen werden.

Risiken sportlicher Aktivität bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen

Grundsätzlich ist Bewegung und sportliche Aktivität neben oder im besten Fall kombiniert mit einer Ernährungsberatung die erfolgreichste Maßnahme, um bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen eine Gewichtsreduktion bzw. im Wachstum eher eine Normalisierung des erhöhten BMI herbeizuführen. Nur bei intensiven Belastungen ist mit einer Gefährdung der Gelenke der unteren Extremität zu rechnen. Untersuchungen an Erwachsenen konnten zeigen, dass bei intensiven Laufbelastungen und regelrechten anatomischen und biomechanischen Verhältnissen mit einem erhöhten Arthroserisiko erst ab einer Wochenlaufbelastung von 60 bis 80 km pro Woche zu rechnen ist. Derartige Belastungen werden von Übergewichtigen normalerweise nicht geleistet. Die zu erwartenden degenerativen Veränderungen betreffen die Kniegelenke mehr als die Hüftgelenke. Wie oben aufgeführt, kann eine Achsfehlstellung wie z. B. eine ausgeprägte Valgusfehlstellung früher zu einer Überlastung der lateralen Gelenkabschnitte des Kniegelenkes führen. Das Auftreten einer Epiphysiolysis capitis femoris (akutes Abrutschen des Hüftkopfes) im Bereich der Hüftgelenke wird eher bei adipösen Jugendlichen beobachtet. Hormonelle Veränderungen, die mit einer Adipositas einhergehen, scheinen mit dafür verantwortlich zu sein. Übergewichtige Kinder haben bis zum Alter von 11 Jahren ein erhöhtes Verletzungsrisiko im Bereich der unteren Extremität, nicht im Bereich der oberen Extremität [3]. Im Vordergrund stehen Bandverletzungen im Bereich der Knie- und Sprunggelenke. Auch Frakturen im Bereich des Unterschenkels
treten häufiger auf. Je älter die Kinder werden, desto eher gleicht sich die Verletzungshäufigkeit der normgewichtiger an.

Empfehlungen zur sportlichen Aktivität übergewichtiger Kinder

Die Empfehlung, übergewichtige Kinder und Jugendliche zum Sport zu bewegen, sollte im Interesse aller Fachdisziplinen stehen, muss aber immer im Einzelfall erfolgen. Sie orientiert sich im Wesentlichen an folgenden Parametern: Alter, Sportvorerfahrung, Ausmaß der Einschränkungen der motorischen Fähigkeiten (Kraft, Koordination, Beweglichkeit, Schnelligkeit und Ausdauer). Ein wesentlicher Faktor in der Umsetzung ist hierbei die Vermittlung von Spaß an der Bewegung. Eine altersgerechte spielerische Herangehensweise ist hilfreich. Dass Sport auch einen erheblichen Einfluss auf die seelische und soziale Komponente hat und somit auch unterstützt werden sollte, ist einleuchtend und muss mitberücksichtigt werden. Bei den meisten Aktivitäten werden verschiedene motorische Beanspruchungsformen gleichzeitig trainiert. Isolierte Trainingsmodelle mit Krafttraining oder Ausdauertraining kommen eher bei Jugendlichen zur Anwendung. Sportarten, die mit einer einseitigen Belastung einhergehen, sollten erst dann ausgeübt werden, wenn nach Verbesserung der Parameter Kraft und Koordination die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden. Wenig gelenkbelastend ist Radfahren und Schwimmen. Hier können Ausdauer und Kraft geschult werden. Bei Ballsportarten spielen dann mehr koordinative Aspekte sowie Schnelligkeit und Beweglichkeit eine Rolle. Eigene Untersuchungen im Kontrollgruppenvergleich konnten in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg im Rahmen eines "Ballschul"- Projektes zeigen, dass bei adipösen Kindern insbesondere die Kombination von spielerischem Ballsport mit Ernährungsberatung die besten Effekte erzielte und hier insbesondere im Bereich der Koordination [2].

Wichtig für die Sprechstunde
  • Kinder mit Übergewicht neigen eher zur Entwicklung von X-Beinen.
  • Die verschiedenen motorischen Beanspruchungsformen werden durch Übergewicht unterschiedlich modifiziert.
  • Ballsport schult Koordination und Schnelligkeit.


Literatur:
1. Horsak B, Schwab C, Baca A et al (2019) Effects of a lower extremity exercise program on gait biomechanics and clinical outcomes in children and adolescents with obesity: a randomized controlled trial. Gait and posture 70: 122-129
2. Kuni B, Rühling NE, Hegar U, Roth C, Schmitt H (2015) Ball games and nutrition counseling improve postural control in overweight children. BMC Pediatr 15:205 doi: 10.1186/s12887-015-0523-4
3. Sundin BA, Moreno E, Neher JO (2015) Obesity and joint injuries in children. Am Fam Physician 91: 320-322
4. Walker JL, Hosseinzadeh P, White H et al (2019) Idiopathic genu valgum and its association with obesity in children and adolescents. J Pediatr Orthop 39: 347-352


Autor

Prof. Dr. Holger Schmitt

Hüft- und Kniechirurgie
Sporttraumatologie
Deutsches Gelenkzentrum in der Atosklinik
69115 Heidelberg
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (8) Seite 22-24