Warum ein Artikel über die "häufigen Kinderkrankheiten", obwohl diese hierzulande doch gar nicht mehr so häufig auftreten? Schon der Blick auf die Ursache dieses Verschwindens der typischen Kinderkrankheiten klärt diese Frage, denn vor allem und zentral hat ein konsequentes Impfen dies induziert. Ganz ausgerottet sind sie jedoch nicht, wohl aber zunehmend aus dem Bewusstsein der Patienten bzw. deren Eltern geraten. Umso dringlicher wird unser ärztlicher Aufklärungs-Auftrag. Die nachfolgenden Ausführungen möchten die hierfür erforderlichen Informationen liefern.

Was zeichnet diese Kinderkrankheiten aus? Es sind Infektionskrankheiten, die früher fast regelhaft bei einem Großteil aller Kinder aufgetreten sind, heute gehäuft ins Jugendlichen- oder gar Erwachsenenalter verschoben werden. Krankheiten, die auch heute noch schwere, nicht selten tödliche Verläufe nehmen, Komplikationen induzieren und bleibende Schäden hinterlassen können. Charakterisiert sind sie weiterhin dadurch, dass es oft keinerlei kausale Behandlungsoptionen gibt oder dass eine solche Therapie regelhaft zu spät kommt. Dafür verfügen wir heute über sichere, meist lang anhaltend schützende Impfstoffe gegen diese Erkrankungen. Impfen induziert neben dem Individualschutz auch eine Reduktion potenzieller Krankheitsüberträger, die sogenannte "Herden-Immunisierung". Die Standard-Impfungen (vgl. Kasten 1) schützen v. a. gegen diese Kinderkrankheiten. Die wichtigsten seien nachstehend gesondert betrachtet.

Kasten 1: Standardimpfungen/Kassenleistung
  • Diphtherie (lebenslang)
  • Haemophilus-Influenzae-Typ-B-Infektion (HIB) (Säugling/Kleinkind)
  • Hepatitis B (Säugling/Kleinkind/Risiko)
  • Influenza (ab 60 Jahre)
  • Masern (Säugling/Kleinkind/> Jahrg. 1970)
  • Mumps (11– 14 Mon./2. Lj.)
  • Pneumokokken (Säugling/Kleinkind/> 60 J.)
  • Rotaviren (6 Wo. – 4 Mon.)
  • Pertussis (lebenslang)
  • Poliomyelitis (Säugling/Kleinkind/9 – 17 J.)
  • Röteln (11 – 14 Mon./2. Lj.)
  • Tetanus (lebenslang)
  • Varizellen (11 – 14 Mon./2. Lj.)
  • Meningokokken C (2. Lj.)
  • HPV (alle 9 – 14 (18) J.)

Diphtherie

Einst einer der schrecklichsten "Kleinkindermörder" zeigt gerade das völlige Verschwinden der Diphtherie (vgl. Kasten 2) aus unseren Kinderzimmern die hohe Effizienz des Impfschutzes. Auch wenn wir heute mit spezifischem Antitoxin und Antibiotika über wirksame therapeutische Potenziale gegen das Corynebacterium diphtheriae und sein Toxin verfügen, bleibt eine konsequente Durchimpfung die wichtigste Maßnahme. Denn regelmäßig werden diese Erreger bei uns eingeschleppt. Gesunde Menschen können als symptomlose Erreger-Träger fungieren. Alarmierend, dass weniger als 50 % der Erwachsenen in der BRD über ausreichend Antikörper verfügen, um dies sicher zu verhindern!

Kasten 2: Diphtherie
Übertragungsweg:
  • Tröpfcheninfektion:z. B. beim Husten, Niesen, Sprechen, bei engem Kontakt
  • selten Schmierinfektion
  • Inkubationszeit: 2 – 5 Tage
  • Gesunde Menschen können symptomlose Träger des Erregers sein und unwissentlich andere anstecken

Keuchhusten, Pertussis

Trotz hochwirksamer Antibiotika-Therapie verursachen die Pertussis-Bordetellen (vgl. Kasten 3) immer noch Todesfälle in der BRD. Die Ursache hierfür ist, dass weder die durchgemachte Erkrankung noch eine Impfung dauerhaft gegen (erneute) Infektionen durch diesen Erreger schützen kann. Bereits nach fünf bis acht Jahren lässt die Immunität gegen den 100-Tage-Husten nach. Tückisch weiter, dass diese häufige Kinderkrankheit hoch ansteckend ist, auch während der atypischen ersten katarrhalischen Krankheitsphase. Und bei Jugendlichen und Erwachsenen bleibt nach ein bis zwei Husten-Wochen das zweite, oft vier bis sechs Wochen andauernde Stadium mit den typischen konvulsiven Hustenattacken zumeist aus, so dass viel zu spät, oft erst wenn die ganze Umgebung bereits angesteckt ist, an diese schwere Krankheit gedacht wird.

Kasten 3: Keuchhusten (Pertussis)
  • Erreger: Bordetella pertussis
  • krampfartige Hustenanfälle mit Atemnot
  • Krankheitsdauer mindestens zehn Wochen ("100-Tage-Husten")

Verbreitung:
  • weltweit
  • eine der häufigsten Infektionskrankheiten (nicht nur) bei Kindern

Komplikationen sind häufige Zweitinfektionen von Lunge und Mittelohr sowie Krampfanfälle. Eine Beteiligung des Gehirns induziert oft Dauerschäden. Todesfälle treten v. a. bei Säuglingen auf (durch Niesattacken mit Atempausen anstelle des typischen Hustens). Frühgeborene sind ganz besonders gefährdet! Daher sollten alle Personen, die mit kleinen Kindern in Kontakt kommen, über einen aktuellen Impfschutz verfügen (Kokon-Strategie). Schon lange rät die STIKO, jede nächste Impfung gegen Tetanus kombiniert auch gegen Diphtherie und Pertussis durchzuführen. Glücklicherweise gibt es für eine Tetanus-Auffrischimpfung keinerlei zeitliche Abstände mehr, so dass auch bei einer erst kürzlich erfolgten "alleinigen" Tetanus-Impfung eine TdaP-Impfung durchgeführt werden kann, wenn eine solche bei "Kinderkontakt-Personen" (auch Oma und Opa können Pertussis übertragen!) länger als fünf bis acht Jahre zurückliegen sollte.

Nicht nachvollziehbar ist, dass die STIKO die Präventivmaßnahme, welche sich in anderen Ländern als die wirksamste erwiesen hat, (noch) nicht in ihre Empfehlungen aufgenommen hat. Während mütterliche Pertussis-Antikörper bei einer durchgemachten Erkrankung der Mutter oder einer Pertussis-Impfung vor der Schwangerschaft nicht auf das Ungeborene übergehen, kommt es zu einer diaplazentaren Übertragung von Antikörpern bei einer Impfung der Schwangeren in der 27. bis 36. Schwangerschaftswoche. Eine solche gesichert risikolose aktive vorgeburtliche Immunisierung schützt das Neugeborene > 85 % besser als eine Impfung sämtlicher Umgebungspersonen, und dies anhaltend für das ganze, besonders gefährdete erste Lebenshalbjahr.

Masern, Morbilli

Die WHO hatte sich vorgenommen, Masern, diese heimtückische exanthematische Kinderkrankheit, bis zum Jahr 2020 auszurotten (vgl. Kasten 4). Doch selbst in Deutschland führen sinkende Durchimpfungsraten zu rasant zunehmenden Fallzahlen dieser komplikationsreichen Krankheit. 20 % erleiden eine über viele Wochen anhaltende Immunschwäche mit häufigen bakteriellen Sekundärinfektionen. Bei 0,1 % tritt am 4. bis 7. Krankheitstag eine akute postinfektiöse Enzephalitis auf, die in 20 – 30 % bleibende ZNS-Schäden hinterlässt, bei 10 – 20 % gar zum Tode führt. Auch heute noch beträgt die Letalität von Masern in Deutschland 1: 500 – 2.000! Bei 20 – 60/100.000 mit Masern infizierten Kleinkindern kommt es nach sechs bis acht Jahren zu einer immer tödlich verlaufenden Späterkrankung, der subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE).

Kasten 4: Masern
  • Erreger: Masern-Virus (ein umhülltes RNA-Virus)
  • Weltweit verbreitet:
  • Im Jahr 2000 starben ca. 850.000 Kinder; 2010 noch 140.000 Kinder weltweit an Masern
  • am häufigsten erkranken Kinder zwischen dem 4. und 5. Lebensjahr

Gegen Masern fehlt uns jegliche kausale Therapie. Bettruhe, Fieber senken, Behandlung der Komplikationen und eine Erholungsphase für mindestens 14 Tage nach überstandener Erkrankung sind üblich. Gerade Masern – dies zeigen uns die USA, aber auch 43 europäische Länder, die diese Krankheit eradiziert haben – lassen sich präventiv sicher bekämpfen. Eine zweimalige Masern-Impfung (am besten kombiniert mit der gegen Mumps, Röteln und Varizellen, MMRV) schützt sicher und wahrscheinlich lebenslang. Da die zweite Impfung immunologisch eine zweite Erstimpfung darstellt, sollte auch diese im zweiten Lebensjahr erfolgen. Ratsam ist es, jedes Kind spätestens vor dem ersten Besuch einer öffentlichen Einrichtung gegen Masern zu impfen. Erfolgt die erste Impfung vor dem 9. Lebensmonat, sollten zwei weitere Impfungen im Alter von 11 – 14 und 15 – 23 Monaten folgen. Auch um die Zahl möglicher (symptomloser) Masern-Virus-Überträger zu reduzieren, empfiehlt die STIKO darüber hinaus eine Impfung aller nach 1970 geborenen, über 18 Jahre alten Personen, bei welchen der Impfstatus unklar ist bzw. die keine oder nur eine Impfung in der Kindheit erhalten haben.

Mumps, Parotitis epidemica

Auch diese Infektionskrankheit, die alle exokrinen Drüsen befallen kann, ist vor allem wegen möglicher Komplikationen gefürchtet (vgl. Kasten 5). Zu ihrer früher weiten Verbreitung trägt bei, dass gut ein Drittel der Infizierten im Sinne einer "stillen Feiung" keine Krankheitszeichen ausbilden, aber anstecken kann. Die typischen Komplikationen reichen von einer Entzündung des N. acusticus mit Schwerhörigkeit/Taubheit (4 %) und Labyrinthitis über eine Meningoenzephalitis (1 %) bis hin zur Hoden- oder Eierstock-Entzündung bei einer Erkrankung jenseits der Pubertät mit der Gefahr einer (teils inkompletten) Infertilität. Auch bei Mumps können wir ausschließlich symptomatische Therapie bieten, verfügen aber über eine sicher schützende Impfung, am besten kombiniert (MMRV s. o.).

Kasten 5: Mumps
  • Erreger: Mumps-Virus
  • Weltweit verbreitete Krankheit
  • 90 % der Krankheitsfälle vor dem 15. Lebensjahr, Kinder unter 12 Monaten erkranken in der Regel nicht
  • Tritt vor allem im Winter und Frühling auf
  • Bei 1/3 der Infizierten "stille Feiung" (ansteckend)
  • Auch empfängliche Erwachsene können erkranken!

Röteln, Rubeola

Diese weltweit verbreitete hochansteckende exanthematische Infektionskrankheit verläuft häufig unbemerkt, dennoch über drei Wochen infektiös und ist vor allem wegen der fatalen Embryopathie zu Recht gefürchtet (vgl. Kasten 6). Etwa 5 – 10 % der gebärfähigen Frauen in Deutschland verfügen über keinen Impfschutz! Dabei ist dieser durch zwei Impfungen sicher zu erreichen (danach keine Titer-Kontrollen mehr erforderlich). Bei einem von 6.000 Erkrankten kommt es zu einer Enzephalitis.

Kasten 6: Röteln
  • Tröpfcheninfektion: z. B. beim Husten, Niesen u. Ä.
  • Die meisten Infektionen verlaufen unbemerkt!
  • Besonders häufig erkranken Kinder im Schulalter
  • Infektiosität: hoch für bis zu drei Wochen!
  • Inkubationszeit: 2 – 3 Wochen
  • Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bei Kontakt mit Infektiösen liegt bei bis zu 75 %!

Eine Rötelnembryopathie induziert Fehlbildungen der Augen (70 %), der Ohren mit Taubheit (60 %), Herzfehler (50 %) und in 45 % geistige Schäden – regelhaft in Kombination! Pro Jahr treten in Deutschland ca. 50 Fälle auf (1 : 10.000 Geburten). Die Immunprophylaxe ungeschützter Röteln-exponierter Schwangerer ist zwar unsicher, sollte dennoch in Erwägung gezogen werden. Erkrankte sollten den Kontakt zu (ungeschützten) Schwangeren strikt meiden.

Windpocken

Zwar verfügen wir über kausale Behandlungsmöglichkeiten gegen diese hochinfektiöse Viruserkrankung (vgl. Kasten 7): Virustatika, bei Abwehrschwäche auch ein VZV-Immunglobulin. Symptomatisch kommen juckreizstillende Externa und Interna zum Einsatz. Das durch den "Sternenhimmel" aus oft > 500 Bläschen, Papeln und Pusteln gekennzeichnete Exanthem ist pathognomonisch. Warum rät die STIKO, dennoch gegen diese typische Kinderkrankheit zu impfen? Da sind zum einen Komplikationen wie Bronchopneumonie, Enzephalitis, Zerebellitis, Apoplex, vor allem bei jungen Männern auch Myokarditis, zum anderen die Spätfolge Herpes zoster, welche durch eine Impfung um mehr als 2/3 reduziert werden kann.

Kasten 7: Windpocken
  • Tröpfcheninfektion: z. B. beim Husten, Niesen u. Ä.
  • Inkubationszeit: 9 – 21 Tage
  • Krankheitsausbruch: 11 bis 22 Tage
  • Hoch ansteckend! Verbreitung "wie durch den Wind"! 90 % aller empfänglichen Kontaktpersonen stecken sich an!

Schließlich besteht – vor allem bei einer Infektion in den ersten fünf Schwangerschaftsmonaten – die Gefahr einer Embryopathie mit bleibenden Schädigungen. Daher sollte jede Frau vor der ersten Schwangerschaft auch gegen Varizellen geimpft sein (falls die Krankheit nicht durchgemacht worden ist, wobei eine "stille Feiung" serologisch sicher nachgewiesen werden kann). Die mit 11 – 21 Tagen sehr lange Inkubationszeit bietet die Möglichkeit einer Inkubationsimpfung z. B. von exponierten Geschwisterkindern, die den Krankheitsverlauf zumindest abschwächen und Komplikationen vermeiden kann.

Auch wenn Kinderkrankheiten bei uns längst nicht mehr so oft auftreten wie in den "Zeiten vor den Impfungen": Jeder Arzt sollte alles tun, um seine kleinen und auch die erwachsenen Patienten vor diesen keineswegs harmloser gewordenen infektiösen Krankheitsbildern durch eine konsequente Impfstrategie sicher zu bewahren, auch mit dem Ziel, die Kinderkrankheiten endlich zu eradizieren.



Autor:

Dr. med. Ulrich Enzel

Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde
74193 Schwaigern

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (3) Seite 22-25