Essanfälle, Erbrechen, Hungern: Menschen mit Essstörungen plagt oft eine krankhafte Angst, dick zu werden. Das führt sie in einen Teufelskreis aus mangelndem Selbstwert, Schamgefühl und Ekel, der sie immer kränker macht. Essstörungen dieser meist jungen Patienten lassen sich in der Regel nur erfolgreich behandeln, wenn der Arzt auch die Eltern in das Behandlungskonzept einbezieht.

Kasuistik
Hanna, 16, kommt mit ihrer Mutter in die Praxis, die mir ihre Tochter als magersüchtig vorstellt. Um dagegen anzugehen, hat sich Hannas Mutter für eine Klinik am Bodensee zur stationären Therapie entschieden. Mit ihrem Besuch bittet sie mich lediglich noch um die Ausstellung der Einweisung und die Organisation der Aufnahme.

Hanna trägt körperbetonte Kleidung, wiegt bei 167 cm noch 44,4 kg. Das entspricht einem Body-Mass-Index (BMI) von 15 kg/m². Sie selbst empfindet sich weder als zu dick noch als zu dünn.

Danach zeigt sich ein recht typischer Verlauf. Innerhalb von nur kurzer Zeit nimmt sie weiter ab. Bei Aufnahme zur stationären Therapie wiegt sie nur noch 40 kg. Es folgt eine viermonatige Therapie in der Klinik.

Die Empfehlung nach Entlassung lautet:
  • Ambulante Psychotherapie
  • Fortführung der medikamentösen Therapie bei begleitender Depression (Citalopram 20 mg)
  • Einhalten der Mahlzeiten und Portionsgrößen
  • Weitere Gewichtszunahme bis 25 kg/m². Altersperzentile mit regelmäßigen ärztlichen Gewichtskontrollen
  • Verbesserung der Körperakzeptanz und Förderung des Selbstwertgefühls, unabhängig von Figur und Gewicht
  • Stabilisierung der Stimmung durch Aufbau positiver Aktivitäten sowie sozialer stabiler Beziehungen
  • Erlernen von Strategien im Umgang mit dysfunktionaler und automatischer Einstellung (Schwarz-Weiß-Denken, selektive Wahrnehmung, Übergeneralisierung, emotionale Beweisführung)

Die Anorexia nervosa gehört wie die Bulimia nervosa und das Binge-Eating zu den drei bedeutenden Essstörungen [1]. Die Kasuistik zeigt das Vollbild einer Anorexia nervosa noch vor dem Symptom der Essensverweigerung und begleitet von einer Depression. Weitere Komorbiditäten der Magersucht sind Angst- und Zwangsstörungen.

Patienten mit Bulimia nervosa leiden auch unter ihrer ständigen Beschäftigung mit dem Essen und zudem an gehäuft auftretenden Heißhungerattacken. Dabei werden große Mengen Nahrung in kurzer Zeit konsumiert, gefolgt von dem Versuch, dem dickmachenden Effekt des Essens durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern (z. B. durch Erbrechen, rigoroses Fasten, Laxanzien- und/oder Diuretikaabusus). Wie bei der Anorexie besteht die krankhafte Furcht, dick zu werden. Diese Essstörung geht der Bulimie häufig voraus [3].

Bei der Binge-Eating-Störung gibt es Episoden von Essanfällen. Dabei wird eine Nahrungsmenge in einem abgegrenzten Zeitraum (z. B. zwei Stunden) gegessen, die definitiv größer ist als die von den meisten Menschen in dieser Zeit und unter ähnlichen Umständen gegessene Menge. Während der Episode entsteht das Gefühl des Kontrollverlusts über das Essen. Essanfälle treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf [1, 3]:
  • Wesentlich schnelleres Essen als normal
  • Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl
  • Essen von großen Nahrungsmengen ohne körperliches Hungergefühl
  • Allein essen aufgrund von Schamgefühlen wegen der Menge
  • Im Nachhinein Gefühle von Selbstekel, Deprimiertheit oder starker Schuld
  • Die Betroffenen leiden sehr unter den Essanfällen, und es müssen im Schnitt an mindestens zwei Tagen in der Woche für sechs Monate derartige Episoden auftreten

Bei allen drei Formen entsteht ein Teufelskreis (Abb. 1) [3]. Essstörungen sind zudem klinisch und gesellschaftlich bedeutsam. Fast nur junge Menschen haben Anorexia und Bulimia nervosa. Die beiden Erkrankungen wirken sich stark auf die körperliche und seelische Gesundheit aus. Der Erkrankungsgipfel liegt in der späten Adoleszenz beziehungsweise im jungen Erwachsenenalter und hat oft dramatische Folgen für den schulischen und beruflichen Werdegang der Patienten [1].

Körperliche Veränderungen beider Erkrankungen zeigen sich in Störungen der Hunger- und Sättigungsregulierung und des Hormonhaushalts (ausbleibende Regelblutung mit irreversibler Osteoporose-Entwicklung), in Wachstums- sowie Herz-Kreislauf-Störungen (EKG-Veränderungen), in Magen- und Darmbeschwerden, einer Schädigung der Knochensubstanz, der Haut, der Zähne (Erbrechen) und der Haare als auch in Blutbildveränderungen (ausschließlich bei der Anorexie) [2, 3].

Bei Anorexia kommt es in etwa einem Viertel der Fälle zu einer Chronifizierung. Nach einer fünfjährigen Erkrankungsdauer wird eine Besserung sehr unwahrscheinlich. Die Mortalität liegt nach zehn Jahren bei 5 % und nach 20 Jahren bei 16 %. Damit ist die Sterblichkeit um das Zehnfache gegenüber der gleichaltrigen Normalbevölkerung erhöht [2]. Auch das Suizidrisiko ist um ein Vielfaches höher. Die aktuelle Leitlinie [1] empfiehlt hier, eine Behandlungsmotivation zu schaffen. Anorexie- und Bulimieerkrankte zeigen oft keine Krankheitseinsicht und haben häufig zahlreiche gescheiterte Selbstheilungsversuche hinter sich. Bei ausgeprägter Scham kommen sie außerdem ungern zur Behandlung.

Wie erkennt man die Diagnose?

Bei jeder Vorsorgeuntersuchung und bei jedem Verdacht auf eine Essstörung sollte der Arzt die Körpergröße und das Gewicht des Patienten bestimmen. Im hausärztlichen Alltag können folgende Screeningfragen helfen:
  • "Sind Sie mit Ihrem Essverhalten zufrieden?"
  • "Machen Sie sich Sorgen wegen Ihres Gewichts oder Ihrer Ernährung?"
  • "Beeinflusst Ihr Gewicht Ihr Selbstwertgefühl?"
  • "Machen Sie sich Gedanken wegen Ihrer Figur?"
  • "Essen Sie heimlich?"
  • "Übergeben Sie sich, wenn Sie sich unangenehm voll fühlen?"
  • "Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal mit dem Essen nicht aufhören können?"

Die Behandlungsmotivation sollte im Fokus der ersten Gespräche stehen und die ausführliche und sachliche Information über die Essstörung, einschließlich ihrer Risiken (möglichst ohne Ängstigung der Patientin), beinhalten.

Mit der Information sollen Ursache und Verlauf der Essstörung, aber auch mögliche Komplikationen und Komorbiditäten geklärt werden. Die Gestaltung der therapeutischen Beziehung ist bei Kindern und Jugendlichen besonders bedeutsam. Die Sorgeberechtigten in diesen Prozess mit einzubeziehen ist essenziell, denn Kinder und Jugendliche verfügen entwicklungsbedingt nicht immer über eine ausreichende Fähigkeit zur Einsicht, was die Tragweite der Erkrankung und deren Behandlung angeht. Die ausführliche Information der Eltern und ihre Einbeziehung in das Gesamtkonzept sind deshalb unabdingbar, aber nicht selten konfliktreich! Man beachte hier ursächliche Themen wie: Familienstruktur – Eltern-Kind-Konflikt – Autonomieentwicklung.

Heute ist man sich einig, dass die störungsspezifische Psychotherapie (z. B. kognitive Verhaltenstherapie) die Therapie der Wahl bei Magersucht ist. Dabei werden meist Verhaltensprobleme (fehlende Mahlzeitenstruktur, Essrituale, selektive Nahrungsauswahl etc.) kognitive Fehlannahmen, psychodynamische Aspekte (z. B. Selbstwert- und Körpererleben, Geschlechtsrollenidentität, Umgang mit Affekten, Nähe und Distanz in Beziehungen) und die Familiendynamik fokussiert. Einzig bei der Bulimia nervosa ist eine flankierende Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) zugelassen. Ziele der Therapie sind die Normalisierung des Körpergewichts sowie des Essverhaltens und die Bewältigung der mit der Erkrankung verbundenen psychischen Probleme [1, 2].

Der Fall Hanna – so ging es weiter!

Einen weiteren Rückfall mit einem erneuten stationären Aufenthalt über drei Monate hatte Hanna nach einem Jahr. Im Verlauf kam es unter ambulanter Psychotherapie und medikamentöser Behandlung der Depression zu einer anhaltenden Stabilität. Heute ist Hanna 22, hat ihr Abitur erfolgreich bestanden und macht eine Jazztanz-Ausbildung in Los Angeles.


Literatur
1. S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen , AWMF-Registernummer 051-026, Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und das Deutsche Kollegium für Psychosomatische Medizin.
2. Herpertz, Stephan; Hagenah, Ulrich; Vocks, Silja; Wietersheim, Jörn von; Cuntz, Ulrich; Zeeck, Almut, Diagnostik und Therapie der Essstörungen; Dtsch Arztebl Int 2011; 108(40): 678-85; DOI: 10.3238/arztebl.2011.0678
3. Wintersemester 2012/13, Modul 5.1 "Erkrankungen des Nervensystems und der Psyche" Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Günter Reich: http://www.psychosomatik.uni-goettingen.de/download/51%20Vorlesung%20Essstoerungen.pdf


Autorin:

Kathrine Norrmann

Gemeinschaftspraxis Norrmann/Schwenke
Praxis für Allgemein- und Familienmedizin
75045 Walzbachtal

Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (3) Seite 26-28