Bei den in der Praxis des Allgemeinarztes üblichen Laboruntersuchungen gehören Abweichungen der Leukozytenzahlen im peripheren Blut nach „oben“ oder nach „unten“ zu den häufigsten Auffälligkeiten. Welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, soll nachfolgend erörtert werden und ist zusammenfassend in Abbildung 1 dargestellt.

An erster Stelle steht die Einordnung der Leukozytose/Leukopenie in eine der drei Kategorien:

Kategorie 1: wahrscheinlich harmlos,

Kategorie 2: überwachungspflichtig,

Kategorie 3: gefährlich.

Für diese erste Einordnung sind zwei Kriterien entscheidend: das Ausmaß der Abweichung und assoziierte Veränderungen bei weiteren Laborwerten oder beim Allgemeinzustand des Patienten.

So wird man sich bei einer gering ausgeprägten Leukozytose oder Leukopenie (bis ca. 20 % Abweichung von der Norm) und fehlenden weiteren Abweichungen in der Regel zu einer elektiven Kontrolluntersuchung entscheiden (Kategorie 1 oder 2). Bei einer deutlichen Abweichung und/oder assoziierten deutlichen Veränderungen anderer Laborwerte und/oder des Allgemeinzustandes muss man sich hingegen für eine rasche Abklärung und Einordnung der Leukozytose/Leukopenie entscheiden (Kategorie 3). Die wichtigsten Elemente der initialen Abklärung sind die sorgfältige Anamnese und die klinische Untersuchung.

Leukozytose: Entstehung

Eine Leukozytose kann durch drei Mechanismen entstehen: Der erste Weg ist die Demargination von Leukozyten. Über diesen Mechanismus sind sehr rasch Reserven von Leukozyten mobilisierbar. An Endothelien adhärente Leukozyten werden in die Blutbahn freigegeben. Dieser Mechanismus wird u. a. von Kortikosteroiden, aber auch von Zytokinen und bakteriellen Toxinen aktiviert. Der zweite Mechanismus ist die Mehrproduktion von Leukozyten, der von einer Infektion ausgelöst sein kann oder malignen Ursprung hat. Der dritte Weg ist die Verlängerung der Lebenszeit von Leukozyten über das übliche Maß hinaus und fast immer malignen Ursprungs. Wichtigste Beispiele hierfür sind die malignen Lymphome, speziell die Chronische Lymphatische Leukämie (CLL, Abb. 2). Der maligne Lymphozyten-Zellklon kann hier eine um das Vielfache verlängerte Lebensspanne haben, d. h. von im Schnitt wenigen Tagen auf Jahre, was sonst nur bei Gedächtniszellen vorkommt.

Leukozytose: Gefahren

Warnhinweise bei Leukozytose sind:

  • Leukozyten-Konzentrationen von 100 000/µl und mehr: hier droht Leukostase (Ausnahme CLL – hier erst ab 200 000/µl) mit Gefäßverschlüssen in lebenswichtigen Organen, ggf. Verbrauch, Blutung, Multiorganversagen. Es muss daher u. U. rasch eine Leuk- apherese zur Reduktion der Leukozyten eingeleitet werden.
  • Begleitende Veränderungen anderer Blutzellen (Anämie/Polyglobulie, Thrombozytose/-penie).
  • Verschlechterung des Allgemeinzustandes.

Bei Abweichungen der Leukozyten über 20 % des oberen Sollwertes sollte zeitnah ein Differenzialblutbild erstellt werden, aus dem ggf. weitere konkrete Hinweise abgelesen werden können, z. B. Hiatus mit Blastennachweis, pathologische Leukozyten. Bei begleitender markanter Thrombopenie oder Thrombozytose liegt eine maligne Grunderkrankung nahe (Leukosen, Myelodysplasien, Myeloproliferative Syndrome). Bei dominierender Anämie kann eine Blutung ursächlich für eine mäßig ausgeprägte Leukozytose (selten über 50 000/µl) sein.

Leukozytose: Häufige Ursachen

Auf der anderen Seite dieser gefährlichen Formen der Leukozytose steht die physiologische Leukozytose im Rahmen einer Schwangerschaft. Am häufigsten lösen Infekte eine Leukozytose aus mit meist begleitenden klinischen (Fokus) und/oder laborchemischen (C-reaktives Protein, CRP) Hinweisen. Aber auch nicht-infektiöse Ursachen entzündlicher Reaktionen können mäßig ausgeprägte Leukozytosen hervorrufen, wie z. B. Herzinfarkt, Apoplex, diabetische Entgleisung, Kollagenosen. Bei den medikamentösen Ursachen stehen die Glukokortikoide an erster Stelle, gefolgt von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (G-CSF u. a.). Ein Z. n. Splenektomie ist in der Regel mit einer vorübergehenden leichten Form der Leukozytose verbunden.

Bei den reaktiven/entzündlichen Formen der Leukozytose finden sich meist charakteristische Veränderungen im Differenzialblutbild: Es besteht eine Linksverschiebung mit einem Hervortreten von unreifen Zellen der myeloischen Reihe, mit einer Betonung auf den nahezu ausgereiften Zellen (Metamyelozyt, Myelozyt) und nur geringem Anteil ganz unreifer Zellen (Promyelozyt, Blast). Bei entzündlicher Ursache fallen zudem gelegentlich sogenannte toxische Granulationen in den Leukozyten auf. Bei Mononukleose (Abb. 3) werden u. U. Virozyten erkennbar.

Leukozytose: Cave Leukämie!

Eine scheinbar harmonische Linksverschiebung findet sich allerdings auch bei der Chronischen Myeloischen Leukämie (CML). Deutliche Entzündungszeichen (Fieber, CRP-Erhöhung) gehören nicht zur CML. Die Linksverschiebung bei entzündlicher Reaktion und bei CML kann außerdem durch eine Spezialfärbung auf alkalische Leukozytenphosphatase unterschieden werden: Bei entzündlicher Reaktion fällt diese Reaktion positiv aus, bei CML ist sie negativ. Bewiesen wird die CML allerdings durch Nachweis der bcr-abl-Translokation.

Ein Hervortreten von Blasten ohne Zwischenstufen der Leukopoese („hiatus leucaemicus“) ist charakteristisch für die akuten Leukämien. Eine Dominanz reifer Lymphozyten ist typisch für die Chronische Lymphatische Leukämie (CLL). Die Lymphozyten haben oft eine geringere mechanische Stabilität und sind deshalb im Ausstrich teilweise als „Kernschatten“ repräsentiert. Bei einer hohen Konzentration von Monozyten (> 1 000/µl) kann eine Chronische Myelomonozytäre Leukämie (CMML) vorliegen, sofern andere Ursachen ausgeschlossen sind (besonders Infektionen). Eine Knochenmarkspunktion ist bei Leukozytose nur erforderlich, wenn eine Diagnosesicherung aus dem Blut nicht gelingt oder vor Einleitung einer Therapie, zur Einschätzung der Krankheitslast.

Leukopenie: Entstehung

Einer Leukopenie liegt eine verminderte Produktion und/oder ein vermehrter Abbau von Leukozyten zugrunde. Eine verminderte Produktion bedeutet Erkrankung des Knochenmarkes vor dem Hintergrund eines Baustoffmangels (Vitamin-B12- oder Folsäure-Hypovitaminose), einer hypo-/aplastischen Störung (Aplastische Anämie, Myelodysplasie), einer Speicherkrankheit (z. B. M. Gaucher), einer toxischen (Klassiker: Z. n. Chemotherapie) oder strahleninduzierten Schädigung, einer allergischen (z. B. Arzneimittelunverträglichkeit) oder einer entzündlichen Störung, einer Kollagenose oder einer malignen Störung. Bei den malignen Störungen kann es sich um eine Verdrängung des gesunden Knochenmarks durch Tumorzellen (Knochenmarkskarzinose) oder durch Leukämiezellen handeln.

Leukopenie: Ursachen

Ein vermehrter Abbau der Leukozyten findet sich bei Autoantikörpern im Rahmen einer Kollagenose, wobei dann meist auch die Knochenmarksfunktion eingeschränkt ist. Eine mäßige Leukopenie ist bei Splenomegalie häufig. Die häufigste Ursache für eine Leukopenie durch „Verbrauch“ ist aber die schwere entzündliche Reaktion z. B. bei einer Sepsis.

Wie bei der Leukozytose geht es zunächst um eine rasche Einordnung der Leukopenie in eine der Kategorien wahrscheinlich harmlos/kontrollbedürftig/gefährlich.

Leukopenie: Gefahren

Warnhinweise für Gefahr sind:

  • Ausmaß der Leukopenie
  • klinische Verschlechterung und
  • begleitende Veränderungen anderer Blutzellen (Anämie, Thrombopenie).

Leukopenien treten selten isoliert auf. Meist sind sie mit einer Thrombopenie und einer Anämie verbunden. Bei Leukozyten unter 1 000/µl besteht eine akute Gefährdung durch Infektion. Hier ist eine lokale antimykotische Prophylaxe der Mundschleimhaut und – zumindest bis zur Aufklärung der Ursache – eine orale Antibiose angezeigt. Bei Fieber ist eine rasche Klinikeinweisung lebenswichtig. Geringe Abweichungen der Leukozyten (< 20 % unter der Norm) können hingegen zunächst beobachtet werden. Sie sind am häufigsten (para-)infektiös bedingt und selbstlimitierend.

Die Erstellung eines Differenzialblutbildes ist wichtig zur Bestimmung des Granulozytenanteils, der genauer als die Gesamtleukozytenzahl über die Infektionsgefahr entscheidet (hohes Risiko bei < 500 Granulozyten/µl), und zur Detektion unreifer Zellen (Blasten) oder anderer auffälliger Zellen. Wegen der oft geringen Zellausbeute im peripheren Blut wird man bei Leukopenie häufiger noch als bei der Leukozytose um eine Knochenmarkspunktion nicht herumkommen. Diese Methode trägt bei Leukopenie in den meisten Fällen entscheidend zur Diagnose bei.



Autor:

Prof. Dr. med. Claudio Denzlinger, Stuttgart

Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin
Marienhospital Stuttgart
70199 Stuttgart

Interessenkonflikte: keine deklariert


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (10) Seite 22-26