Vor 100 Jahren brach die größte globale Grippewelle aus, die man bis heute kennt. Innerhalb von nur zwei Jahren raffte die Spanische Grippe mindestens 50 Millionen Menschen hin. Das waren mehr Tote, als der Erste Weltkrieg gefordert hatte. Seither hat sich unser Gesundheitssystem zwar wesentlich weiterentwickelt, ein Virus ähnlich dem von 1918 könnte aber erneut eine weltweite Katastrophe auslösen, warnen Experten. Deshalb arbeiten Forscher daran, einen universellen Influenzaimpfstoff zu finden.

Los ging es mit einer ersten Ansteckungswelle im Frühjahr 1918. Die schien zunächst noch relativ harmlos: Zwar erkrankten sehr viele Menschen, aber die Todesrate war noch recht gering. Ihren Ursprung hatte die Spanische Grippe wohl nicht in Spanien, wie der Name vermuten lassen könnte, sondern eher in Kansas in den USA. Dort erkrankten Schüler und Soldaten, und vor allem Letztere sollen das Virus dann Ende 1917 nach Europa verschleppt haben, als die USA in den Ersten Weltkrieg eingriffen. Der Name "Spanische Grippe" rührt wohl daher, dass auch der spanische König und fast sein gesamtes Kabinett sowie fast jeder dritte Einwohner Madrids erkrankt waren.

Tödliche zweite Welle

Viel schlimmer war die zweite Infektionswelle im Herbst 1918. Diese breitete sich rasant über den gesamten Erdball aus und verlief sehr oft tödlich. Eine dritte Welle im Frühjahr 1919 war ähnlich schlimm. Die meisten der Infizierten starben an akutem Lungenversagen, die Haut der Betroffenen war oft dunkelblau vom Sauerstoffmangel. Wer sich morgens noch etwas krank fühlte, war abends oft schon tot. Ungewöhnlich häufig fielen der Grippe junge Menschen zwischen 20 und 40 Jahren zum Opfer. Allein im damaligen Deutschen Reich sollen mehr als 400.000 Menschen gestorben sein, in den USA geht man von mehr als 600.000 Todesopfern aus. Prominente Opfer waren der Maler Egon Schiele, Max Weber oder der Großvater von Donald Trump, Frederik Trump.

Die "Spanische Grippe" war ein globales Ereignis: Sie trat auch in entlegenen Regionen Russlands auf, ebenso wie in Indien, wo es allein schon geschätzte 17 Millionen Opfer gab, aber auch in Westafrika und auf den Philippinen. Auf Samoa starben 20 % der Bevölkerung. Die Zahl derer, die sich damals mit dem Virus infizierten, schätzen Experten auf 500 Millionen Menschen, was einem Drittel der damaligen Weltbevölkerung entsprach. Die Todesrate lag 25-mal höher als bei anderen Influenza-Epidemien.

Ursache unbekannt

Dass es sich bei dem Krankheitserreger um das Influenza-Virus handelte, wusste man damals noch nicht. Dieses wurde erst 1933 entdeckt. Viele Ärzte verdächtigten deshalb ein ominöses Grippe-Bakterium als Ursache für die Pandemie.

Doch warum konnte sich das Virus so rasant ausbreiten? Forscher vermuten heute, dass hier mehrere ungünstige Faktoren zusammentrafen. Laut genetischen Untersuchungen stammte das Grippevirus von 1918 aus Vögeln und passte sich im Lauf der Zeit so an, dass es sich sehr effektiv im Menschen verbreiten konnte. Das Vogelgrippe-Virus-Typ A war hochaggressiv und extrem vermehrungsfreudig, wie Forscher dem 2005 im Labor rekonstruierten Erreger bescheinigten. Das Virus traf daher auf eine Bevölkerung, die zum großen Teil keinen Immunschutz gegen den neuen Erreger besaß. Hinzu kam schließlich, dass die beengten Lebensräume der Menschen und die schlechten hygienischen Verhältnisse die Übertragung des Virus begünstigten. Außerdem standen noch keine antiviralen Medikamente zur Behandlung der Influenza zur Verfügung, und die Infektionen waren häufig von bakteriellen Pneumonien begleitet, die mangels wirksamer Antibiotika oft tödlich verliefen.

Da der Erreger der Grippe unbekannt war, machten auch Verschwörungstheorien aller Art die Runde. Schließlich herrschte ja auch noch Krieg und man verdächtigte sich gegenseitig der biologischen Kampfführung. Und man griff teilweise auch zu drastischen Maßnahmen, mit denen man die Epidemie einzudämmen versuchte. So wurden in New York 500 Personen verhaftet, die entgegen eines polizeilichen Verbots auf der Straße ausgespuckt hatten. Wer keine Gesichtsmasken trug, musste mit einer Geldbuße rechnen.

Als der Erste Weltkrieg dann zu Ende war, gab das der Pandemie noch einmal einen Schub. Hunderttausende Menschen feierten den Frieden auf den Straßen, lagen sich dabei in den Armen und verbreiteten so das Virus untereinander. Gleichzeitig kam es zu großen Truppenverschiebungen, Soldaten kehrten heim und brachten das Virus als tödliches Souvenir mit.

Kann sich so eine Pandemie wiederholen?

Influenzaviren bleiben eine ständige Herausforderung, denn sie haben die bemerkenswerte Fähigkeit, sich durch Drift oder Shift der Immun-
antwort des Menschen zu entziehen. Wissenschaftler arbeiten deshalb weltweit an der Entwicklung neuer Grippeimpfstoffe, die gegen möglichst viele Grippetypen gleichzeitig wirken. Sie sollen nicht nur Schutz vor den veränderlichen saisonalen Grippeviren bieten, sondern auch vor den unweigerlich wieder auftretenden pandemischen Viren.

Heute würde sich ein Virus vermutlich vor allem wegen des globalen Reiseverkehrs noch viel schneller ausbreiten können als 1918. Und es träfe zumindest in Europa auf eine sehr viel ältere Bevölkerung mit verschiedenen Grunderkrankungen, die sie anfälliger für schwere Krankheitsverläufe machen würden. Andererseits sind die Lebensbedingungen heute viel besser als vor 100 Jahren – zumindest in den Industriestaaten. Und wir haben die jährliche Schutzimpfung gegen Influenza, bei der der Impfstoff jährlich an die gerade kursierenden Grippe-Erreger angepasst wird. Doch nicht immer treffen die Forscher dabei ins Schwarze. In der Saison 2014/2015 wurden sie von einer besonders pathogenen Mutation überrascht. Mit schwerwiegenden Folgen. Mehr als 20.000 Menschen starben damals alleine in Deutschland an der Grippe. Und auch aktuell erwies sich der empfohlene Grippeimpfstoff als nur teilweise wirksam.



Autor:
dpa; Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (4) Seite 72-74