Der neurogene Schock ist ein Phantom-ähnliches Phänomen: oft vermutet, schwer erfassbar und im Erscheinungsbild verwirrend. Letzteres hängt mit der komplizierten Pathophysiologie zusammen. Oft tritt ein neurogener Schock nach einem Rückenmarkstrauma auf, aber auch nach zerebralen Prozessen wie Subarachnoidalblutung, Meningitis oder Ischämie. Die Therapie ist ursachenorientiert und ansonsten symptomatisch.
Dem neurogenen Schock liegt eine Imbalance zwischen sympathischer und parasympathischer Regulation der Herzaktion und der Gefäßmuskulatur zugrunde – zuungunsten sympathischer Einflüsse [5]. Die zugrundeliegende Schädigung betrifft das Zentrum für die Kreislaufsteuerung (RVL, NTS, NA) selbst oder afferente bzw. efferente Anteile des Systems (vgl. Abb. 1). Durch ausgeprägte Vasodilatation entsteht eine relative Hypovolämie bei unverändertem Blutvolumen. Die häufigste Ursache sind spinale Traumen, bei denen es zur Unterbrechung der sympathischen Steuerung der Gefäße im Splanchnikusgebiet und in den Muskeln der unteren Extremitäten kommt. Während die Kapazität des venösen Systems, vor allem im Splanchnikusgebiet und in der Skelettmuskulatur, steigt, fällt der systemische Venendruck deutlich ab.
Führende Symptome sind:
- Plötzlicher Blutdruckabfall
- Bradykardie (Puls gehäuft unter 60/min)
- Oftmals "langsamer springender Puls"
- Bewusstseinseintrübung, die bei primär bulbärer Schädigung schnell eintritt
- Blasse, warme und trockene Haut
- Bei hoher Rückenmarksschädigung Verlust der spinalen Reflexe
Die verantwortlichen Strukturen sind im oberen Hirnstamm lokalisiert. Mögliche Schädigungslokalisationen sind
- Läsionen des zentralen Vasomotorenzentrums in der Medulla oblongata
- Läsion bzw. Unterbrechung der efferenten Bahnen vom Vasomotorenzentrum zum Körper, insbesondere als Folge von spinalen Traumen
- Fehlender oder fehlerhafter Informationseingang zum Vasomotorenzentrum nicht nur aus der Körperperipherie, sondern auch Fehleinflüsse von übergeordneten Zentren des Gehirns – vor allem limbisches System (Angstreaktionen) und Hypothalamus.
Der neurogene Schock tritt nicht selten nach spinalen Traumen auf [2]. Weitere Schockursachen sind zerebrale Ischämien und Blutungen, Subarachnoidalblutungen, Meningitis, seltener epileptische Anfälle, aber auch ein schnell aufsteigendes Guillain-Barré-Syndrom sowie Stress und starke Schmerzzustände.
Gemeinsam ist den vorgenannten Krankheitsbildern, dass plötzlich einsetzende Blutdruckabfälle bis hin zum Kreislaufzusammenbruch auftreten, ohne dass eine sonstige Schockursache, wie etwa ein ausgeprägter Blutverlust, festgestellt werden kann.
Diagnostik
Die initiale Diagnostik schließt ein:
- Kurzanamnese, klinische Beurteilung und exakter, wenn auch kurzer Neurostatus
- Auskultatorische Blutdruckmessung, wenn möglich engmaschige oszillometrische Messung des systolischen, diastolischen und mittleren arteriellen Druckes mit Auszählung der mechanischen Herzaktionen
- Kontinuierliche EKG-Ableitung
- Bestimmung der Herzrate (HR) durch Auszählen der elektrischen und mechanischen Herzaktionen
- Pulsoxymetrische Messung der peripheren arteriellen Sauerstoffsättigung. Bei Werten unter 90 % ist Sauerstoffzufuhr oder in ausgeprägten Fällen Intubation und Beatmung geboten.
Ist der Patient schließlich im Schockraum oder auf der Intensivstation, so ist die erweiterte hämodynamische Überwachung mittels arterieller Pulskonturanalyse oder Pulmonalarterienkatheter erforderlich. Spätestens dann soll die Diagnostik mit bildgebenden Verfahren komplettiert werden. Zustände, die einer sofortigen Invasion bedürfen –, z. B. Basilaristhrombose, großer supratentorieller Hirninfarkt, Enzephalitis – müssen ohne Zeitverlust erkannt und umgehend behandelt werden.
Therapie
Kontrollierte Studien zur Therapie des neurogenen Schocks fehlen weitgehend, deshalb hat die Therapie pathophysiologischen Ursachenmodellen zu folgen.
Grundsätzlich sind zunächst stabilisierende Maßnahmen erforderlich, nämlich Sorge für gute Oxygenierung durch Sauerstoffmaske oder -nasensonde, gegebenenfalls auch Intubation und kontrollierte Beatmung. Leistungsfähige venöse Zugänge sind als Sofortmaßnahme anzulegen; hierzu gehört ein eigener Zugang für Katecholamine.
Spezielle Therapiemaßnahmen richten sich nach der Ursache der vorliegenden Symptomatik, die auf der Basis eines vaskulären, traumatischen oder tumorösen Prozesses von Gehirn oder Rückenmark entstanden sein kann. Toxische und pharmakologische Einflüsse (z. B. rückenmarksnahe Anästhesie) dürfen dabei auch nicht übersehen werden. Als Beispiele für spezielle Therapiemaßnahmen sind die sofortige Thrombolyse bei Basilaristhrombose, die Dekompressionskraniotomie bei raumfordernden infra- und supratentoriellen Prozessen und hier auch überbrückend die Osmotherapie mit Mannitol zu nennen.
In der Stabilisierungsphase sind Mineralokortikoide wie Fludrocortison (200 µg/d) zur Erhöhung des Plasmavolumens und Verhinderung von Natriumverlusten eine therapeutische Option. Zur Tonisierung des Gefäßsystems können direkte oder indirekte Sympathomimetika, beispielsweise Pseudoephedrin [8], Cafedrin-Theodrenalin (Akrinor®), Midodrin [7] und Droxidopa [4, 2], dienen.
Eine Polyurie wird mit Desmopressin (cave: Hyponatriämie) unter engmaschiger Flüssigkeitsbilanz therapiert [4].
Im Kontext mit dem neurogenen Schock wurde der Pathomechanismus des Takotsubo-Syndroms (Broken-Heart-Syndrom) genannt, bei dem es bei massivem Stress zu einer Myokard-Depression mit segmentaler Dysfunktion des linken Ventrikels kommt, die im Falle des Überlebens nach ein bis zwei Wochen rückläufig ist. Reaktiv tritt eine überschießende Noradrenalin-Ausschüttung ein. Als Stress sind hier keinesfalls nur psychische Reaktionen, sondern beispielsweise auch Sepsis zu nennen [9]. Die steuernde Funktion des Sympathikus ist bei diesem Krankheitsbild ebenso wie beim neurogenen Schock beeinträchtigt. Im Schrifttum ist man sich heute darüber einig, dass das Takotsubo-Syndrom häufiger ist (2,6 – 7,5 % aller akuten Koronarsyndrome) als allgemein angenommen und oft als Myokardinfarkt fehlgedeutet wird [6].
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (12) Seite 52-54