Für die akute Blinddarmentzündung (Appendizitis) ist eine sichere präoperative Diagnose das A und O. Heute weiß man auch: Die großzügige Indikation zur Notoperation, um Perforationen zu vermeiden, erweist sich häufig als falsch. Wichtig ist vielmehr, zwischen unkomplizierter und komplizierter Appendizitis zu differenzieren und dabei konservative Therapiestrategien zu verfolgen. Methoden der künstlichen Intelligenz sollen hier die Qualität der Diagnostik künftig verbessern.

Die akute Appendizitis ist als der häufigste chirurgische Notfall mit einem Lebenszeitrisiko von 7 – 9 % und einer hohen Inzidenz im Kindes- und Jugendalter beschrieben [1]. Die Blinddarmentzündung wird in der Regel dringlich und standardmäßig operativ behandelt, was den allgemeinen Empfehlungen weiterhin entspricht. Seit mehr als 130 Jahren ist bekannt, dass eine Blinddarmentzündung lebensgefährliche Konsequenzen haben kann [2].

Nach neuen Erkenntnissen ist die akute Blinddarmentzündung kein homogenes Krankheitsbild, das ohne Therapie konsequent fortschreitet und mit der zwangsläufigen Perforation und Eröffnung des Darms ("Blinddarmdurchbruch") zum Tod führt. So zeigen epidemiologische Daten, dass ein direkt proportionaler Zusammenhang zwischen der Inzidenz der phlegmonösen Appendizitis und der im Vergleichszeitraum durchgeführten Zahl der Appendektomien mit negativem histopathologischen Befund besteht, während die Inzidenzen der perforierenden Appendizitiden unabhängig und stabil sind [3]. Mit anderen Worten: Je mehr man operiert, desto mehr phlegmonöse Entzündungen findet man, ohne dass dies auf die Perforationen einen Einfluss hat. Beide Formen dieser Inflammation scheinen demnach als unabhängige Entitäten zu existieren. Die Begriffe "komplizierte" und "unkomplizierte" Appendizitis sind nicht allgemeingültig definiert. Die phlegmonöse Entzündung, die mit einem Ödem und einer neutrophil granulozytären Infiltration der Appendixwand einhergeht, ist in der Regel unkompliziert. Während die Perforation mit Substanzdefekt und Eröffnung des Lumens regelhaft mit Problemen wie Peritonitis und Abszessbildung bis zum septischen Krankheitsbild einhergeht, zeigt sich für die gangränöse Appendizitis (sie ist von der phlegmonösen durch eine Wandnekrose abzugrenzen), dass die Abszessraten schon auf dieser Stufe deutlich erhöht sind, ohne dass (bereits) eine Perforation vorliegen muss [4] (Abb. 1).

Eigene Untersuchungen

In unserer Klinik wird die gangränöse Appendizitis als komplizierte Form definiert. Die Unterscheidung zwischen phlegmonöser und gangränöser bis perforierender Entzündung lässt sich begründen. Untersuchungen zeigen für die phlegmonöse Appendizitis einen immunologischen Mechanismus, der mit Th2-Helferzellen einhergeht, während bei der gangränösen Entzündung scheinbar Th1- und Th17-Zellen eine Rolle spielen. In eigenen Erhebungen von Differenzialblutbildern und C-reaktivem Protein (CRP) bei phlegmonöser oder gangränöser/perforierender Appendizitis waren zeitlich stabil unabhängige und statistisch signifikant unterschiedliche zelluläre Konstellationen erkennbar [5].
Diese deskriptiven Befunde erlauben jedoch keine eindeutigen Rückschlüsse. Bemerkenswert ist – neben der zeitlich stabilen Differenzierbarkeit der Formen auf dieser Ebene – die zeitliche Auflösung der Entwicklung von mittleren Leukozytenzahlen und CRP-Werten bereits vor der Therapie. Beide Parameter steigen mit zunehmender Symptomdauer kontinuierlich an, während das mittlere CRP bei einer phlegmonösen Inflammation zunächst mäßig steigt und spontan wieder abfällt (Abb. 2). Die mittleren Leukozytenwerte normalisieren sich bei den unkompliziert erkrankten jungen Patienten ebenfalls spontan. Der inflammatorische Verlauf bei der phlegmonösen Appendizitis (Mehrzahl der Patienten) scheint eine spontane Resolution zu kennzeichnen.

Schon Andersson stellte fest, dass die komplizierten Appendizitisformen in der Regel rasche Verläufe zeigen, die auch schnelles Handeln kaum verhindert [6]. Auf der Basis phlegmonöser Entzündungen scheinen sich keine komplizierten Verläufe zu ergeben. Auch Kinder und Jugendliche mit komplizierter Appendizitis profitieren nicht von einer sofortigen Op., denn eine Verzögerung von bis zu 12 Stunden hat keine Nachteile [7]. Die sorgfältige Vorbereitung der komplizierter erkrankten Patienten mit Antibiose, Flüssigkeitssubstitution und Analgesie hat dabei einen höheren Stellenwert als eine notfallmäßige Op. [8]. Auch wenn die Appendektomie eine einfache Operation ohne Risiko zu sein scheint, stellt die Op. selbst ein signifikantes Risiko dar. So geht die Negativappendektomie ohne histologisch fassbare Pathologie laut einer Untersuchung mit einem gegenüber der Normalbevölkerung 9,1-fach erhöhten Mortalitätsrisiko einher. Selbst bei perforierender Appendizitis ist das entsprechende Risiko mit einer 6,5-fachen Erhöhung geringer [6]. Demnach sollte man diese Op. möglichst vermeiden.

Konservative Therapieverfahren

Eine alternative Therapieoption ist, die unkomplizierte Appendizitis im Kindesalter konservativ antibiotisch zu behandeln. Für Kinder und Jugendliche sind die Daten einer prospektiv randomisierten Multicenterstudie noch nicht publiziert [9]. Machbarkeit und Sicherheit ließen sich allerdings in einer kleinen, aber hochqualitativen Studie nachweisen, so dass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass sich die konservative Therapie als Modalität etabliert [10].

Die rein klinische Untersuchung des Abdomens reicht zur Entscheidungsfindung nicht aus: Sensitivität und Spezifität sind ungenügend, die Falsch-Positiv-Rate ist sehr hoch. Hinzu kommt eine sehr hohe Interobserver-Variabilität [11, 12]. In unserer Klinik bestimmt die Untersuchung die Indikation für die weitere Diagnostik, wie die Labordiagnostik mit Differenzialblutbild und CRP sowie die Bildgebung (Sonografie). Wir konnten zwar Unterschiede hinsichtlich der zellulären Komposition im Differenzialblutbild und der mittleren CRP-Werte erkennen, zuverlässige Cut-off-Werte waren jedoch aufgrund der hohen Werte-Variabilität nicht zu definieren [5]. Die sonografische Diagnostik hat sich in einer umfassenden Erhebung unserer Klinik als die wichtigste Methode zur Diagnose und Klassifizierung der akuten Appendizitis gezeigt [13].

Für die Kapazität der Parameter zur Unterscheidung von phlegmonöser und gangränöser/perforierender Entzündung lässt sich folgende Aussage treffen: Der Wert der Methode liegt in der Kombination verschiedener Parameter mit unterschiedlichem statistischem Wert. So hat zwar ein Appendixdurchmesser von mehr als 6 mm eine hohe Sensitivität für das Vorliegen einer komplizierten Appendizitis (98 %), aber die Spezifität ist niedrig (11,4 %). Der Nachweis eines Appendikolithen zeigt dagegen eine hohe Spezifität von 90,3 % gegenüber einer Sensitivität für das Vorliegen einer komplizierten Entzündung von 20,1 %. In der Kombination verschiedener Parameter lässt sich also eine gute Aussage zum Vorliegen der unterschiedlichen Formen treffen.

Künftige diagnostische Möglichkeiten

Ein Modell zur untersucherunabhängigen Diagnostik auf Basis von Computeralgorithmen haben wir in einer aktuellen Studie entwickelt [14]
und dafür objektive Parameter aus der Routinediagnostik verwendet: Zellzahlen aus dem Differenzialblutbild, CRP-Werte und die sonografisch ermittelten Appendixdurchmesser. Es gelang uns, dabei Biomarkersignaturen zu entwickeln, die den einzelnen Parametern aus der herkömmlichen Diagnostik in Bezug auf die Kapazität zur Vorhersage einer akuten und einer komplizierten Appendizitis (Abb. 3) deutlich überlegen waren. Die aktuellen Forschungsprojekte der Kinderchirurgie der Charité zielen nun darauf ab, den Datenpool für Computeralgorithmen durch Genexpressionsanalysen mit umfangreichen Datensätzen zu erweitern, um damit eine sichere Differenzierung für zeitgemäße Therapien zu ermöglichen.


Literatur
1. Addiss DG, Shaffer N, Fowler BS, Tauxe RV (1990) The epidemiology of appendicitis and appendectomy in the United States. Am J Epidemiol ;132:910–925
2. Fitz R (1886) Perforating inflammation of the vermiform appendix with special reference to early diagnosis and treatment. Trans Assoc Am Physicians 1:107-144
3. Andersson R, Hugander A, Thulin A, Nyström PO, Olaison G (1994) Indications for operation in suspected appendicitis and incidence of perforation. BMJ 308:107-110
4. Bhangu A, Søreide K, Di Saverio S, Assarsson JH, Drake FT (2015) Acute appendicitis: modern undestandin of pathogenesis, diagnosis, and management. Lancet 386:1278-1287
5. Minderjahn MI, Schädlich D, Radtke J, Rothe K, Reismann M (2018) Phlegmonous appendicitis in children is characterized by eosinophilia in white blood cells counts. World J Pediatr 14:504–509
6. Andersson RE (2007) The natural history and traditional management of appendicitis revisited: Spontaneous resolution and predominance of prehospital perforations imply that a correct diagnosis is more important than an early diagnosis. World J Surg 31:86–92
7. Almström M, Svensson JF, Patkova B, Svenningsson A, Wester T (2017) In-hospital surgical delay does not Increase the risk for perforated appendicitis in children: a single-center retrospective cohort study. Ann Surg 265:616-621
8. Pham XBD, Sullins VF, Kim DY, Range B, Kaji AH, de Virgilio CM, Lee SL (2016) Factors predictive of complicated appendicitis in children. J Surg Res 206:62–66
9. Hall NJ, Eaton S, Abbo O, Arnaud AP, Beaudin M, Brindle M, Bütter A, Davies D, Jancelewicz T, Johnson K, Keijzer R, Lapidus-Krol E, Offringa M, Piché N, Rintala R, Skarsgard E, Svensson JF, Ungar WJ, Wester T, Willan AR, Zani A, St Peter SD, Pierro A (2017) Appendectomy versus non-operative treatment for acute uncomplicated appendicitis in children: study protocol for a multicentre, open-label, non-inferiority, randomised controlled trial. BMJ Paediatr Open 1.
10. Svensson JF, Patkova B, Almström M, Naji H, Hall NJ, Eaton S, Pierro A, Wester T (2015) Nonoperative treatment with antibiotics versus surgery for acute nonperforated appendicitis in children: a pilot randomized controlled trial. Ann Surg 261:67-71
11. Benabbas R, Hanna M, Shah J, Sinert R (2017) Diagnostic accuracy of history, physical examination, laboratory tests, and point-of-care ultrasound for pediatric acute appendicitis in the emergency department: a systematic review and meta-analysis. Acad Emerg Med 24:523–551
12. Kulik DM, Uleryk EM, Maguire JL (2013) Does this child have appendicitis? A systematic review of clinical prediction rules for children with acute abdominal pain. J Clin Epidem 66:95–104
13. Rawolle T, Reismann M, Minderjahn MI, Bassir C, Hauptmann K, Rothe K, Reismann J (2019) Sonographic differentiation of complicated from uncomplicated appendicitis. Br J Radiol 92; Epub ahead of print
14. Reismann J, Romualdi A, Kiss N, Minderjahn MI, Kallarackal J, Schad M, Reismann M. (2019) Diagnosis and classification of pediatric acute appendicitis by artificial intelligence methods: An investigator-independent approach. PLoS One 14: e0222030


Autor:

PD Dr. med. Marc Reismann

Klinik für Kinderchirurgie
Charité – Universitätsmedizin Berlin
13353 Berlin

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (19) Seite 16-18