Um eine depressive Störung, die einer Behandlung bedarf, aufzudecken, sind in der Regel gezielte Fragen an den betroffenen Patienten notwendig. Denn spontan schildern die Patienten in der Regel nur Teilaspekte ihrer Beschwerden, die sich mitunter auch als körperliche Symptome (Magendruck, Schwindel, Globusgefühl) niederschlagen. Je nach Ausprägung der Depression stehen Psychotherapie oder Pharmaka an erster Stelle der therapeutischen Erwägungen.

An depressiven Erkrankungen leiden in Deutschland etwa 10 % der Patienten einer durchschnittlichen Hausarztpraxis [4]. Frauen erkranken doppelt so oft wie Männer.

Auch wenn es umstritten ist, ob die Prävalenz depressiver Erkrankungen in den letzten Jahren zugenommen hat, weisen die Daten der Krankenkassen doch auf eine zunehmende Bedeutung depressiver Erkrankungen für die Arbeitswelt hin. Aufgrund der besonderen Charakteristika depressiver Erkrankungen (deutlich längere Krankschreibungszeiten, höhere Rate an Chronifizierung und dauerhafter Erwerbsunfähigkeit) spielen Fragen der Behandlung und Einschätzung depressiver Störungen in der Praxis eine sehr große Rolle. Dabei ist die hausärztliche Versorgung depressiver Patienten nicht einfach. Eine Hilfe in den vielfältigen hier zu treffenden Entscheidungen mögen die jetzt kürzlich erschienenen Nationalen Versorgungsleitlinien „Unipolare Depression“ bieten [1], die von 28 psychiatrischen, psychosomatischen, psychologischen und allgemeinmedizinischen Fachgesellschaften in einem mehrjährigen Prozess erarbeitet wurden.

Die Leitlinien beinhalten nicht nur eine Vielzahl von Empfehlungen zu Diagnostik, unmittelbarer Therapie und Begleitmaßnahmen. Sie machen auch Aussagen über Strategien bei nicht erfolgreicher Behandlung und geben Hilfe bei der Indikation für spezialisierte Behandlungsangebote, insbesondere auch bei Patienten mit somatischer oder umfänglicher psychischer Komorbidität.

Diagnostik

Depressive Störungen können im Alltag am besten nach dem Schweregrad eingeteilt werden. Dieser bestimmt sich nach der Anzahl vorhandener Krankheitssymptome sowie dem Ausmaß der Beeinträchtigung in der Lebensführung. Depressive Herabgestimmtheit sowie Interessenverlust und Freudlosigkeit sind die Kernsymptome und reichen für die Diagnose einer leichten depressiven Episode.

Kommen zusätzlich eine schwere und andauernde Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, durchgängige wiederholte Suizidgedanken oder Schlafstörungen hinzu, muss mindestens von einer mittelschweren Episode ausgegangen werden, was für das therapeutische Vorgehen bedeutsam sein kann.

Bei zusätzlichem ausgeprägtem Antriebsmangel sowie weiteren Beeinträchtigungen (Appetitstörungen, Schlafstörungen, schwere Konzentrationsstörung etc.) wird vom Vorliegen einer schweren Episode ausgegangen. Die Symptomatik muss jeweils über 14 Tage andauern.

Die genannten Symptome müssen gezielt und vollständig erfragt werden, da depressive Patienten spontan häufig nur Teilaspekte ihres Befindens schildern. Hierbei handelt es sich, entsprechend dem eher medizinischen Modell vieler Patienten, häufig um körperliche Beschwerden wie Magendruck, Obstipation, Engegefühl in Hals und Brust, Globusgefühl, funktionelle Störungen, Schwindelgefühle, spannungsbedingte Muskelschmerzen, Erschöpfung, subjektive Gedächtnisstörungen und Libidoverlust.

Im Zuge der diagnostischen Abklärung ist ein besonderes Augenmerk auf die Suizidalität zu richten. Hier ist klinisch zwischen verschiedenen Ausprägungen zu unterscheiden. Bestehen ausphantasierte Suizidpläne und lehnt der Patient Absprachen wie einen Suizidpakt ab, d. h. die Zusicherung, vor einem unwiederbringlichen Handeln Kontakt mit dem Arzt aufzunehmen, ist die Überweisung in ggf. stationäre, psychiatrische Behandlung unabdingbar.

Therapie

Die immer wieder diskutierte Frage der Differenzialindikation von Psycho- und Pharmakotherapie nimmt in den Leitlinien einen breiten Raum ein.

In Übereinstimmung mit den meisten internationalen Leitlinien wird beim Vorliegen einer leichten Depression primär eine psychotherapeutische Intervention empfohlen.
Medikamentöse Behandlungen sollten angesichts des Risiko-Nutzen-Verhältnisses im Falle leichter Depressionen nur bei eindeutig positiven Vorerfahrungen, bei eindeutigem Patientenwunsch sowie bei Fortbestehen von Symptomen nach anderen Interventionen erfolgen.

Psychotherapeutische Interventionen erfordern meist die Überweisung in fachärztliche oder psychologisch-psychotherapeutische Hände. Trotz relativ guter psychotherapeutischer Versorgungsdichte in Deutschland müssen hier prinzipiell Wartezeiten in Kauf genommen werden. Vorgespräche zur Klärung einer Therapieindikation sind aber häufig innerhalb kürzerer Zeiträume zu realisieren und erleichtern erfahrungsgemäß die Wartezeit auf einen Therapieplatz. Die in Deutschland im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung angebotenen Psychotherapieverfahren können alle Wirksamkeitsnachweise vorlegen.

Vorgehen bei schwereren Depressionen

Bei mittelgradigen depressiven Episoden geht man davon aus, dass Psychotherapie und medikamentöse Behandlung gleich gut wirken. Ein Problem der Pharmakotherapie ist die bekannt niedrige Compliance und die hohe Drop-out-Quote sowie die fehlende Nachhaltigkeit nach Absetzen. Eine aktuelle Metaanalyse hat erneut die Äquivalenz von Psycho- und Pharmakotherapie in der Akutbehandlung und die Unterlegenheit von Antidepressiva der 2. Generation gegenüber fachgerecht und durch ausgebildete Therapeuten durchgeführter Psychotherapie in der Katamnese gezeigt [3].

Erwähnenswert ist noch, dass man inzwischen für moderne Antidepressiva von einer Wirklatenz von unter einer Woche ausgeht. Sollte nach drei Wochen noch keine nennenswerte Besserung eingetreten sein, sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Behandlungserfolges auf unter 20 %. Differenzielle Empfehlungen für einzelne Präparate werden nicht gegeben.

Auch Johanniskraut kann Studien zur Wirksamkeit bei mittelschweren Depressionen vorlegen, gerade bei diesem Medikament wird aber explizit auf das hohe Risikopotenzial z. B. bei multimorbiden Patienten wegen unvorhersehbarer Medikamenteninteraktion hingewiesen (orale Kontrazeptiva, Antikoagulanzien, Antikonvulsivum, Virustatika).

Bei schweren Depressionen wird gemeinhin eine pharmakologische (Mit-)Behandlung als sinnvoll angesehen. Dies gilt insbesondere bei Vorliegen schwerer Schlafstörungen. Eine Kombination mit Psychotherapie ist aber der medikamentösen Monotherapie eindeutig überlegen. In einzelnen Studien konnte bei schweren Depressionen - dies ist bei entsprechender Patientenpräferenz zu beachten - auch eine alleinige Psychotherapie gute Wirksamkeit zeigen.

Für die hausärztliche Praxis wichtig ist, dass bei fehlendem Ansprechen nach etwa drei bis vier Wochen aus den erwähnten Gründen die Behandlungsstrategie überprüft werden muss.
Eine Dosissteigerung über die empfohlene Tagesdosis hinaus ist bei SSRI nicht empfohlen und erwiesenermaßen wirkungslos. Sinnvoller ist entweder ein Wechsel des Präparats bzw. der Stoffgruppe oder eine Ergänzung durch ein zweites Präparat, wobei lediglich die Kombination von Mirtazapin mit einem SSRI oder einem TZA empfohlen wird. Die Augmentation mittels diverser Antikonvulsiva bzw. Betablocker und anderen Substanzen wird nicht empfohlen.

Sollte über einen Zeitraum von etwa sechs Wochen durch medikamentöse Behandlung keine Besserung erzielt werden, ist spätestens dann eine Überweisung zum Facharzt bzw. psychologischen Psychotherapeuten angeraten.

Erhaltungstherapie

Für den Fall einer erfolgreichen medikamentösen Therapie wird die Fortsetzung über mindestens sechs Monate dringend empfohlen. Bekannt ist aber auch, dass die Nachhaltigkeit einer erfolgreich abgeschlossenen Psychotherapie, zumal in dem Umfang wie sie die hiesige Vertragspsychotherapie vorsieht, eine mindestens ebenso gute Prophylaxe darstellt.

Kritisch zur Antidepressivatherapie ist anzumerken, dass Metaanalysen in den letzten Jahren den Verdacht bestätigt haben, dass in dem Bereich leichter und mittelschwerer Depressionen der Plazeboeffekt weitgehend die Wirkung erklärt. Lediglich im Bereich der schweren Depressionen liegt dieser deutlich unter der Verumwirkung [2].

Besondere Therapieverfahren

Die in der Öffentlichkeit oft diskutierten ergänzenden Therapieverfahren wie Elektrokrampftherapie, repetitive transkranielle Magnetstimulation, Vagus-Stimulation oder sogar Tiefenhirnstimulation weisen unterschiedliche Stufen der Evidenz auf.

Die Elektrokrampftherapie ist als Ultima Ratio und bei positiven Vorerfahrungen in ausgewählten Krankenhäusern einsetzbar. Für die rTMS deutet sich im Rahmen kontrollierter Studien eine Wirksamkeit im Bereich mittelschwerer Depressionen an, ebenso gibt es bereits Nachweise für die Lichttherapie bei saisonaler Depression. Die übrigen genannten Verfahren haben weiterhin experimentellen Charakter, auch wenn das Spektakuläre ihrer Einzelerfolge manchen Patienten an diese Option denken lässt.

Ärztliche Haltung

Abschließend soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass depressive Erkrankungen im engen Zusammenhang zu sehen sind mit ungünstigen, von Verlusten, Verunsicherungen und Selbstwertbeeinträchtigung geprägten Biografien bzw. Lebensumständen. Insofern liegt ein wesentlicher Risikofaktor für depressive Erkrankungen in komplexen Persönlichkeitsfaktoren. Der Umgang mit den betroffenen Patienten muss diese in Rechnung stellen.

Das Gefühl von Hilflosigkeit, Zurückweisung und drohender sozialer Isolierung kann der Arzt durch geduldige Präsenz, verbunden mit einem zu Beginn relativ aktiven und unterstützenden Vorgehen, gestalten. Das Angebot einer klaren und verlässlichen Begleitung und die Förderung von persönlichen Ressourcen erlauben für viele Patienten auch die alleinige Therapie im hausärztlichen Kontext.

Vermieden werden sollten Bagatellisierung und vorschneller Trost oder auch Ratschläge, deren Realisierbarkeit und persönliche Folgen nicht abgesehen werden können. Ebenso sollte auf die laienhafte „Deutung“ unbewusster oder verborgener Affekte verzichtet werden.

Die Formulierung und Erarbeitung konkreter und erreichbarer „Miniziele“ (Tagesstrukturierung, Genussförderung, vorsichtige Aufhebung des sozialen Rückzugs) sind für die meisten depressiven Patienten hilfreich.

Im Falle des Vorliegens chronischer Persönlichkeitsbeeinträchtigungen oder auch anhaltender starker psychosozialer Belastungsfaktoren empfiehlt sich die rasche begleitende Überweisung in eine Psychotherapie bzw. fachärztliche Behandlung.

Bei allen Vorgehensweisen spielt nach augenblicklichen Erkenntnissen die Qualität der therapeutischen Beziehung, d. h. der Grad des „subjektiven Aufgehobenseins“ der Patienten, eine entscheidende Rolle.


Literatur
1. Härter M, Klesse C, Bermejo I, Bschor T, Gensichen J, Harfst T, Hautzinger M, Kolada C,•Kopp I, Kühner C, Lelgemann M, Matzat J, Meyerrose B, Mundt C, Niebling W, Ollenschläger G, Richter R, Schauenburg H, Schulz H, Weinbrenner S, Schneider F, Berger M (2010) Evidenzbasierte Therapie der Depression - Die S3-Leitlinie unipolare Depression. Nervenarzt 81: 1049–1068
2. Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, Scoboria A, Moore TJ, Johnson BT (2008) Initial Severity and Antidepressant Benefits: A meta-Analysis of data submitted to the Food and Drug Administration. PLoS Medicine 5 (2): e45
3. Spielmans GI, Berman MI, Usitalo AN (2011) Psychotherapy versus Second-Generation Antidepressants in the Treatment of Depression. J Nerv Ment Disord 199 (3): 142-149
4. Wang PS, Lane M, Olfson M, Pincus HA, Wells KB, Kessler RC (2005) Twelve-month use of mental health services in the United States: results from the National Comorbidity Survey Replication. Arch Gen Psychiatry 62: 629-40

Interessenkonflikte:
keine deklariert

Prof. Dr. med. Henning Schauenburg


Kontakt:
Prof. Dr. med. Henning Schauenburg
Klinik für Allgmeine Innere Medizin und Psychosomatik
Universitätsklinikum Heidelberg

Prof. Dr. med. Jochen Gensichen
Insitut für Allgemeinmedizin
Universitätsklinikum Jena

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2011; 33 (10) Seite 12-14