Systolische und diastolische Blutdruckziele bei hochbetagten Menschen über 85 Jahre unterscheiden sich von denen jüngerer Patient:innen. Allgemein gilt, hohen Blutdruck zu behandeln, aber auch nicht zu tief abzusenken, um u. a. die Koronarperfusion nicht zu beeinträchtigen. Als Diagnosekriterium spielt zudem bei Hochbetagten der aortale Blutdruck eine wichtigere Rolle als der brachial gemessene Blutdruck.

Ab 31.000 Tagen gelten wir als hochbetagt. Die Gerontologie bezeichnet die über 85-Jährigen als die alten Alten, die Hochbetagten. Die 60- bis 85-Jährigen werden als die "jungen Alten" eingestuft. Diese Einteilung ist wie viele andere Grenzwerte und Definitionen in der Medizin recht willkürlich. Nützlich sind diese Einteilungen und Definitionen für epidemiologische Untersuchungen und Therapiestudien. Zur antihypertensiven Therapie im hohen Alter gibt uns die HYVET-Studie (Hypertension in the Very Elderly Trial) sehr gute Daten [1]. Es wurden 3.845 Teilnehmer:innen zwischen 80 und 105 Jahren für die randomisierte kontrollierte Studie rekrutiert: 73 % im Altersbereich 80 bis 84 Jahre, 22 % im Bereich 85 bis 89 Jahre und 5 % über 90 Jahre. Der durchschnittliche Blutdruck zu Beginn der Studie war 173/91 mmHg. Es bestand somit eine für die Altersgruppe typische überwiegend systolische Hypertonie. Ein Drittel der Patient:innen hatte eine isolierte systolische Hypertonie (ISH). Das Therapieziel war eine "vorsichtige" Blutdrucksenkung auf 150/80 mmHg. Die antihypertensive Therapie wurde mit Indapamid in Monotherapie (26 % der Teilnehmer:innen) oder als Kombination mit Perindopril (74 %) vs. Placebo durchgeführt. Sie war im Vergleich zum Placeboarm so erfolgreich, dass die Studie vorzeitig nach 22 Monaten abgebrochen wurde. Die Blutdrucksenkung nach zwei Jahren war 30/12 mmHg in der Verumgruppe und 15/7 mmHg in der Placebogruppe. Die antihypertensive Therapie führte frühzeitig zu einer signifikanten Senkung der Gesamtmortalität und insbesondere der Herzinsuffizienz. Das ist umso erstaunlicher, als nur 12 % der Teilnehmer:innen eine kardiovaskuläre Vorerkrankung hatten und 7 % einen Diabetes.

Eine italienische Fall-Kontroll-Studie [2] bei über 85-jährigen behandelten Hypertoniker:innen ergab eine signifikante Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse bei den Patient:innen, die seit einigen Jahren bereits behandelt und Therapie-adhärent waren.

Antihypertensiva langsam steigern

Die ISH im Alter entsteht sui generis als Folge einer arteriellen Gefäßsteifigkeit. Die antihypertensive Behandlung der ISH im Alter ist sehr erfolgreich. Als Antihypertensiva kommen bevorzugt ACE-Hemmer, AT1-Antagonisten, Diuretika und Kalziumantagonisten in Betracht. Kalziumant​agonisten haben im Alter einen besonderen Stellenwert, da sie den aortalen Druck besonders gut senken können (s. u.).

Bei der Senkung des systolischen Blutdrucks darf der diastolische Blutdruck bei Patient:innen
ohne KHK auch unter 70 mmHg absinken. Bei Patient:innen mit KHK bzw. nicht revaskularisierter KHK sollte dieser Bereich möglichst nicht unterschritten werden, um die Koronarperfusion nicht zu beeinträchtigen.

Zur Auswahl stehen alle Antihypertensiva der ersten Stufe (RAAS-Hemmer, Diuretika und Kalziumantagonisten). Die Einleitung der antihypertensiven Medikation soll vorsichtig geschehen, d. h. initial mit niedrigen Dosen und langsamer Steigerung (Titration). Sicherheitskontrollen der Nierenfunktion und Elektrolyte sind auch bei subjektivem Wohlbefinden durchzuführen.

Vorsicht mit abendlichen Dosen

Eine abendliche Medikation ist nur indiziert, wenn zuvor eine fehlende Nachtabsenkung (non dipping oder inversed dipping) mit der ambulanten Blutdruck-Langzeitmessung (ABDM) nachgewiesen wurde. Im höheren Alter wird aber häufig eine normale Nachtabsenkung (normal dipping) oder gelegentlich auch eine überschießende Nachtabsenkung (extreme dipping) beobachtet. Hier birgt eine abendliche Medikation die Gefahr (stummer) nächtlicher Ischämien (zerebral, kardial, renal). Gelegentlich kann eine zu starke Nachtabsenkung zu einem "arousal" führen: Die Weckreaktion führt zu einem reaktiven Blutdruckanstieg, der bei anschließender Selbstmessung des Blutdruckes in der Nacht zur Fehlinterpretation führt.

Definitionsgemäß kann der nächtliche Blutdruck (im Schlaf) mit der Selbstmessung nicht erfasst werden. Das führt häufig zu Missverständnissen in der Praxis.

Die Europäischen Leitlinien aus 2018 [3] empfehlen vernünftigerweise einen Zielkorridor für den systolischen Blutdruck von 130—139 mmHg (Abb. 1) und diastolisch < 80 mmHg. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, eine Senkung < 130 mmHg systolisch zu vermeiden. Zurückhaltung mit einer zu starken Blutdrucksenkung ist insbesondere bei Heimbewohner:innen und gebrechlichen Patient:innen zu beachten. Kriterien für den Beginn bzw. die Fortsetzung einer antihypertensiven Therapie im hohen Alter:
  • Individuelle Entscheidung mit erheblichem Ermessensspielraum
  • Vorbestehende verträgliche und wirksame Therapie
  • Konstanter systolischer Blutdruck > 150 mmHg
  • Gute körperliche und geistige Verfassung
  • Selbstständig lebend und wohnend
  • Zurückhaltung bei Gebrechlichkeit/Frailty
  • Grundsatz "primum nihil nocere"
  • Ausschluss orthostatische Hypotonie/Schwindel
  • Keine erkennbar begrenzte Lebenserwartung
  • Fehlen schwerer nichtkardialer Erkrankungen
  • Bei Multimorbidität und Polypharmazie evtl. Reduktion der antihypertensiven Medikation

Aortaler Blutdruck als Zielparameter

Es gibt immer mehr Hinweise dafür, dass insbesondere im höheren Alter der zentrale aortale Blutdruck als Zielparameter größere Bedeutung hat als der brachiale Blutdruck, der bei der konventionellen Blutdruckmessung ermittelt wird. Im höheren Lebensalter führt die arterielle Gefäßsteifigkeit zur Augmentation des systolischen Blutdruckes durch die retrograde/reflektierte Druckwelle (Abb. 2), die verstärkt und beschleunigt zum Herz zurückläuft und die Ventrikellast in der Systole erhöht.

Die Zunahme der linksventrikulären Last führt zur Versteifung des linken Ventrikels mit verminderter Compliance, zu gestörter ventrikulo-arterieller Koppelung, der Entwicklung einer diastolischen Herzinsuffizienz und im weiteren Verlauf zur linksventrikulären Hypertrophie.

Gleichzeitig wird die kardiale Perfusion in der Diastole vermindert durch die Abnahme des diastolischen Perfusionsdruckes und die verkürzte Diastolendauer. Das führt zu einem Missverhältnis von kardialem O2-Bedarf und kardialer Versorgung: Der Sauerstoffbedarf steigt mit Zunahme der Ventrikelarbeit und die Versorgung wird kompromittiert.

Die moderne Pulswellenanalyse (PWA) mit Ableitung der Druckkurve über den gesamten Herzzyklus ermöglicht die Detektion und Visualisierung der systolischen Augmentation [4], die Messung der Pulswellengeschwindigkeit als Parameter der arteriellen Gefäßsteifigkeit und die Berechnung des aortalen Blutdruckes. Dieser kann selbst bei normalen Druckwerten in der Armarterie erhöht sein. Dieses Phänomen wird als maskierte aortale Hypertonie beschrieben [4].

ESSENTIALS - Wichtig für die Sprechstunde
  • Eine antihypertensive Therapie kann auch bei Hochbetagten die Gesamtmortalität senken.
  • Antihypertensiva sind einschleichend zu dosieren.
  • Der aortale Blutdruck ist im hohen Alter ein besserer Parameter als der brachiale Blutdruck.


Literatur:
1. Beckett NS et al. for the HYVET Study Group Treatment of Hypertension in Patients 80 Years of Age or Older. New Engl J Med 2008;358:1887-98
2. Corrao G et al. Protective effects of antihypertensive treatment in patients aged 85 years or older. J Hypertens 2017;35:1432-41
3. Williams B, Mancia G, Spiering W, et al. 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. Eur Heart J 2018;39:3021-3104
4. Middeke M. Zentraler aortaler Blutdruck: Bedeutender Parameter für Diagnostik und Therapie, Dtsch Med Wochenschr 2017;142:1430-36
5. Düsing R, Middeke M Europäische Hypertonie-Leitlinie 2018: Ein Spiegel der schwierigen Datenlage, Deutsches Ärzteblatt 2018, Jg. 115, Heft 26: 1267 – 1070


Autor

Prof. Dr. med. Martin Middeke

Hypertoniezentrum München HZM
Excellence Centre of the European Society of Hypertension (ESH)
80333 München

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (11) Seite 46-48