Niemand hat ihr nachgetrauert, doch jetzt liefert die ungeliebte Praxisgebühr wieder neuen Zündstoff: Seit ihrer Abschaffung ist der Anteil der hausärztlich gesteuerten Patient:innen hin zu Fachärzten drastisch eingebrochen. Nur noch jede sechste Patient:in wird von Hausärzt:innen im System gezielt gesteuert. Zu diesem Ergebnis kommt eine retrospektive Analyse von Abrechnungsdaten der KV Bayerns aus den Jahren 2011 bis 2016.

Im Vergleich zu anderen Ländern in der Europäischen Union ist die Versorgungssteuerung durch Primärversorger:innen in Deutschland deutlich schwächer ausgeprägt. Um hier entgegenzusteuern und die koordinierende Rolle von Hausärzt:innen zu stärken, wurde im Jahr 2004 die Praxisgebühr eingeführt. In jedem Quartal mussten erwachsene Patient:innen für den ersten ambulanten Arztkontakt ohne Überweisung eine Gebühr von 10 € entrichten. Ende 2012 erfolgte die Abschaffung der Praxisgebühr, da der bürokratische Aufwand hierfür als zu hoch angesehen wurde.

Beunruhigende Erkenntnisse

Bis zum Jahr 2012 gab es die Praxisgebühr also noch. In dieser Zeit wurde der jetzt vorgelegten Analyse zufolge noch jede zweite Patient:in durch ihre Hausärzt:in durch das Gesundheitssystem gesteuert. Nach dem Wegfall der Praxisgebühr im Jahr 2013 war es nur noch jede sechste Patient:in, so besagt es die Studie von Prof. Antonius Schneider, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Klinikum rechts der Isar der TU München. Und noch eine Erkenntnis sei höchst beunruhigend: Auch die Morbidität der ungesteuerten Patient:innen mit psychischen und chronischen Erkrankungen sei erkennbar gestiegen. Dass diese Veränderungen so drastisch ausfallen, hat auch Prof. Schneider überrascht.

Die Studie im Detail

  • Von allen Patienten, die im 1. Quartal des Jahres 2011 einen steuerungsrelevanten Facharztkontakt hatten (3.401.779), waren 1.685.655 (49,6 %) hausärztlich gesteuert. Etwa genauso viele Patienten (1.716.124) und somit 50,4 % waren ungesteuert.
  • Bereits im ersten Quartal nach Abschaffung der Praxisgebühr (1/2013) sank die Zahl der hausärztlich gesteuerten Patienten auf 25,2 %. Die Anzahl der ungesteuerten Patienten schnellte hingegen auf 74,8 hoch.
  • Ein noch drastischerer Effekt offenbarte sich dann bis zum 1. Quartal 2016: nur noch 568.526 (15,5 %) der Patienten mit Facharztkontakt waren hausärztlich gesteuert. 84,5 % jedoch – über 3 Millionen Patienten – suchten in diesem Zeitraum Fachärzte ohne hausärztliche Überweisung auf.

Die Analyse zeigt auch: Ungesteuerte Patient:innen sind im Durchschnitt jünger, wohnen eher in städtisch geprägten Regionen und sind etwas häufiger weiblich.

Ohne hausärztliche Steuerung wird´s teurer

Wie sich dieser Trend auf die Kostenentwicklung auswirkt, war nicht Gegenstand dieser Erhebung. Schneider verweist hier jedoch auf die Ergebnisse früherer Studien seines Lehrstuhls, nach denen Patient:innen mit hausärztlicher Steuerung im Schnitt 9,45 € geringere ambulante Kosten (haus- und fachärztlicher Leistungsbedarf sowie Verordnungskosten) pro Quartal auslösten als vergleichbare Patient:innen ohne Steuerung. Bezogen auf alle Versicherten in Bayern summiert sich dieser Einspareffekt immerhin auf geschätzt 50 Millionen € pro Jahr. Auch in Anbetracht dieser Zahlen ist es nicht nachzuvollziehen, warum zum Beispiel die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) nicht ein einziges Mal im Koalitionspapier der neuen Bundesregierung auftaucht. Das kann sich noch rächen. Spätestens dann, wenn die Kostenlawine so hoch wird, dass neben der HzV auch alle anderen denkbaren Steuerungsinstrumente (siehe Interview mit Prof. Schneider) wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt werden müssen.Raimund Schmid |

Was bedeutet "hausärztlich gesteuert"?
Die Studie der TU München deckt 85 % der bayerischen Bevölkerung über einen Zeitraum von sechs Jahren hinweg ab und kann daher als repräsentativ gelten. Eingeschlossen wurden alle gesetzlich Versicherten ab 18 Jahren mit Hauptwohnsitz in Bayern. Patient:innen galten dann als "hausärztlich gesteuert", wenn sämtliche Facharztkontakte im Quartal auf einer hausärztlichen Überweisung basierten.


Interview

Im Exklusiv-Interview mit doctors today vertieft Prof. Antonius Schneider, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Klinikum rechts der Isar der TU München, die Aussagen seiner Studie.

doctors|today: Ist es ausnahmslos für alle Patienten kostengünstiger, zunächst einen Hausarzt aufzusuchen?

Schneider: In der Regel trifft dies eindeutig zu, aber eben nicht immer. Für Patienten, die jünger als 30 Jahre sind, kann es auch kostengünstiger sein, wenn sie nicht erst zum Facharzt für Allgemeinmedizin gehen, sondern direkt einen spezialistischen Facharzt aufsuchen. Denn sie haben ja dann altersbedingt zumeist nur ein Problem, das der Spezialist selbst direkt gut lösen kann. Mit steigendem Alter kehrt sich dieser Effekt aber in drastischer Weise um.

doctors|today: Was bedeutet das konkret?

Schneider: Vor allem Patienten ab 60 Jahre und noch stärker ab einem Alter von 75 Jahren müssten in der Regel schon eine ganze Latte von unterschiedlichen Fachärzten aufsuchen, um all ihre gesundheitlichen Probleme zu lösen. Das ist nicht sinnvoll und zudem teuer. Hinzu kommt: Zu viel Medizin ist nicht unbedingt gesund. Wir sehen, dass hausärztlich ungesteuerte und insbesondere ältere Patienten auch vermehrt psychotrope Medikamente einnehmen und fachgleiche Spezialisten doppelt konsultieren. Da ist der Wert eines Hausarztes, der viele Probleme selbst lösen kann und ansonsten die Versorgung koordiniert und strukturiert, durch nichts zu ersetzen.

doctors|today: Welche Optionen bestehen, um die hausärztliche Koordination und Steuerungsfunktion zu stärken?

Schneider: Da würde ich die Stärkung der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) an erster Stelle nennen. Chronisch kranke und ältere Patienten werden über die HzV gesundheitlich besser versorgt und auch vor Überversorgung besser geschützt. Die privaten Krankenkassen haben diese gesamten Vorteile im Übrigen auch schon erkannt. Dort ist es zumeist so, dass die Tarife günstiger ausfallen, wenn man einen Hausarzttarif wählt.

doctors|today: Wie stehen Sie zu der Forderung nach Einführung höherer Beiträge für Facharztbesuche ohne Überweisung?

Schneider: Das wäre eine weitere Möglichkeit. Aber dann droht die Gefahr, dass ein finanziell schlecht gestellter Patient zum Spezialisten müsste, dies aber dann unterlässt und letztlich unterversorgt ist.

doctors|today: Als weitere Möglichkeit würde sich auch die Implementierung günstigerer Tarife bei dann in Kauf zu nehmender geringerer Wahlfreiheit anbieten. Wie stehen Sie dazu?

Schneider: Solche sicher noch ausweitbaren Wahlmodelle mit abgestuften und frei wählbaren Versicherungstarifen wären deutlich weniger interventionistisch als gesetzlich festgelegte Gebühren für einen Facharztbesuch ohne Hausarzt-Überweisung, wie das ja bei der Praxisgebühr der Fall war. Denn immerhin hätte jeder Patient hier die freie Wahl für seinen individuellen Tarif. Dann müsste gelten: Lieber Patient, wenn du immer zuerst zu deinem Hausarzt gehst, dann kriegst du auch den günstigeren Tarif.

doctors|today: Warum ist denn aber die hausärztliche Arbeit so wertvoll? Konnten Sie das auch in Ihren Studien herausarbeiten?

Schneider: Es sind vier wesentliche Kernelemente, auf die wir immer wieder in unseren Forschungsarbeiten stoßen. Das ist die Koordination der Versorgung, die Langzeitbeziehung zum Patienten, das bio-psycho-soziale Verständnis des Patienten und die Niederschwelligkeit der Versorgung. Insbesondere die Langzeitbeziehung und das umfassende Verständnis sind ein Markenkern der Allgemeinmedizin und helfen uns bei der effektiven und effizienten Versorgung der Patienten.

Das Interview führte doctors today-Mitarbeiter Raimund Schmid



Autor
Raimund Schmid


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (3) Seite 25-27