Die Corona-Pandemie ist in ihrem dritten Jahr und die Strategie, das Virus zurückzudrängen oder gar auszurotten, scheint gescheitert. Alle Expert:innen sind sich inzwischen einig, dass eine dauerhafte Herdenimmunität nicht erreichbar ist, unter anderem, da das Virus in manchen Menschen längere Zeit oder sogar dauerhaft überlebt und sich durch Mutationen ständig verändert. Ein aktuelles Positionspapier macht nun Vorschläge, wie in Zukunft ein Leben mit diesen Coronaviren möglich ist. Wir stellen es zur Diskussion.

Warum ist es an der Zeit, den "Sieg über Corona" als unerreichbar zu erkennen und über ein "Leben mit Corona" nachzudenken? Die Autoren liefern dazu eine Reihe von Argumenten, die wir hier leicht gekürzt wiedergeben. Manches davon ist von der Realität bereits überholt worden:

  1. Das Virus hat mit Gesunden, Erkrankten und auch Tieren drei Reservoirs, aus denen es nicht komplett eliminiert werden kann.
  2. Das Virus mutiert ständig und mitunter an kritischen Stellen, die seine Infektiosität und krankmachende Wirkung betreffen können.
  3. Die durch die Impfung erzielte Immunität nimmt mit der Zeit ab. Bei der Immunität durch eine Infektion ist das noch unklar. Vermutlich ist die Immunantwort auf eine Infektion umfangreicher.
  4. Die Weitergabe eines Atemwegsvirus wie SARS-CoV-2 kann jedoch nicht dauerhaft verhindert werden. Ähnlich wie bei der Influenza ist auch keine Herdenimmunität zu erreichen.
  5. Bei manchen Erkrankten wird ein PCR-Test erst nach 1–3 Tagen positiv, insbesondere dann, wenn die Viren direkt (unter Umgehung der Nase) in die Lunge eingeatmet wurden.
  6. Die Impfung muss, ähnlich wie bei Influenza, jährlich an die wichtigsten Mutationen angepasst werden.
  7. Verschiedene Regeln, die derzeit gelten, sind überflüssig, nicht nachvollziehbar und müssen überarbeitet werden.

Sie führen in der Bevölkerung zu Müdigkeit, Frustration und Zweifel:

  • Meldeinzidenzen der Infektionen (Zahl der positiv Getesteten) korrelieren nicht mehr oder nur gering mit der Häufigkeit schwerer Verläufe: So steigt beispielsweise die Meldeinzidenz seit dem 1. Januar 2022 kontinuierlich an. Die Anzahl der intensivpflichtigen Patienten nimmt aber täglich ab oder stagniert.
  • Da weniger als 1 % der Infektionen im Freien stattfinden, kann man Maßnahmen, wie das Tragen von Masken draußen, sofort abschaffen, ohne ein Risiko einzugehen.
  • Maßnahmen für Innenräume sollten angepasst werden, z. B. in der Gastronomie: In Restaurants gilt das Tragen von Masken beim Betreten und das Abnehmen der Masken am Tisch, obwohl die sehr kleinen virushaltigen Aerosole über die Ausatmung verbreitet werden und sich im Raum nach kurzer Zeit verteilen. Deswegen sind wahrscheinlich auch alle Plexiglasscheiben und Visiere wirkungslos.
  • Die komplizierten G-Regeln ändern sich zu schnell und sind in Einzelfällen widersprüchlich, vor allem aber sind sie zum Teil wissenschaftlich nicht abgesichert oder widersprechen sogar den Studienergebnissen. Dies gilt z. B. auch für die Verkürzung des Genesenen-Status.
  • Unser Arbeitskreis hat verschiedene Möglichkeiten zum Infektionsschutz konkret erarbeitet (https://www.sokrates-rationalisten-forum.de/relevante-hygienemassnahmen-bei-der-coronapandemie). Nach Wegfall der Gebote und Verbote verbleiben für jeden Einzelnen und auch für Veranstalter etc. eine Reihe von Optionen, den Infektionsschutz für sich selbst oder für Gäste zu erhöhen.
  • Die Pandemie lässt auch die Müllberge wachsen, insbesondere die Plastikmüllberge z. B. durch die extensive Nutzung von Masken, Schnelltests, Impfspritzen.

Leben mit Corona statt Kampf gegen Corona

Oberstes Ziel dieser neuen Strategie sollte sein, vor allem die vulnerablen Gruppen zu schützen, Todesfälle durch das Virus zu verhindern, eine nach transparenten Kriterien nachvollziehbare Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden und die Funktion der Infrastrukturen aufrechtzuerhalten. Gerade die Umstellung auf "Leben mit Corona" erfordert von allen Beteiligten mehr Mut und Handlung als der aussichtslose und populistische "Kampf gegen Corona". Dazu zählen verschiedene tiefgreifende Umstrukturierungen:

  1. Das derzeitige Monitoring von Infektions-Inzidenzen ist zu beenden. Wirkliche Inzidenzen sind nur durch Stichprobenuntersuchungen herauszufinden. In Deutschland beeinflussen die jeweiligen Bestimmungen (2G, 3G, +/- Testung) das Testverhalten und damit nicht nur die Inzidenz, sondern auch das Erkrankungsrisiko. Benötigen z. B. geboosterte Personen keinen Test für bestimmte Bereiche, werden in dieser Gruppe weniger Infektionen registriert. Diese Gruppe hat aber das geringste Hospitalisierungsrisiko, was dazu führt, dass die wirkliche Hospitalisierungsrate überschätzt wird.
  2. Davon unberührt bleibt das diagnostische Testen bei Symptomen.
  3. Alle bisherigen Maßnahmen müssen auf den Prüfstand. Welche Maßnahme hat welche Wirkung? Die unwirksamen und wenig wirksamen, aber belastenden Maßnahmen sind zu beenden. Nachweislich nützliche Maßnahmen werden nur bei hohen Hospitalisierungsinzidenzen in Kraft gesetzt.
  4. Es wird eine Kohorte (repräsentative Gruppe) aufgebaut, ähnlich dem Influenza-Sentinel, über die das Infektionsgeschehen, die Krankheitslast und auch die Virus-Mutationen dauerhaft beobachtet werden können.
  5. Umstrukturierung des Meldewesens. Dazu zählen die zentrale Erfassung der Impfungen, der mit Impfungen assoziierten Erkrankungen ebenso wie ein Erfassen der Infizierten mit Trennung der Erkrankungen, bei denen das Virus nur nachgewiesen wurde, ohne ursächlich zu sein. Abbau der parallelen Meldestrukturen von Land und Bund und Aufbau eines einheitlichen Systems. Da aber ein solches System sehr aufwendig und allein durch die Größe fehlerbehaftet ist, wäre zu prüfen, ob 3–4 repräsentative Kohorten (siehe Punkt 4), verteilt über Deutschland, nicht effektiver sind.
  6. Umstrukturierung der Meldungen aus den Krankenhäusern, vor allem aus den Intensivbereichen, damit erkennbar wird, welche medizinischen Leistungen direkt Folge einer Erkrakung durch das Virus sind. Der Meldeaufwand erhöht sich dadurch nicht, weil es über das DRG-System abgebildet werden kann.
  7. Änderung der intensivmedizinischen Strukturen. Aufbau von reinen Überwachungsstationen, ähnlich IMC (= intermediate care). Diese sind besonders für infektiöse Patienten geeignet, die eine andere Betreuungs- und Personalstruktur benötigen. Sie sind weniger kostenintensiv als eine klassische Intensivstation.
  8. Der Versorgungsaufwand der COVID-Patienten im Krankenhaus soll durch zusätzliche Prozeduren (OPS) transparenter erfasst werden, wobei sich auch der Schweregrad, insbesondere auf der Intensivstation und den Überwachungsstationen, widerspiegeln soll. Durch diese Änderungen, die sich in den Erlösen abbilden müssen, sollen auch Über- und Fehlversorgung sowie falsche Anreize vermieden werden.

FAZIT: Leben mit Corona statt Kampf gegen Corona
Die Autoren des Positionspapiers glauben, dass mit all diesen Maßnahmen, ein "Leben mit Corona" leichter zu vermitteln ist, denn
  • langfristig vermittele Ehrlichkeit, gepaart mit Nachvollziehbarkeit und Transparenz, habe die größte Glaubwürdigkeit,
  • die Umsetzung adäquater Reformen bewirke Anerkennung, was viele Bürger dazu veranlasst, sich eigenverantwortlich mehr zu engagieren,
  • oberstes Ziel der Maßnahmen sollte sein, ein möglichst normales Leben zu garantieren. Insbesondere müsse wieder mehr die Verhältnismäßigkeit in den Vordergrund rücken. Die pandemiebestimmten Einschränkungen hätten an vielen Stellen soziale, gesundheitliche und finanzielle Nachteile erzeugt, möglicherweise sogar Todesfälle. Diese Nachteile müssten ebenfalls im Sinne einer Güterabwägung ideologiefrei berücksichtigt werden.



Autor
Dr. med. Thomas Hausen

Die Unterzeichner des Positionspapiers:
Dr. phil. nat. Gerhard Scheuch (Physiker mit Schwerpunkt Aerosolmedizin)
Dr. med. Thomas Voshaar (Chefarzt, Lungen- und Thoraxzentrum Moers; Vorsitzender des Verbandes Pneumologischer Kliniken e.V.)
Prof. Dr. med. Dieter Köhler (ehemaliger Direktor Klinikum Kloster Grafschaft, Schmallenberg)
Prof. Dr. rer. nat. Gerd Antes (Mathematiker und Medizinstatistiker, Universität Freiburg)
Dr. med. Thomas Hausen (Hausarzt im Ruhestand)
Dr. med. Patrick Stais, LL.M., MHBA (Pneumologe, Lungen- und Thoraxzentrum Moers)
Priv. Doz. Dr. med. Dominic Dellweg (Pneumologe, Klinikum Kloster Grafschaft, Schmallenberg)


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (4) Seite 28-29