Hausärzt:innen sind in ihrer Praxis regelmäßig mit einer großen Zahl an Krankheitsbildern und Symptomen konfrontiert. Um zielgerichtet bei der Einordnung von Leitsymptomen Hilfestellung zu leisten und damit eine effektive, möglichst unverzögerte Diagnosestellung zu ermöglichen, existiert inzwischen ein großes Angebot an Diagnosealgorithmen. Doch werden diese von Hausärzt:innen auch genutzt und welche Erfahrungen haben sie mit ihnen gemacht?

Das hausärztliche Versorgungsgeschehen ist durch eine große Bandbreite von Beschwerdebildern und Krankheiten gekennzeichnet, oftmals in einem frühen und nicht selten undifferenzierten Stadium [1]. Umso mehr kommt es darauf an, eine breite Palette von Entscheidungsfindungsstrategien einzusetzen, die im hektischen Praxisalltag eine rasche Orientierung hin zu einer effektiven Diagnosestellung ermöglichen [2, 3]. Ein Instrument sind dabei sogenannte Diagnosealgorithmen, die z. B. bei der Erstdiagnose, bei komplexen oder seltenen Krankheitsbildern sowie der konsequenten Verlaufskontrolle als Entscheidungshilfe dienen können [4].

Ausgehend von einer bestimmten Symptomatik schlägt der Algorithmus vorstrukturierte Abklärungspfade vor, die üblicherweise in Form von Flussdiagrammen Handlungsempfehlungen für eine sorgfältige Anamnese sowie eine systematische Differenzialdiagnostik (Labor, Bildgebung, abwartendes Offenhalten bzw. Überweisung, Interventionen u. a.) geben [4–6]. Im Sinne einer Stufendiagnostik z. B. durch Vorgaben zum abwartenden Offenhalten können diagnostische Algorithmen helfen, die Unsicherheit im hausärztlichen Setting (Niedrigprävalenzbereich) zu reduzieren [7–9].

Die Zielsetzungen und Schwerpunkte von Algorithmen differieren je nach Symptombereich und Anbieter [12]. So kann etwa ein Diagnosepfad zur Abklärung unklarer Leberwerterhöhungen sein Augenmerk auf bestimmte Blutwertparameter richten, darüber hinaus aber auch die Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzt:innen strukturieren, indem die Hausärzt:in konkrete Vorschläge erhält, unter welchen Bedingungen kontrolliert zuzuwarten und wann eine Überweisung zur Fachärzt:in oder eine Spezialambulanz angezeigt ist [11].

Doch welchen Stellenwert haben solche Abklärungs- und Handlungsschemata im ambulanten Bereich [13–17]? Antworten darauf liefert eine Online-Befragung von insgesamt 3.110 Hausärzt:innen durch das Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie der Universitätsmedizin Mainz.

Hausärzt:innen sehen Potenzial

Demnach halten 68 % der Befragten Diagnosealgorithmen grundsätzlich für eher nützliche Hilfsmittel im Praxisalltag. 59 % sprechen sich dafür aus, Algorithmen im Verdachtsfall zu verwenden; 55 % halten ihren Einsatz bei Spezialdiagnosen wie z. B. seltenen Krankheiten für sachdienlich. Eine Verwendung von Algorithmen halten zudem 41 % bei der Erstdiagnose, 40 % in Notfallsituationen, 30 % zu Screeningzwecken und 18 % zur Verlaufskontrolle für sinnvoll.

Eine Detailbetrachtung der Antworten zeigt, dass die Befragten prinzipielle Vorteile von Diagnosealgorithmen wahrnehmen, insbesondere mit Blick auf ein zielgerichtetes diagnostisches Vorgehen und die Verbesserung der Kooperation zwischen den Versorgungsebenen. Bei rund der Hälfte bestehen Unsicherheiten in Bezug auf die Auswahl und Qualität einzelner Algorithmen. Zudem wird eine nicht immer gegebene hausarztkonforme Anwendungsnähe moniert, wodurch im zeitkritischen Praxisalltag ein Einsatz von Algorithmen nicht immer möglich sei (vgl. Tabelle 1).

Aus diesem Grund wurde auch abgefragt, welche Anforderungen Hausärzt:innen an diagnostische Algorithmen stellen. An erster Stelle steht hier, dass diese einfach und effizient anwendbar sind und über die Benennung von klaren Warnzeichen die systematische Eingrenzung möglicher Krankheitsbilder auf dem Weg zu einer (Verdachts-)Diagnose ermöglichen. Auch spricht sich eine Mehrheit dafür aus, solchen Algorithmen den Vorzug zu geben, deren Nutzen empirisch bewiesen wurde. Bedeutung hat auch eine für die Hausärzt:in kostendeckende Ausrichtung von Algorithmen (vgl. Tabelle 2).

Überwiegend gute Erfahrungen mit Diagnosealgorithmen

46 % der Befragten geben an, Diagnosealgorithmen im Praxisalltag häufig oder gelegentlich einzusetzen (35 % selten, 19 % nie). Diejenigen Befragten, die Algorithmen häufig, gelegentlich oder selten einsetzen, haben nach eigener Angabe im Praxisalltag bislang überwiegend eher gute oder sehr gute Erfahrungen mit ihrem Gebrauch gemacht (71 %); 15 % berichteten über eher schlechte Erfahrungen.

Im Zuge einer offenen Frage wurde erhoben, für welche Symptombereiche Diagnosealgorithmen schon einmal eingesetzt werden. Am häufigsten angegeben werden Brustschmerz (54 %), Herzerkrankungen (v. a. KHK, Infarkt; 52 %), Schwindel (48 %), Thrombosen (45 %) und Bauchschmerzen (36 %).

Ein übersichtliches Feld besser ordnen

Ein gewisses Maß an diagnostischer Unsicherheit ist ein ständiger Begleiter in der hausärztlichen Entscheidungsfindung, insbesondere unter den Bedingungen von Zeit- und Ressourcenknappheit. Daher bedarf es Strategien, die Palette an möglichen Diagnosen effektiv einzugrenzen und gefährliche Krankheitsverläufe frühzeitig zu erkennen, ohne den Patienten mit unnötigen Untersuchungen zu belasten. Aus Sicht der befragten Hausärzt:innen können Diagnosealgorithmen ein nützliches In-
strument sein, um diesem Ziel Rechnung zu tragen. Besondere Potenziale werden v. a. in der Sicherstellung eines einheitlichen, konsequenten diagnostischen Vorgehens und der besseren Nachvollziehbarkeit von Diagnosewegen gesehen. Allerdings fällt auf, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Befragten Vorbehalte und Skepsis gegenüber den derzeit für die hausärztliche Versorgung angebotenen Algorithmen hat [18–39]. Viele sind unsicher, welcher Algorithmus belastbar und vertrauenswürdig ist. Aus Sicht der Befragten ist eine praxisgerechte, für die hausärztliche Versorgung angepasste Anwendung und zudem Kosten-berücksichtigende Handlungsempfehlung häufig nicht gegeben.

Bei der Entwicklung neuer Diagnosealgorithmen, die z. B. der Effektivierung der Zusammenarbeit der verschiedenen Versorgungsebenen zugute kommen sollen, sollte daher darauf geachtet werden, eine möglichst große Hausarztkonformität herzustellen. Dies kann etwa durch die verstärkte Einbeziehung von Allgemeinmediziner:innen selbst gelingen. Zugleich sollte sichergestellt sein, dass die vorgeschlagenen Diagnoseschritte kostendeckend sind. Angesichts einer feststellbaren Tendenz, dass vonseiten verschiedener Akteure im Gesundheitswesen (Fachgesellschaften, Krankenkassen, Pharmaindustrie, medizinnahe Stiftungen etc.) immer häufiger Algorithmen an Hausärzt:innen herangetragen und Versuche unternommen werden, das hausärztliche Handeln zu homogenisieren, sollte darauf geachtet werden, dass Algorithmen nicht zu einer Einengung der Therapiefreiheit von Hausärzt:innen führen. Vielmehr sollten sie die individuellen Handlungsspielräume für Hausärzt:innen erhalten. Nur so werden sie unter Allgemeinmediziner:innen ausreichend Akzeptanz finden und einen Mehrwert für die hausärztliche Versorgung bieten können.


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Autor

Dr. Julian Wangler

Prof. Dr. Michael Jansky
Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie
UNIVERSITÄTSMEDIZIN Mainz
55131 Mainz
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert

Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (1) Seite 26-28