Der 126. Deutsche Ärztetag tagte in diesem Jahr in Bremen und diskutierte über eine Vielzahl von gesundheitspolitischen Fragen. Breiten Raum nahmen vor allem die Themen Digitalisierung und Kommerzialisierung der Medizin ein. In seiner Eröffnungsrede ging Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt auch noch auf die schon lange erwartete Novellierung der GOÄ ein. Er überreichte dem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ein erstes gedrucktes Exemplar der neuen GOÄ.

Mit diesem symbolischen und zugleich provokativen Akt verband der BÄK-Chef wohl die Hoffnung auf eine womöglich positive Reaktion des Gesundheitsministers zu einem lange schon schwelenden Problem zu entfachen. Tatsächlich stammt die derzeit gültige GOÄ aus dem Jahr 1982 und ist im Jahr 1996 lediglich teilnovelliert worden. Die GOÄ sei völlig veraltet und bilde weder die Dynamik des ärztlichen Leistungsspektrums noch die aktuelle Kosten- und Preisentwicklung ab, dies führe zu großen Verunsicherungen, unnötigen Rechtsstreitigkeiten und Bürokratie – bei Ärzt:innen, Patient:innen und Krankenkassen. "Aus unserer Sicht ist das ein unhaltbarer Zustand", meinte Reinhardt. Schließlich habe die Bundesärztekammer (BÄK), der Verband der Privaten Krankenversicherung und die Beihilfe in jahrelanger intensiver Arbeit einen gemeinsamen Vorschlag entwickelt, der jetzt nur noch von der Politik umgesetzt werden müsse.

Neue GOÄ kommt wohl so schnell nicht

Die Erwartungen an Minister Lauterbach waren schon zuvor nicht sehr hoch, wurden dann aber noch unterboten. Lauterbach wog das Konvolut in seinen Händen und meinte dazu lediglich, dass dies wohl eher kein gutes Beispiel für die von allen immer wieder angestrebte Entbürokratisierung sei. Am Ende seiner Ansprache ging Lauterbach dann noch einmal kurz auf die GOÄ-Novelle ein und versprach, diesen Entwurf vorurteilsfrei zu prüfen. Er gab aber gleich zu bedenken, dass sich die Ampelkoalition darauf geeinigt habe, das Gleichgewicht zwischen GKV und PKV nicht zu verschieben, der Spielraum sei also eng. Wenn man weiß, dass Karl Lauterbach ein Anhänger der Bürgerversicherung ist, muss man aus seinen etwas verklausulierten Äußerungen entnehmen, dass die GOÄ-Novelle auf seiner Prioritätenliste nicht sehr weit oben angesiedelt sein dürfte.

Digitalisierung hat Potenzial …

Nach dieser Abfuhr widmeten sich die Abgeordneten einem weiteren leidigen Thema mit hohem Handlungsbedarf: der Digitalisierung. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz seien zumindest schon mal Anreize und Finanzhilfen für den Ausbau digitaler Strukturen im stationären Sektor umgesetzt, lobte Reinhardt. Mit Leben gefüllt werde die Digitalisierung aber nur, wenn sie auch dort gefördert wird, wo digitale Anwendungen tagtäglich millionenfach zum Einsatz kommen sollen, in den vertragsärztlichen Praxen, mahnte der BÄK-Chef. Man brauche deshalb analog zum Krankenhauszukunftsgesetz ein Praxiszukunftsgesetz. Das bedeute nicht, dass Ärzt:innen nach staatlichen Hilfen rufen würden, um ihr internes digitales Praxismanagement auf den neuesten Stand zu bringen. "Als Freiberufler in eigener wirtschaftlicher Verantwortung brauchen und wollen wir dafür keine staatliche Unterstützung", so Reinhardt. Es gehe vielmehr um den interoperablen Ausbau des ambulanten Sektors im Sinne der digitalen Vernetzung und Kommunikation mit anderen Versorgungsbereichen und zwischen den Praxen. Dafür seien enorme Investitionen notwendig. Und die dürfe man unmöglich den Praxisinhaber:innen allein aufbürden. Hierfür halte man Finanzhilfen von Bund und Ländern nicht nur für gerechtfertigt, sondern auch für dringend geboten.

… aber nur, wenn sie auch funktioniert

Die Digitalisierung hab ein enormes Potenzial, die Patientenversorgung zu verbessern und den Arbeitsalltag in Praxen und Kliniken zu erleichtern. "Darüber und über den notwendigen Fortschritt, den wir in diesem Zusammenhang in Deutschland brauchen, besteht in der Ärzteschaft kein Zweifel", machte Reinhardt deutlich. Aber auch hier gelte, dass sich alle politischen Maßgaben an den Bedürfnissen von Patient:innen sowie an den professionellen Anforderungen von Ärzt:innen orientieren müssten. Nicht alle Ärzte seien IT-Experten. Der Umgang mit digitalen Anwendungen müsse also intuitiv sein. Die Anwendungen müssten dauerhaft störungsfrei und sicher im Praxisalltag funktionieren, so die Forderung des BÄK-Präsidenten.

Es sei das Gegenteil von verantwortungsbewusster Gesundheitspolitik, wenn nicht ausreichend getestete Anwendungen auf Biegen und Brechen eingeführt werden, nur damit die politisch Verantwortlichen einen Haken auf ihrer To-do-Liste machen können. Denn sonst laufe man große Gefahr, die Akzeptanz bei Ärzt:innen für digitale Anwendungen zu verspielen, wenn die neue Technik nicht praxisreif ist. "Wir können es uns nicht leisten, dass ältere Kolleg:innen aus Frust wegen unausgereifter digitaler Technik noch früher als geplant aus der Versorgung aussteigen. Das müssen wir unter allen Umständen vermeiden", mahnte Reinhardt.

Gründlichkeit muss vor Geschwindigkeit gehen

Geschwindigkeit dürfe nicht vor Gründlichkeit gehen. Genau das hätte man aber in den letzten Jahren – insbesondere mit Blick auf die Einführung des eRezepts – immer wieder moniert. Dabei gehe es nicht um die Anwendung an sich. Das eRezept habe aus seiner Sicht enormes Potenzial, die Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland weiter zu verbessern und die Abläufe in den Praxen sowie zwischen den Sektoren zu vereinfachen. Aber die Technik müsse eben auch funktionieren. Die Ergebnisse der bisherigen Testphase seien in dieser Hinsicht eher niederschmetternd. Wichtig sei, dass weitere intensive Tests in einer dauerhaft betriebenen Testregion unter realen Bedingungen durchgeführt werden. Insofern sei es erfreulich, dass die gematik nun sogenannte Quality-Gates beschlossen hat, bevor es zu einem bundesweiten Rollout mit verpflichtender Nutzung kommt. Darin heißt es, dass alle technischen Dienste der Telematikinfrastruktur fehlerfrei zur Verfügung stehen müssen und die Nutzerfreundlichkeit der an den Tests beteiligten Leistungserbringer evaluiert wird. Erst wenn diese und weitere Kriterien von den Gesellschaftern als erfüllt angesehen werden, soll es zu einer flächendeckenden Nutzung des eRezepts kommen. Die Ärzteschaft erwarte von Minister Lauterbach, dass Anwendungen nur dann verpflichtend zum Einsatz kommen, wenn diese tatsächlich und nachweislich ausgetestet sind und ihre Alltagstauglichkeit bewiesen haben. Alles andere würde das Vertrauen der Ärzteschaft in die Digitalisierungskompetenz des BMG nachhaltig stören.

Warnung vor wachsenden Kapitalinteressen in der Medizin

Darüber hinaus dürfe sich der Ausbau digitaler Strukturen in unserem Gesundheitswesen nicht an den Marktinteressen von Tech-Konzernen und sogenannten digitalen Plattformanbietern orientieren, warnte der BÄK-Präsident. Das gelte auch für alle anderen Bereiche unseres Gesundheitswesens. Preiswettbewerb, Kosteneffizienz und Renditestreben begännen mehr und mehr den ärztlichen Alltag zu bestimmen.

Ärzt:innen werden von Klinik- und Kostenträgern und vor allem auch von kapitalgetriebenen Fremdinvestoren im ambulanten Bereich zunehmend angehalten, in rein betriebswirtschaftlichen Dimensionen zu denken und nach kommerziellen Vorgaben zu handeln. In der ambulanten Versorgung steige die Anzahl fremdfinanzierter Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) sowie die Zahl der dort angestellten Ärzt:innen stetig an.

Renditen dürfen nicht das Ziel sein

Ein Gutachten des IGES-Instituts im Auftrag der KV Bayerns habe kürzlich offenbart, dass in Bayern bereits 10 % der MVZ in Private-Equity-Hand sind. Und über alle Fachrichtungen hinweg betrachtet liegen die Honorarvolumina in Private Equity-geführten MVZ deutlich höher als in Einzelpraxen. Es könne nicht sein, dass die Versorgung mehr und mehr denjenigen überlassen wird, deren primäres Ziel es ist, für ihre Kapitalinvestoren möglichst hohe Renditen zu erwirtschaften. "Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Gesundheitssystem in ein profitorientiertes Franchise-System umgewandelt wird", mahnte der Ärztepräsident.

Die Ärzteschaft warne seit vielen Jahren vor den negativen Folgen zunehmender Kommerzialisierung der Versorgung. Seit dem letzten Ärztetag, bei dem man sich schon sehr intensiv mit dieser Thematik befasst hatte, habe man zumindest in Teilen der Politik ein Bewusstsein dafür geschaffen, das Mantra von mehr Markt und Wettbewerb kritisch zu hinterfragen. Jetzt müssten dieser Einsicht allerdings auch Taten folgen, forderte Reinhardt.

Doch der Ärztetag hat noch eine ganze Reihe weiterer Beschlüsse getroffen. Einige seien hier noch kurz zusammengefasst:

Keine Impfungen in Apotheken

Als Lehre aus der Corona-Pandemie fordert der Deutsche Ärztetag die Einführung eines bundesweiten zentralen Impfregisters. Mit dem Register sollen sowohl valide Daten über die Impfquote ermittelt als auch Erkenntnisse über die Sicherheit und Wirksamkeit von Impfstoffen gewonnen werden. In einem weiteren Beschluss spricht sich der Ärztetag klar gegen Impfungen in Apotheken aus. Mögliche Komplikationen müssten beherrscht werden. Auch weitere Kenntnisse über die Impfungen, zum Beispiel bei Schwangeren oder chronisch Erkrankten, und die unterschiedlichen Formen von Autoimmunerkrankungen setzten eine entsprechende ärztliche Aus-, Weiter- und Fortbildung voraus. "Diese Kenntnisse können nicht im Rahmen ärztlicher Schulungen vermittelt werden", so der Ärztetag.

Praxen entlasten

Der Ärztetag fordert eine generelle Entbudgetierung in der ambulanten Versorgung und sofortige Umsetzung der Entbudgetierung im hausärztlichen Bereich.

Krankenkassen sollen bei unbegründeten Wirtschaftlichkeitsprüfungen oder Abrechnungsprüfungen eine pauschale Aufwandsentschädigung von 300 Euro je Fall zahlen.



Autor
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (9) Seite 25-27