Man kann sich eigentlich nur wundern, dass sich jetzt alle wundern. Der Grund: Alle AOK-Kassen müssen im ersten Halbjahr 2021 ein Defizit von satten 1,6 Mrd. Euro hinnehmen. Allein im 2. Quartal sind die Ausgaben im Vergleich zum Vorquartal um fast 10 % in die Höhe geschossen. Ende 2021 könnte sich so ein Defizit von mehr als 4 Mrd. Euro bei den Ortskassen ergeben. Auch die Innungs- und Betriebskrankenkassen schreiben rote Zahlen. Dagegen schnellen die Leistungsausgaben zum Teil zweistellig in die Höhe.

Doch das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kommt nicht überraschend. Denn die beiden jüngsten Gesundheitsminister Hermann Gröhe und Jens Spahn haben eine Flut von Gesetzen auf den Weg gebracht, die jetzt ihren finanziellen Tribut fordern. Vieles davon war überfällig, um die Versorgung zu verbessern. So zum Beispiel die Leistungsausweitungen in der ambulanten Versorgung und die Abkehr von der reinen DRG-Finanzierung in den Krankenhäusern. Hinzu kommen die ohnehin anschwellenden Kostenströme aufgrund der Alterung der Gesellschaft und des medizinisch-technischen Fortschritts sowie die milliardenschweren pandemiebedingten Mehrkosten.

Damit zeichnet sich in der GKV schon jetzt für 2022 ein Defizit ab, das mit dem bisher versprochenen zusätzlichen Steuerzuschuss von 7 Mrd. Euro in keiner Weise aufgefangen werden kann. Das Berliner IGES Institut hat für das Jahr 2025 sogar eine Finanzierungslücke von bis zu 35 Mrd. Euro errechnet. Und an der Beitragsschraube kann nicht weitergedreht werden. Denn die Große Koalition hat auf Basis ihrer Sozialgarantie zugesagt, dass die Beiträge für die Sozialversicherungen die 40 %-Grenze nicht überschreiten dürfen und der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz nicht über 1,3 % steigen soll. Der müsste aber bereits 2023 auf mindestens 2,3 % angehoben werden.

Politik sollte über andere Finanzierungsstrukturen nachdenken

Wenn diese Option ausscheidet, bleibt als ein Ausweg, den Bundeszuschuss für 2022 deutlich zu erhöhen. Und die Politik muss ans Eingemachte gehen. Das bedeutet zum einen, die versicherungsfremden Leistungen ins Visier zu nehmen, die immer noch bei den Kassen mit 40 Mrd. Euro pro Jahr zu Buche schlagen. Als versicherungsfremd gelten beitragsfreie Mitversicherungen von Kindern und Ehepartnern, aber auch das Erziehungs- und Mutterschaftsgeld sowie die nicht kostendeckenden Beiträge der Arbeitsämter für die Bezieher:innen von Arbeitslosengeld II. Zum anderen sollte die Politik ernsthaft über andere Finanzierungsstrukturen (Bürgerversicherung) oder Versorgungsmodelle (mehr Selektivverträge) vorurteilsfrei neu nachdenken. Da muss man sich wirklich wundern, warum das alles nicht geschieht. Wenn die Löcher bei den Krankenkassen immer größer werden, wird die Politik handeln müssen. Besser früher als später, weil es dann zu spät sein könnte,


...fürchtet Ihr

Raimund Schmid


Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (9) Seite 31