Abstand halten! Das ist die Devise, nach der wir im Jahr 2020 gelebt haben und noch leben. Diese Arznei ist politisch verordnet worden, aber auch hier hat das Medikament Kontaktarmut Nebenwirkungen. So sind allein bei der Hamburger Telefonseelsorge während des ersten Lockdowns rund 30 % mehr Anrufe eingegangen als sonst. "Viele Anrufe sind Ausdruck tiefer Einsamkeit von Menschen", sagt das Diakonische Werk in Hamburg. Bei den Telefonseelsorgestellen dreht sich bei jedem vierten Gespräch alles um Alleinsein oder Einsamkeit. Die Nebenwirkung Einsamkeit wird sich dann auch rasch in den Praxen von Allgemeinärzt:innen bemerkbar machen.

Einsamkeit befeuert Ängste

Der Zukunftsforscher Horst Opaschowski warnt schon seit Langem vor den Folgen zunehmender Einsamkeit. Die Corona-Pandemie könnte jetzt gar zu einer Epidemie der Einsamkeit werden. Opaschowski hat gar festgestellt, dass die Sorge vor der Vereinsamung mittlerweile fast genauso verbreitet ist wie die Angst vor der Altersarmut. Beim ersten Lockdown sahen 84 % die Kontaktarmut als genauso bedrückend wie die Geldarmut an. Anfang 2019 waren dies nur 61 %. Viele Menschen haben sich in der Pandemie also noch deutlich weiter voneinander entfernt als die heute allgemeingültigen 1,5 Meter Abstand. Und jetzt steht die Advents- und Weihnachtszeit und die gefühlsmäßig nicht minder bedeutende Zeit des Jahreswechsels bevor. Einem Weihnachten in Einsamkeit hatte die Kanzlerin noch Anfang November eine klare Absage erteilt. Vielleicht schaffen wir das. Doch in der Zeit davor und insbesondere danach droht Tristesse pur und gerade alten Menschen ein möglicher Rückzug in eine weitgehende Isolation. Mit gravierenden Nebenwirkungen, wie Bundespsychotherapeutenkammer-Präsident Dietrich Munz voraussagt: "Neben Depressionen und Angststörungen, akuten und posttraumatischen Belastungsstörungen können auch Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, Zwangsstörungen und Psychosen zunehmen."

Hausärzt:innen sind gefordert

Keine guten Nachrichten speziell für die Allgemein-
ärzt:innen, bei denen all diese Krankheitsfolgen der Pandemie zunächst einmal aufschlagen. Um zu vermeiden, dass die verbreitete Angst vor Einsamkeit gerade bei älteren Menschen in eine Angst münden könnte, wegen Corona alleine sterben zu müssen, müssen die Hausärzt:innen nicht nur ihr gesamtes medizinisches Know-how in die Waagschale werfen, sondern nun auch stärker ihre sozialmedizinische Kompetenz unter Beweis stellen. Denn gegen Depressionen und Angststörungen, die von Einsamkeit ausgelöst werden, helfen nicht nur passende Psychopharmaka, sondern in erster Linie das Medikament Ärzt:in und die Ärzt:in als Mensch. Dafür muss diese aber viel Zeit für Gespräche mitbringen, die sie in der Regel nicht hat und die ihr bisher keiner bezahlt. Vielleicht führt Corona aber hier nun endlich zu einem Umdenken, das auch vor der Pandemie schon längst überfällig gewesen wäre, hofft ihr


Raimund Schmid


Erschienen in: doctors|today, 2020; 1 (1) Seite 34