"Vision Zero" (vision-zero-oncology.de) hat sich zum Ziel gesetzt, die Zahl der vermeidbaren krebsbedingten Todesfälle signifikant abzusenken − und idealerweise gegen null zu bringen.

Erfolgreiche Vorbilder (Straßenverkehr, Arbeitsplatz oder Luftfahrt) konnten die Zahl der Verkehrstoten in den letzten Jahrzehnten um mehr als 90 % senken, bei starker Zunahme des Verkehrsaufkommens. Dies gelang, indem sich die Gesellschaft entschlossen hat, keinen Todesfall – entstanden durch einen Unfall – mehr zu akzeptieren und mit breit angelegten, landesweiten Vision-Zero-Strategien diese Unfallzahlen konsequent Richtung 0 zu bewegen. Prof. Dr. Christof von Kalle von der Charité und dem BIH in Berlin erklärt, wie die Übertragung dieser Idee auf die Onkologie gelingen kann.

Wo stehen wir aktuell?

Christof von Kalle: "Wir haben in Deutschland mehrere Krebsvorsorgeuntersuchungen als essenziell identifiziert. Ihre Durchschlagskraft ist jedoch noch begrenzt. Anders als im Straßenverkehr findet Prävention in der Onkologie auf rein freiwilliger Basis statt – eine zentrale Strategie, klare Zuständigkeiten oder gar ein vergleichbares Budget existieren nicht. Es gibt keinen zentralen Präventionsverantwortlichen im Gesundheitswesen oder nationalen Präventionsplan. Man kann es fast als "Feierabendsport" für Gastroenterologen beschreiben, wenn diese dafür Sorge tragen, dass die Darmkrebsraten nicht durch die Decke gehen. Sie können diese Vorsorgeleistung abrechnen, aber wie sieht es z. B. mit dem Datenaustausch und -transfer zur Hausarztpraxis aus? Nehmen wir eine Patient:in Mitte 30, mit familiärer Vorgeschichte für eine Krebserkrankung, welche aber hierzulande nicht systematisch in der Hausarztpraxis erhoben wird. Wir verfügen beim Thema Prävention in Deutschland über keinen systematischen Ansatz, um den Worten auch Taten folgen zu lassen.

Wenn man sich insbesondere die Primärprävention hierzulande anschaut, sieht es düster aus. So sind wir bei der aktiven und passiven Restriktion von Nikotinmissbrauch international betrachtet ein Schlusslicht. Auch bei der HPV-Impfung sind wir unter den europäischen Ländern (zusammen mit Frankreich) weit abgeschlagen und erreichen weniger als die Hälfte der gefährdeten jungen Mitbürger. Dabei reden wir inzwischen bei den möglichen Folgen einer HPV-Infektion von fast der Hälfte aller Kopf-Hals-Tumoren, also ein Problem, das beide Geschlechter betrifft, und bei Weitem nicht "nur" von HPV-assoziiertem Gebärmutterhalskrebs. Daher empfiehlt die STIKO eine HPV-Impfung für Jungen und (!) Mädchen. Auch bei der Darmkrebsfrüherkennung bleiben 2/3 der Betroffenen über 50 Jahre bei uns in Deutschland ungeschützt. Das geht viel besser! Bei der Früherkennung setzen die Niederlande z. B. auf ein direktes Einladungsverfahren. Allen infrage kommenden Personen über 55 Jahre wird ein FITtest (Selbsttest für Darmkrebs) per Brief zugesendet, inkl. freigemachtem Rücksendeumschlag. Dieses Vorgehen hat zu einer Teilnahmerate von über 70 % geführt. Das bedeutet, dass wir meist weniger als die Hälfte dessen erreichen, was mit heute bekannten, indizierten, von der Kasse bezahlten, eigentlich selbstverständlichen Dingen möglich wäre! Hier müssen wir einerseits noch umfangreicher über Früherkennungsmaßnahmen aufklären und zur Teilnahme motivieren und andererseits die an sich gut motivierten Bürger:innen mit einfachen, niederschwelligen Präventionsangeboten abholen."

Experte

Prof. Dr. Christof von KalleBIH Chair an der Charité und Gründungsdirektor des BIH Charité Studienzentrums, Vorsitzender des wiss. Beirats Vision Zero e.V.

Was fehlt uns im Forschungsbereich?

Christof von Kalle: "Daten, Daten, Daten: Wir sind in Deutschland nicht in der Lage, Daten aus der Versorgung zu nutzen und zu analysieren. Wir wissen nicht, was mit den meisten Krebspatient:innen im Laufe ihrer Behandlung tatsächlich geschieht. Wir kennen das tatsächliche Ergebnis der Maßnahmen nicht, besonders wenn sie über Sektorgrenzen hinweg, also auch in den unterschiedlichen Praxen − bspw. bei einem Hausarzt oder bei einem onkologischen Facharzt− erfolgen. Und wir können diese Dinge nicht miteinander in Beziehung bringen. Auch die Patient:innen selber wissen eigentlich nichts über ihre Daten, verfügen nicht über eine elektronische Kopie oder Behandlungshistorie, z.B. über eine App. Sie haben keine Möglichkeit, diese zum nächsten Arztbesuch mitzubringen − oder für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Was wir dringend brauchen, ist eine Infrastruktur, die in der Lage ist, klinische Forschungsprojekte mit Daten aus der Versorgung in eine wissensgenerierende, lernende und nachhaltige Versorgung umzusetzen. Darüber hinaus haben wir z.B. im niedergelassenen Bereich eine hoch komplizierte Rechtslage für die Umsetzung von Studienkonzepten. Im Grunde muss man jede einzelne Arztpraxis zu einem Studienzentrum machen, wenn diese an Studien mitwirken möchten. Bei der Suche nach einem Lösungsansatz landet man unweigerlich erneut beim Thema Digitalisierung. Eine wirksame, moderne Medizin ist ohne Digitalisierung nicht denkbar."

Was muss nun passieren?

Christof von Kalle: "In Amerika rechnet man neben menschlichem Schmerz mit einem wirtschaftlichen Verlust von 6 Millionen Dollar/Todesfall. Wir investieren Tausende von Euro in jedes Fahrzeug und Millionen in jedes Flugzeug und jede Fabrik, um Unfalltote zu verhindern. Gleichzeitig führen wir eine Diskussion darüber, ob uns ein 20-Euro-Test zur Darmkrebsvorsorge zu teuer ist. Mal abgesehen davon, dass wir es uns verbitten würden, wenn ein Autohersteller argumentieren würde: "Wir haben das Beifahrerleben mit 45.000 Euro angesetzt, eine Entwicklung wie der Beifahrer-Airbag rechnet sich für uns damit nicht, wir lassen diesen aus wirtschaftlichen Gründen ab jetzt bei Neuwagen weg. Bei Krankenkassen finden wir das aber zynischerweise völlig normal. Noch eines können wir aus diesen anderen Lebensbereichen lernen. Es ist in der Onkologie wie im Straßenverkehr nicht die eine große Erfindung, die uns ans Ziel katapultiert, sondern dass man jeden einzelnen Stein umdreht. Das bedeutet, dass alle Mitwirkenden gemeinsam jede einzelne Maßnahme daraufhin abklopfen, was diese kurz-, mittel- und langfristig erreichen kann. Das geht von der Anschnallpflicht bis zum Beifahrerairbag und wie sich diese einzelnen Maßnahmen in der Gesamtheit zusammenfügen und ihre Wirkung entfalten. Wir müssen weg davon, diese Krankheit als etwas Schicksalhaftes und Unausweichliches anzusehen – und die wirksamen Maßnahmen dann auch tatsächlich verantwortlich und überprüfbar umsetzen. Von allen Handlungsfeldern hat die Prävention den größten Nachholbedarf und gleichzeitig ein enormes Potenzial. Daher fordert Vision Zero die Politik und alle Entscheider im Gesundheitssystem auf, die Investitionen hier deutlich zu erhöhen. Die Hälfte aller Krebstodesfälle, also mehr als 100.000 Tote pro Jahr, könnte mit den heute bekannten Maßnahmen eigentlich verhindert werden, 30-mal so viele Menschen, wie wir im Straßenverkehr verlieren. Zur Finanzierung schlagen wir dabei die Einrichtung einer Präventionsstiftung vor, deren Vermögen aus einer speziellen Abgabe auf Tabakprodukte aufgebaut werden könnte – ein "Präventionseuro" für jede Schachtel Zigaretten könnte viele Menschenleben retten!"

Informationen zum Projekt findet man hier.


Das Interview führte Sabine Mack



Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (3) Seite 40-41