Frage: Warum reichen bei Corona 70 % Durchseuchung für eine Herdenimmunität und bei Masern 90 % Durchimpfung nicht?

Antwort:

Sowohl das Masernvirus als auch das SARS-CoV-2-Virus werden ausschließlich von Mensch zu Mensch übertragen.

Reservoire im Tierreich gibt es nach bisherigem Kenntnisstand für beide Viren bisher nicht. Wenn ein ausreichend hoher Anteil der Bevölkerung gegen eine Erkrankung immun ist, kann das Virus in der Bevölkerung nicht mehr zirkulieren: Wird der Erreger weitergegeben, trifft er dann immer häufiger auf Menschen, die nicht erkranken und das Virus damit auch nicht weitergeben – für das Virus ist das eine Sackgasse.

Die Basisreproduktionszahl R0 gibt an, wie viele weitere Personen zum Beginn einer Epidemie oder einer Pandemie eine infizierte Person durchschnittlich ansteckt, falls die sie umgebende Population keine Immunität gegen die Erkrankung besitzt. Die Nettoreproduktionszahl gibt an, wie viele Menschen im Laufe einer Epidemie oder Pandemie von einem Menschen angesteckt werden. Sie sinkt sowohl durch eine zunehmende Immunität bereits Infizierter als auch – im Falle von SARS-CoV-2 durch Kontaktbeschränkungen und andere Maßnahmen zur Verringerung der Ausbreitung. Fällt die Nettoreproduktionszahl dauerhaft unter 1, kommt die Krankheit allmählich zum Erliegen.

Masern werden nicht nur durch Tröpfchen, sondern auch durch in der Luft schwebende Viruspartikel, die nicht an Tröpfchen gebunden sind, übertragen. Selbst mehrere Stunden, nachdem eine an Masern erkrankte Patient:in sich in einem Raum aufgehalten hat, kann sich ein Nichtimmuner infizieren. Die Basisreproduktionszahl R0 für Masern beträgt 12 – 18 – ein Masernkranker steckt also im Durchschnitt 15 weitere nichtimmune Menschen an. Zum Erreichen einer Herdenimmunität müssen zwischen 83 und 94 % der Population immun sein. Die Anzahl der Masernerkrankungen hat sich durch die Impfung bereits deutlich vermindert. Um auch lokale Ausbrüche zu verhindern, müssen vermutlich mehr als 90 % der Population immun sein.

SARS-CoV-2 wird überwiegend durch Tröpfchen und Aerosole, vermutlich aber nicht wie Masern durch nicht an Flüssigkeit gebundene Viruspartikel übertragen. Die Basisreproduktionszahl von SARS-CoV-2 wird vom Robert Koch-Institut auf 2,4 bis 3,3 geschätzt – vor der Implementierung von Kontaktbeschränkungen hat ein Erkrankter also etwa drei weitere Menschen angesteckt. Wenn die Nettoreproduktionszahl dauerhaft unter 1 liegt, würde sich SARS-CoV-2 vermutlich nicht weiter ausbreiten. Um die Übertragung ohne andere Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen zu unterbinden, müssten nach einem Rechenmodell zwischen 40 und 70 % der Bevölkerung immun sein.

Vermutlich gibt es bei SARS-CoV-2 sogenannte "Superspreader"-Erkrankte, die eine besonders hohe Konzentration an Viren ausscheiden und deutlich mehr Menschen anstecken als andere Erkrankte – ein Beispiel hierfür ist der "Indexpatient" in Heinsberg. Selbst bei einer ausreichenden Herdenimmunität werden dann lokal begrenzte Ausbrüche immer noch möglich sein.


Literatur:
1. Fiona M. Guerra, Shelly Bolotin, Gillian Lim, Jane Heffernan, Shelley L. Deeks, Ye Li, Natasha S. Crowcroft: The basic reproduction number (R0) of measles: a systematic review. In: The Lancet Infectious Diseases. 17, Nr. 12, 1. Dezember 2017
2. Gregg N. Milligan, Alan D. T. Barrett: Vaccinology. Wiley, 2015, ISBN 978-1-118-63628-2, S. 313


Autor

Dr. Andreas Leischker

Klinik für Geriatrie
Krankenhaus Maria-Hilf
Alexianer Krefeld GmbH
47918 Krefeld

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (2) Seite S48-49