Frage: Vor einigen Wochen wurde Frau S. mit ihrer 88-jährigen Mutter in meiner Hausarztpraxis vorstellig. Die Mutter klagte über starkes Herzrasen und Schwindel, wollte sich aber nicht untersuchen oder behandeln lassen.

Nach langem Diskutieren habe ich beide mit mulmigem Gefühl gehen lassen. Sollte der Mutter im Nachgang etwas passiert sein wie z.B. ein Herzinfarkt, könnte man mich rechtlich zur Verantwortung ziehen, weil ich nichts unternommen habe?

Antwort von Rechtsanwalt Stäwen

Nach dem modernen Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses sind nicht die Erforderlichkeit des Eingriffs oder die gesundheitlichen Folgen der Nichtbehandlung, sondern allein der Patientenwille für die Durchführung einer Behandlung entscheidend. Die behandelnde Ärzt:in hat somit von einer Behandlung abzusehen, wenn die Patient:in selbst das so wünscht. Dies gilt selbst dann, wenn sich die Entscheidung aus Sicht der behandelnden Person als unvernünftig und sogar lebensbedrohlich für die Patient:in darstellt. Eine Behandlung ohne die erforderliche Einwilligung erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung und kann straf-, zivil- und berufsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Da nur eine einwilligungsfähige Patient:in eine Behandlung rechtsgültig ablehnen kann, muss die Einwilligungsfähigkeit zum Zeitpunkt des Erscheinens in der Praxis beurteilt werden. Nicht einwilligungsfähig sind Patient:innen typischerweise bei fortgeschrittener Demenz, akuter Psychose, postoperativem oder Entzugsdelir sowie starker Intoxikation durch Drogen/Alkohol oder andere berauschende Mittel. Dennoch ist eine schematische Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit nicht möglich und muss daher vom Einzelfall abhängig gemacht werden. Fortgeschrittenes Alter führt nicht bereits dazu, dass der Patient:in die Einwilligungsfähigkeit abgesprochen werden kann.

Im Falle einer ernsthaften Behandlungsverweigerung einer einwilligungsfähigen Patient:in ist die Ärzt:in verpflichtet, auf die Folgen einer Nichtbehandlung hinzuweisen und umfassend aufzuklären. Um mögliche haftungsrechtliche Folgen von vornherein auszuschließen, sollten die Aufklärung und der Hinweis auf die Folgen der Behandlungsverweigerung detailliert in der Behandlungsakte festgehalten werden. Zudem bietet es sich an, dass Mitarbeiter:innen der Praxis zur Aufklärung hinzugezogen werden, damit diese als Zeug:innen die ordnungsgemäße Aufklärung bestätigen können. Idealerweise sollte die Patient:in schriftlich bestätigen, dass sie die Praxis gegen den ärztlichen Rat verlässt. Für diesen Fall bietet es sich an, dass die Praxis ein entsprechendes "Behandlungsverweigerungsformular" bereithält und sich dieses durch die Patient:in unterschreiben lässt.

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Autor

© Björn Stäwen
Björn Stäwen, LL. M.

Fachanwalt für Medizinrecht, kwm rechtsanwälte – Kanzlei für Wirtschaft und Medizin PartG mbB
Lehrbeauftragter der Universität Münster im Masterstudiengang Medizinrecht für den Bereich Vertragsarztrecht

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (6) Seite 60