Auf die Hausarztpraxen rollt bereits seit einigen Jahren eine Lawine der Digitalisierung zu und die Corona-Pandemie hat dieser Entwicklung einen ordentlichen Vorschub geleistet. Telemedizin, eAU, ePA, Apps auf Rezept – so vielfältig sich die digitalen Möglichkeiten gestalten, so unterschiedlich sind die Meinungen zur Umsetzbarkeit in den Praxen. Denn bei allen Vorteilen, die durch die digitalen Optionen erkennbar sind, schwebt immer noch die Telematikinfrastruktur wie ein Damoklesschwert über den Ärzt:innen. Wir wollten wissen, wie die Hausärzt:innen zum Thema digitale Transformation stehen, und haben hierzu fünf Mitglieder unseres neuen Hausärztebeirats gefragt: "Wie weit sind wir noch entfernt von der komplett digitalen Hausarztpraxis? Welche Chancen bietet die Digitalisierung und wo liegen die Stolpersteine? Oder ist dieses Ziel vielleicht gar nicht erstrebenswert?" In unserer neuen Serie "Hausärzt:in hautnah" lassen wir die Ärzt:innen ganz persönlich zu Wort kommen. Lesen Sie hier ihre Meinungen.

Dr. Jennifer Demmerle, Winnweiler: Und es bleiben viele Fragen …

Die Digitalisierung schreitet voran. Sie hilft uns, möglichst viele Informationen möglichst schnell zugänglich zu machen – in unserem Fall Informationen über unsere Patient:innen. Wir erhalten schneller einen Überblick über Medikation, Allergien und andere Vorerkrankungen. Sofern die Daten immer aktuell gehalten werden. Papier wird auf Dauer gespart – die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in naher Zukunft nur noch online verschickt. Bürokratieabbau? Das wird man sehen. Ob ich die Krankmeldung ausdrucke und unterschreibe oder ob ich meinen (noch nicht vorhandenen) elektronischen Arztausweis in das Lesegerät stecke, wird sich wohl gleich bleiben. Ob ich meinen Medikamentenplan online aktualisiere, dass die Krankenkasse auch etwas davon hat, oder ob ich ihn ausdrucke und mit meinen Patient:innen so bespreche, wird sich bürokratisch wohl auch nicht viel schenken. In vielen Regionen Deutschlands lässt die Internetverbindung zu wünschen übrig. Ob die vollkommene Digitalisierung dann überhaupt funktionieren kann? Oder wird es für einige Praxen schon an der Infrastruktur scheitern?

Ist es nötig, die Ärzteschaft unabhängig von Region, Alter und Patientenaufkommen zu zwingen, die Digitalisierung in einer Geschwindigkeit umzusetzen, die nicht einmal für die Systemhäuser zu halten ist? Oder kann man – nicht zuletzt aufgrund der aktuellen (Corona-)Situation – etwas mehr Flexibilität zulassen? Für mich bleiben Fragen über Fragen. WENN die digitale Transformation der Arztpraxis funktioniert, wird’s super!

»In vielen Regionen lässt die Internetverbindung zu wünschen übrig. Ob die vollkommene Digitalisierung dann überhaupt funktionieren kann?«
Dr. Jennifer Demmerle

Dr. Markus Reinhardt, Koblenz: Uns unterstützt die Digitalisierung sehr!

Wir arbeiten in einem vernetzten Ärztehaus in einer großen allgemeinärztlichen/internistischen Praxis mit mehreren Kolleg:innen und einem zweiten Praxisstandort. Ohne Digitalisierung wäre unsere Praxisstruktur nicht denkbar. Es gibt schon jetzt eine ganze Reihe von Systemen und Tools, die uns bei unserer täglichen Arbeit unterstützen. Wir arbeiten im Ärztehaus mit einem zentralen Server, nutzen eine sichere Patienten-App, ein zugelassenes Videosprechstunden-Tool und E-Mail zur Kommunikation mit unseren Patient:innen. Wir arbeiten mit einem Dokumentations- und Impfmanager und bieten einen Online-Terminservice. Wir nutzen abgesicherte VPN-Tunnel für den Online-Zugang von zu Hause.

Uns unterstützt die Digitalisierung sehr. Die Kommunikation mit den Patient:innen und untereinander ist schneller und sicherer. Ich glaube, das ist die Zukunft – nicht nur in der Medizin. Der Grad der Digitalisierung ist aber sehr unterschiedlich. Ich kenne Praxen, die noch mit Karteikarten arbeiten. Digitalisierung spart Geld und Zeit, ist aber oft mit großen Anfangsinvestitionen von Geld und auch Zeit verbunden. Viele Kolleg:innen sind unsicher, was ihnen die Digitalisierung bringt, und haben Angst vor datenschutzrechtlichen Problemen. Es gibt zu wenig praktische Information über die Vorteile der Digitalisierung. Einfache Hands-on-Tutorials, aber auch finanzielle Anreize sollten geschaffen werden, um Kolleg:innen, insbesondere in kleineren Praxen, zu unterstützen. Dies würde in meinen Augen deutlich mehr Sinn machen als eine hochkomplexe, teure Telematikinfrastruktur, deren Sinn und Funktion sich selbst technikversierten Kolleg:innen nur schwer erschließt.

Dr. Stefanie Lutz, Mainz: Es gibt Optimierungspotenzial ...

Die komplette Digitalisierung einer Hausarztpraxis ist meiner Meinung nach nicht umsetzbar. Die Diversität der Patient:innen und Komplexität der Beratungs- und Behandlungsanlässe erfordern bereits bei der Terminvereinbarung viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Meine MFAs achten darauf, den Patient:innen die passende Ärztin zuzuordnen, und wissen, wie viel Zeit sie einplanen müssen, wenn sich zum Beispiel jemand mit Bauchschmerzen ankündigt und erfahrungsgemäß noch eine Sonographie und Labor bekommt.

Außerdem bezweifle ich bei vielen meiner älteren Patient:innen, dass diese die technischen Möglichkeiten haben und die Bereitschaft zeigen, sich für diese Thematik zu öffnen. Von der elektronischen Patientenakte hingegen bin ich ein großer Fan und sie ist bei uns bereits umgesetzt. Hier liegt aber zugegebenermaßen noch Optimierungspotenzial. Nächster Schritt wäre der elektronische Formularsatz mit Anamnesebogen auf dem Tablet. Dieser wird nämlich noch händisch ausgefüllt und danach eingescannt. Die Digitalisierungsmöglichkeiten sind in hohem Maße aber auch vom jeweiligen Praxisverwaltungssystem abhängig. So ist bei meinem PVS der Empfang des elektronischen Arztbriefs immer noch nur in der Theorie möglich und die mir bei der Anschaffung meines Systems versprochene App zum sicheren mobilen Zugriff auf die Patientendaten funktioniert auch noch nicht. Letztere wäre vor allem beim Hausbesuch eine tolle Sache!

»Die Digitalisierungsmöglichkeiten sind in hohem Maße auch vom jeweiligen Praxisverwaltungssystem abhängig.«
Dr. Stefanie Lutz

Dr. Susanne Springborn, Wiesbaden: Mein Traum von der digitalen Vernetzung

Es ist Sonntagnachmittag, während ich diese Zeilen schreibe. Gerade habe ich ein Pulsoximeter vor der Tür einer jungen Patientin deponiert, inklusive der Einweisungsunterlagen: Dringender Verdacht auf COVID-19-Pneumonie. Ihr Zustand hat sich leider verschlechtert, der Kollege aus der Klinik möchte erst bei einer Sauerstoffsättigung unter 95 % aufnehmen.

"Was hat das denn mit Digitalisierung zu tun?", fragen Sie sich vielleicht, und: "Warum lässt sie eigentlich nicht den Ärztlichen Bereitschaftsdienst fahren – es ist schließlich Sonntag? Um Himmels Willen, sie erledigt auch noch selbst den Papierkram?" Den eigentlichen Hausbesuch möchte ich niemandem zumuten wegen des Infektionsrisikos, mir selbst auch nicht. Per Videosprechstunde konnte ich die Situation jedoch ausreichend einschätzen. Im allgemeinmedizinischen Fernpraktikum, das wir diesen Sommer durchführten, klappte es schon digital: Patient:innen hatten smarte Werkzeuge, die ihnen ermöglichten, die Sauerstoffsättigung selbst zu messen.

Mein Online-Traum: Wäre ich mit der Klinik, der ich es mehrfach anbot, und der Leitstelle vernetzt – da wäre noch ein Sonntagsspaziergang heute für mich drin gewesen. Und wäre der Ärztliche Bereitschaftsdienst mit Videosprechstunde und Zugriff auf eine elektronische Patientenakte gesegnet – den Wochenendbesuch hätte ich mit gutem Gewissen delegieren können. Aber wir haben noch Herbst 2020 – und ich insistiere auf Qualität, die mir einen ruhigen – dank analoger Stolpersteine etwas zu kurz geratenen – Nachtschlaf garantiert.

Dr. Christian Schulze, Winterburg: Von der komplett digitalen Hausarztpraxis sind wir weit entfernt

Erstens ist die Vernetzung durch schlechte Internetversorgung in den Praxen und mobil nicht flächendeckend gewährleistet. Im Vergleich zu Estland sind wir Entwicklungsland. Weiter gibt es sehr betreuungsintensive ältere Menschen, die weit davon entfernt sind, digital zu werden. Last but not least beweist uns der Chaos Computer Club regelmäßig, dass unsere TI sehr unsicher ist. Natürlich wäre es schön, wenn in einem geschützten Datensystem relevante Informationen sofort dort wären, wo sie benötigt werden. Man könnte schneller und effektiver handeln und Zeit gewinnen. Krankmeldezeiten würden reduziert. Doppelte Untersuchungen mit doppelter Strahlenbelastung und Kosten könnten vermieden werden. Aber ob Patient:innen tatsächlich möchten, dass ihre gesamten Daten zentral "unsicher" archiviert werden und ggf. Dritte darauf zugreifen wie auf eine Art Gesundheits-Schufa, wonach man z. B. keine Versicherungen mehr bekommt, das ist die entscheidendere Frage. Praktisch muss bei der zustimmungspflichtigen zentralen Datenspeicherung weitere Hard- und Software installiert werden. Am Ende werde ich aber nur in zwei von sieben Räumen die Möglichkeit zur Speicherung haben. Aus der bisherigen Erfahrung mit der langsamen und unzuverlässigen TI trotz realer 10-MB-Leitung habe ich meine Bauchschmerzen, hier den hektischen Umstieg wie geplant darzustellen. Seit 2006 erhält bei uns jede Patient:in ihre Daten und Berichte ohnehin schon mit nach Hause, papiergebunden oder per Mail. Die informierte Patient:in ist natürlich das höchste Gut, wenn man einen Erfolg bei der Therapie anstrebt. Entsprechend erfolgreich ist das System "open notes" in den USA, wo das Therapeuten-Patienten-Verhältnis durch eine Offenlegung der Befunde patientenorientiert, interprofessionell und kommunikativer gestaltet wird.




Erschienen in: doctors|today, 2020; 1 (1) Seite 68-71