Für die Menschen, die aus der Ukraine flüchten, ist die Hausarztpraxis eine wichtige Anlaufstelle. Zum Beispiel, wenn wichtige Medikamente zurückgelassen werden mussten, chronische Erkrankungen vorliegen oder akute Beschwerden durch Infekte auftreten. Was bedeutet das für die niedergelassenen Hausärzt:innen und ihre Praxisteams?


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Dr. Ulrika Koock, Gemeinschaftspraxis Quickenstedt & Ritterhoff in Altenstadt (Hessen)

Auch hier wird die Hausarztpraxiswieder zum rettenden Anker

"Am 24. Februar hat sich unser bekanntes Weltbild auf den Kopf gestellt, als Russland den Krieg begann und die Ukraine überfiel. Innerhalb weniger Tage mussten Millionen von Menschen ihre Heimat verlassen und sind nun auf unsere Hilfe und Solidarität angewiesen. Die Versorgung von Geflüchteten aus der Ukraine stellt uns dabei vor besondere Herausforderungen, die es zu lösen gilt. Denn natürlich müssen die Geflüchteten auch medizinisch versorgt werden, sei es im Bezug auf wichtige Medikamente chronisch kranker Patient:innen oder im Bezug auf akute Beschwerden. Und da kommen wir Hausärzt:innen ins Spiel, denn schließlich sind wir die erste Anlaufstelle.

Ich erinnere mich an eine Familie, deren Versorgung mehrere Stolpersteine mit sich brachte: Die Frau mit ihren drei Kindern kam in Begleitung ihrer Mutter, und aufgrund der sprachlichen Barriere war eine Verständigung an der Anmeldung kaum möglich. Als sie sich schließlich bei mir im Sprechzimmer mit Erkältungssymptomen niederließen, kam heraus, dass sie alle gerade frisch aus der Isolation kamen und sich gerade erst frei getestet hatten. Wie ich das herausfand? Mithilfe des Google Translators. Wir tippten also bestimmt fünf Minuten lang schweigend auf dem Handy herum, um mit dem Gegenüber zu kommunizieren, was passiert war und welche Beschwerden vorlagen. Um dann nochmals zehn Minuten für die Untersuchung aller Familienangehörigen zu benötigen und schließlich weitere fünf Minuten wieder Sätze in den Translator zu tippen. Glücklicherweise war die Familie so verantwortungsbewusst und hatte sich nach der langen Reise im Zug − mit vielen anderen Flüchtenden − auf COVID getestet, als die Symptome einsetzten. Probleme ergeben sich also nicht nur über die Sprachbarriere, die sich mithilfe der Technik aber ganz passabel lösen lässt. Sondern auch durch die deutlich mehr benötigte Zeit in der vollen Sprechstunde und die Tatsache, dass die Pandemie einfach nicht vorbei ist und die Geflüchteten den Ansteckungsgefahren in vollen Zügen und Unterkünften ausgesetzt sind.

Was die Abrechnung angeht: Hier muss man sich je nach Bundesland bei seiner KV erkundigen, wie sie funktioniert. Fakt ist, dass alle Vertriebenen Anspruch auf Leistungen wie bei der GKV haben und Berechtigungsscheine erhalten. Manche KVen möchten jedoch eine Kopie des Scheins haben, andere wieder das Original und nochmals andere KVen ordnen an, den Schein in der Praxis zu belassen. Das macht den Hausarzt/die Hausärztin − wie bei der Corona-Pandemie, den COVID-Impfungen und der Überlastung unseres Gesundheitssystems − mal wieder zum rettenden Anker."



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Dr. Marcel Schorrlepp, Julia Butz, Gemeinschaftspraxis in Mainz-Gonsenheim (Rheinland-Pfalz)

Die Geflüchteten kommen aus einem ähnlich gelagerten Gesundheitssystem

"Im Jahr 2015 mussten wir uns in kürzester Zeit nicht nur gesellschaftlich, sondern auch medizinisch mit der Versorgung Geflüchteter beschäftigen. In diesem Umfang hatte es das in der BRD noch nicht gegeben. Bei Krankenkassen und den Kommunen, aber auch bei Hausärztinnen und Hausärzten dominierte Unsicherheit. Schließlich lag unsere Praxis ganz in der Nähe einer Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Doch nach und nach konnten ganz praktisch Probleme gelöst werden.

Die Gruppe der geflüchteten Menschen war 2015 sehr heterogen bezüglich Herkunft, Sprache, Alter und Geschlecht. Es kamen aber auch solche mit Kriegsverletzungen, Menschen, die Folter und Hunger erlebt hatten oder sich auf der Flucht lebensgefährlich verletzt hatten. Initial schwierig war für uns die Verständigung. Aber auch das funktionierte — mit Bildern, mit Dolmetschern, immer häufiger übers Handy und dazu ein wenig Englisch. Von Woche zu Woche wurde die Organisation besser. Termine wurden über betreuende Organisationen vereinbart (DRK, private Stiftungen etc.). Die kümmerten sich um Behandlungsscheine, Dolmetscher, Vorbefunde u.a. Das war eine große Erleichterung. Zunehmend wurden die Kinder der Geflüchteten durch den schnellen Spracherwerb in der Schule gute Dolmetscher für ihre Familien. Die Erwartungen der Geflüchteten an unser Gesundheitssystem waren oft hoch. Manche glaubten, viele seit Jahren bestehende Beschwerden könnten geheilt werden. Fragen nach Behandlung bei unerfülltem Kinderwunsch wurden vielfach an uns herangetragen. Hier mussten wir immer wieder auf die Begrenzung der Behandlung auf das medizinisch Notwendige verweisen und die Grenzen des medizinisch Möglichen aufzeigen.

Was erwarten wir in dieser Flüchtlingswelle? Die politische Zusage, die Geflüchteten aus der Ukraine umgehend in unser Gesundheitssystem zu integrieren, wird medizinische Behandlungen viel leichter machen. Wir sehen eine homogenere Gruppe, mehrheitlich Frauen und Kinder, überwiegend nur eine Sprache, die glücklicherweise von einer unserer Mitarbeiterinnen gesprochen wird. So sind wir weniger auf Dolmetscher angewiesen. Die Flüchtlinge kommen aus einem ähnlichen Gesundheitssystem und werden bei chronischen Erkrankungen auch vorbehandelt sein. Durch einen kürzeren Fluchtweg werden bestimmte orthopädische Probleme nicht in großem Maße vertreten sein. Die Traumatisierungen werden beträchtlich sein. Wir hoffen auf geringere praktische Probleme, geringere sprachliche Hürden und ein ausreichend verfügbares psychotherapeutisches Angebot. Dieses fehlt oftmals bis heute für die geflüchteten Menschen von 2015.

Ein großer Unterschied schon jetzt zu Beginn zeigt sich darin, dass viele Flüchtlinge bei Freunden und Familien unterkommen. Damit ist der soziale Support verteilt auf viele Menschen in der Gesellschaft und ist nicht nur auf institutionalisierte Hilfsorganisationen und soziale Träger begrenzt. Das macht auf der anderen Seite die Erfassung der Geflüchteten schwieriger und Abklärungen von Impfstatus und Infektionserkrankungen aufwendig. Neben COVID spielt in Osteuropa auch Tuberkulose eine wichtige Rolle. Die Integration ist aber um ein Vielfaches leichter."



Autorin
Sabine Mack

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (5) Seite 60-63