Nicht nur für die Ärzt:innen und die Pflegekräfte in den Krankenhäusern ist die Pandemie eine Zeit voller Herausforderungen und auch Überforderungen. Insbesondere für die Beschäftigten in den Hausarztpraxen bringt Corona zusätzliche Anstrengungen und ein Übermaß an Arbeit mit sich. Gleichzeitig nimmt die Aggression von Patientenseite immer mehr zu. Wie können wir damit im Praxisalltag am besten umgehen?

Fallbeispiel Corona-Impfungen: Das Gift können Sie wegkippen!
Während der ersten "Impfwelle" erschien ein Mann in meiner Sprechstunde zu seinem Impftermin. Bevor ich überhaupt ein Wort sagen konnte, erhob er die Stimme und forderte: "Ich will das Zeug nicht. Das können Sie gleich in den Mülleimer kippen!"Etwas überrascht angesichts des Ausbruchs fragte ich nach seinen Sorgen und bot an, ausführlich über die Impfung zu sprechen. Zeitdruck wollte ich nicht machen. Aber er winkte ab. "Wenn Sie so sicher sind, dass Sie die Impfung nicht bekommen möchten, warum haben Sie den Termin nicht einfach storniert?", fragte ich den Mann. "Na, weil ich dann keinen Stempel bekomme. Und nun geben Sie schon her! Ich habe einen Friseurtermin!""Also möchten Sie doch, dass ich Sie impfe?", fragte ich zur Sicherheit und bereitete die Unterlagen vor."Was? Nein!!" Und er wurde laut: "Ich will nur den Stempel, Sie können doch das Gift ins Waschbecken spritzen, da ist doch nichts dabei. Das merkt schon keiner." Wild gestikulierend beugte er sich zu mir vor. Ich war sprachlos! Er forderte von mir, dass ich eine COVID-19-Impfung vortäusche und den Impfpass fälsche. Dann musste ich selbst meine Wut im Zaum halten. Ich rückte ein Stück weg von ihm und sagte mit deutlicher, aber ruhiger Stimme: "Das werde ich sicher nicht tun, Sie erwarten eine Straftat von mir. Wir können gerne noch einmal einen ausführlichen Beratungstermin vereinbaren, aber ohne Impfung gibt es in unserer Praxis weder Aufkleber noch Stempel!" Erbost stand er auf, verließ unter lautem Fluchen das Zimmer und anschließend die Praxis.

Aktuelle Statistiken zeigen, dass sich Praxismitarbeiter:innen seit einigen Jahren häufiger mit verbaler und körperlicher Gewalt konfrontiert sehen. Die Corona-Situation, die unseren Arbeitsalltag in der Hausarztpraxis seit fast zwei Jahren beherrscht, hat das Problem nun noch weiter verschärft. Während in den ersten Monaten der Pandemie Sorgen und Ängste im Vordergrund standen, wandelte sich das Spektrum der Emotionen hin zu mehr Unzufriedenheit und Erschöpfung vonseiten aller Beteiligten. Im April 2021 starteten schließlich die Impfkampagnen in den Hausarztpraxen − und was anfangs für Euphorie sorgte, weil Patient:innen sich endlich impfen lassen konnten, gipfelte schnell in Frustration ob der Wartezeit und der Auswahl des "Lieblingsimpfstoffes". Der Sommer 2021 bot dann zwar eine kurze Erholungsphase, aber spätestens mit Anlaufen der Booster-Kampagne erinnerte vieles an den Filmklassiker "Und täglich grüßt das Murmeltier": Wieder mussten Patientenlisten geschrieben, Impfstoff bestellt, Betroffene angerufen, Aufklärungsbögen verteilt und das Bürokratiemonster besiegt werden. Das sorgte und sorgt nicht nur bei Mitarbeiter:innen für Frustration.

An vorderster Patientenfront

Während die MFA an der Anmeldung und am Telefon teilweise wütenden und unfreundlichen Menschen ausgesetzt sind, geht es im Arzt-Sprechzimmer meist gesitteter zu. Doch auch hier ist man mit wütenden Anschuldigungen und in letzter Zeit auch vermehrt mit aggressivem Verhalten durch pandemiemüde Menschen und Impfgegner:innen konfrontiert.

Was in der Praxis leider mittlerweile Alltag ist

Solche Begegnungen gab es im letzten Jahr immer wieder und die Anspannung macht sich Luft. Wir als Mitarbeiter:innen in einer Arztpraxis sind zuweilen auch einmal geneigt, unserem Ärger freien Lauf zu lassen. Doch müssen wir diejenigen sein, die für Deeskalation und eine ruhige Atmosphäre sorgen, und das erfordert zunehmend Kraft! Denn nicht nur gefühlt, sondern auch statistisch ist das Maß an Aggression und Gewalt in Arztpraxen ganz klar angestiegen. Eine Studie aus München ergab, dass 92 % aller befragten Hausärzt:innen bereits einer Form von Gewalt während der Arbeitszeit ausgesetzt waren.

Die Landesärztekammer Hessen hat einen Meldebogen konzipiert, um konkrete Zahlen zu erfassen.

Als Gewalt wird hiernach definiert:

  • Beleidigung und Beschimpfung
  • Bedrohung und sonstige Einschüchterungen
  • Körperliche Gewalt in leichterer Form (z. B. Schubsen, Bedrängen oder Festhalten)
  • Ausgeprägte körperliche Gewalt (z. B. Beißen, Schlagen, Treten und Würgen)
  • Bedrohung mit Gegenstand oder Waffe
  • Angriff mit einem Gegenstand oder einer Waffe
  • Sexuelle Belästigung (z. B. anzügliche Bemerkungen oder Gesten; "Grabschen" abseits von Brüsten und Genitalien)
  • Sexueller Missbrauch (z. B. Anfassen von Brüsten und Genitalien, sexuelle Nötigung, und Vergewaltigung)
  • Sachbeschädigung und/oder Diebstahl
  • Rufschädigung, Verleumdung und bewusst falsche Aussagen z. B. auf Online-Bewertungsportalen
  • Stalking: Das kann dann der Fall sein, wenn eine Person Sie kontrolliert und/oder verfolgt.

Gut erkennbar ist, dass nicht "nur" Beschimpfungen oder körperliche Gewalt als Angriff gewertet werden können, sondern beispielsweise auch die zunehmende Diffamierung in sozialen Netzwerken und auf Bewertungsportalen. Hassmails, "Shitstorm" und schlechte Bewertungen sogar von praxisfremden Patient:innen sind keine Seltenheit mehr und überaus belastend für die Betroffenen.

Wie können wir damit umgehen?

Wichtig ist, sich nicht von der Aggression und der Gewalt der Person vereinnahmen zu lassen, sondern eine Art emotionale Barriere zu schaffen. Ruhig bleiben und die Kontrolle über sich selbst bewahren, lautet die Devise. Denn gegen Freundlichkeit ist es schwer, mit weiterer Aggression zu kontern.

Dennoch sollte man selbstbewusst und souverän auftreten. Sätze wie "Ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind" helfen oft erst einmal, unser Gegenüber zu beruhigen und die erste Aggression zu nehmen. Stellen Sie auch Fragen, seien Sie trotz aller eigenen Aufregung und Wut empathisch, denn Patient:innen haben oft keinen Überblick über praxisinterne Abläufe und Strukturen und können beispielsweise nicht verstehen, warum sie lange warten mussten oder jemand anderes vor ihnen an der Reihe war.

Frauen sind häufiger als Männer sexueller Belästigung ausgesetzt und sind meist körperlich unterlegen. Doch auch männliche Kollegen werden mit sexuell motivierten Annäherungen, nicht angebrachter Freizügigkeit, anstößigen Komplimenten und Berührungen konfrontiert. In allen diesen Fällen gilt es, selbstbestimmt und nachdrücklich zu vermitteln, dass dies nicht angebracht ist, − und sich Unterstützung zu holen.

Halten Sie in brenzligen Situationen mindestens zwei Armlängen körperlichen Abstand und orten Sie je nach Level der Aggression, ob Sie rasch den Ort des Geschehens verlassen könnten. Im Bereich der Anmeldung ist es oft von Vorteil, wenn MFA durch den Anmeldetresen eine Barriere zwischen sich und der Aggressor:in haben bzw. bringen können. Im Sprechzimmer sollte der Schreibtisch so stehen, dass ein Fluchtweg nicht verbaut ist. Zudem wird empfohlen, auf dem Schreibtisch keine schweren Gegenstände liegenzulassen, die als Wurfgeschosse eingesetzt werden könnten.

Im Extremfall können Codewörter verwendet werden, damit die Kolleg:innen wissen, dass sie gebraucht werden. "Ich brauche die Akte von XY" ist nur ein Beispiel für solch einen Satz, den Sie praxisintern verwenden können. Und sollte es zu einem gewalttätigen Vorfall kommen, rufen Sie um Hilfe und die Polizei.

Es ist keine Schande, sich im Notfall selbst zu schützen und Leistungen auszuführen, die man eigentlich nicht erbringen möchte, wenn man im Falle der Ablehnung Angst vor Gewalt hat: zum Beispiel eine Krankmeldung auszustellen, auch wenn man nicht dahintersteht, oder ein Medikament zu rezeptieren, das mit Nachdruck gefordert wird. Der Eigenschutz geht in einem solchen Falle vor. Dokumentieren Sie aber solche Vorgänge sorgfältig. Mindestens genauso wichtig: Das Erlebte muss besprochen und verarbeitet werden, gegebenenfalls mit psychologischer Hilfe. In diesem Kontext kann es z. B. auch Sinn machen, das Thema in die regelmäßigen Teammeetings mit aufzunehmen, damit allen klar ist, dass sie mit einer solchen Situation nicht alleine sind bzw. alleine gelassen werden.

Bleiben wir standhaft!

Gleichzeitig sind wehrhafte Ärzt:innen und Mitarbeiter:innen die beste Prävention. Man sollte mit Verständnis und Freundlichkeit auf die Patient:innen eingehen, muss sich dennoch nicht alles gefallen lassen, und freundlich, aber bestimmt die Grenzen aufzeigen! Auch mit aller Mühe können wir in den Hausarztpraxen die allgemeine Lage in unserem Land, das Praxissterben, die Gesundheitspolitik oder die Corona-Pandemie nicht auffangen.


Literatur:
1. Georg Feistle, TU München, Dissertation, Aggression und Gewalt gegen Allgemeinmediziner und praktische Ärzte – Bundesweite Befragungsstudie http://mediatum.ub.tum.de/doc/1311354/1311354.pdf
2. Meldebogen: Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte und Team, Landesärztekammer Hessen: http://www.laekh.de/fileadmin/user_upload/Aerzte/Gewalt_gegen_Aerzte/Akutmeldebogen_Gewalt_gegen_Aerzte.pdf
3. Aggression und Gewalt gegen Allgemeinmediziner und praktische Ärzte – Bundesweite Befragungsstudie (Dissertation), Maximilian Georg Feistle, TU München, 2017: http://mediatum.ub.tum.de/doc/1311354/1311354.pdf
4. Gewalt gegen Ärzte: Gewappnet für den Ernstfall, Dtsch Arztebl 2018; 115(35-36): A-1524 / B-1284 / C-1276: http://www.aerzteblatt.de/archiv/199735/Gewalt-gegen-Aerzte-Gewappnet-fuer-den-Ernstfall



Autorin

© Fingerfoto.de/Franziska Finger
Dr. med. Ulrike Koock

A.i.W. Allgemeinmedizin
Praxis Quickenstedt und Ritterhoff in 63674 Altenstadt (Hessen)
Mitglied im Hausärztebeirat der doctors|today


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (2) Seite 57-59