Menschen mit diabetischer Neuropathie stellen sich nicht selten mit Wunden vor, die bei den Behandlern Fassungslosigkeit hervorrufen: "Warum kommt er so spät, das muss er doch bemerkt haben." Nein, hat er eben nicht. Was der Verlust der Sensibilität tatsächlich im Alltag bedeutet, soll im folgenden Beitrag beleuchtet werden.

KASUISTIK – Der Fuß tut doch nicht weh
Herr H., 54-jähriger Tischlermeister mit eigenem Betrieb, stellt sich im Rahmen des DMP Diabetes vor. Sein Typ-2-Diabetes ist seit fünf Jahren bekannt. Er wird mit Metformin behandelt und wurde kurz nach seiner Diagnose in einer Diabetesschwerpunktpraxis geschult. Bei der Fußuntersuchung fällt diese Läsion am linken Großzeh (siehe oben) auf. Der Vorfuß ist gerötet und überwärmt, Wundstadium Wagner 2 Armstrong B. Herr H. dazu: "Vor zwei Wochen war das nicht so schlimm." Aufgrund des Befundes empfehlen Sie ihm, sich notfallmäßig in der Fußambulanz einer diabetischen Schwerpunktpraxis (DSP) oder eines diabetesqualifizierten Krankenhauses (zertifizierte Einrichtungen auf AG Fuß) vorzustellen. Herr H. antwortet, das ginge gerade nicht, er würde mit seiner Firma gerade umziehen, der Fuß täte auch nicht weh.

Mit der Entwicklung einer diabetesbedingten Neuropathie verlieren die Menschen einen wichtigen und bis dahin selbstständig ablaufenden Schutzmechanismus. Schmerzreize aus der Peripherie, z. B. beim Treten auf eine scharfe Muschel, lösen einen Schutzreflex aus. Der Fuß wird schnell von der Schmerzquelle zurückgezogen. Eine bewusste Verarbeitung ist nicht notwendig. Loss of Protective Sensation (LOPS) im Rahmen der diabetischen Neuropathie bedeutet, dass der Schmerzreiz aus der Peripherie vollständig ausfällt. Der entsprechende Schutzreflex kann nicht ausgelöst werden. Da das Ereignis nicht realisiert worden ist, kann eine Repräsentation der Quelle des Schmerzreizes nicht erinnert werden. Menschen mit Neuropathie können sich nachts auf dem Weg zur Toilette am Bein des Bettes stoßen. Statt eines plötzlichen Schmerzes spüren sie einen dumpfen Widerstand. Morgens wird das Ereignis kaum erinnert. Menschen ohne Neuropathie werden morgens beim Auftreten Schmerzen spüren, sich an den gestrigen Vorfall erinnern und ihren Fuß schmerzbedingt wenig belasten. Das ginge auch nicht anders, weil das Auftreten wehtut. Für Menschen mit Neuropathie ist in der gleichen Situation aus ihrer subjektiven Sicht nichts passiert. Sie werden weder humpeln müssen, noch werden sie ihrem Fuß besondere Beachtung schenken. Hinzu kommen eine eventuelle altersbedingte Sehschwäche oder eine diabetische Retinopathie. Die Hüfte ist auch steif, sodass eine nähere Inspektion des Fußes sowieso kaum möglich ist. Wenn die Patient:in acht Tage später bei Ihnen in der Sprechstunde sitzt und Sie fragen sie, wie es zu der Fußphlegmone gekommen ist, kann sie aufgrund ihrer Erfahrung wahrheitsgemäß antworten: "Gestern war da gar nichts."

Gesunder Menschenverstand vs. medizinischer Rat

Menschen, die wenig Erfahrung und Wissen über chronische Erkrankungen haben, interpretieren ihre Erfahrungen nach dem Common-Sense-Modell [1]. Sie haben subjektive Kontrolltheorien basierend auf ihren bisherigen Erfahrungen, was Symptome bedeuten und was gut für ihre Genesung wäre.

Beispiele: "Was von alleine kommt, geht von alleine", "Was nicht wehtut, kann nicht so schlimm sein", "Bewegung ist gut für Diabetiker", "Eine gute Durchblutung zeigt, dass meine Füße gesund sind", "Man rennt doch nicht zum Arzt wegen jeder Lappalie".

Der französische Chirurg René Leriche definiert Gesundheit als ein "Leben in dem Schweigen der Organe" [2]. Für Patient:innen mit Neuropathie und PAVK z. B. fehlen die schmerzhaften Rückmeldungen der "Schaufensterkrankheit". Sie laufen symptomlos in die Ischämie hinein. Der schwarze Zeh überrascht sie dann sehr und erscheint wie aus dem Nichts. Die Empfehlungen zur Therapie wie Druckentlastung, Krankenhausbehandlung, orthopädische Schuhe erscheinen ihnen demnach übertrieben oder gar kontraproduktiv.

Aufgrund von Diabetesschulungen sind Patient:innen sehr früh in der Lage, ihre Diabeteserkrankung und ihre Einflussmöglichkeiten nachzuvollziehen, und können ihr Selbstmanagement an ihren Alltag anpassen. Wir wissen, dass Patient:innen eher eine geeignete präventive Fußpflege betreiben, wenn sie verstanden haben, dass Neuropathie Ulzera verursachen kann, die sich rasant verschlechtern können [3]. Hinzu kommt die schleichende Verschlechterung der sensiblen Gefühlsstörung. Ähnlich der Schwerhörigkeit passierte die Veränderung allmählich. Viele Patient:innen mit Neuropathie behaupten, sie fühlen noch ganz viel, aber wenn sie Druck spüren, ist es oft schon zu spät. Den kleinen Stein im Schuh nehmen sie nicht mehr wahr. Die für sie subjektiv passenden Schuhe sind scheinbar eine Schuhgröße kleiner geworden. Sie geben den Patient:innen ein angenehm "normales" Gefühl. Die empfohlenen Therapieschuhe werden als zu groß erlebt und geben subjektiv nicht genug Halt.

Ein Beispiel: Eine 75-jährige Patientin berichtete: "Auf dem Weg zu Ihnen heute mit den (orthopädischen) Schuhen bin ich im Bus fast gestolpert." [4]

Verlust der sozialen Identität

Die empfohlene Druckentlastung beim Ulkus bedeutet eine erhebliche Einschränkung der üblichen Alltagsaktivitäten bis hin zu Bedrohung der finanziellen Sicherheit und des Gefühls der subjektiven Normalität. Bei Schmerzen würde jeder auf dem Sofa sitzen bleiben. Ohne Schmerzen kann man doch kurz zur Toilette laufen, sich einen Kaffee holen, die nötigsten Aufgaben in der Firma erledigen und sich mit Freunden verabreden, um nicht sozial zu vereinsamen. Die Vernachlässigung solcher üblichen Aktivitäten kann depressiogen wirken [5]. Die Patient:innen stehen über lange Zeit – oft lebenslang – in einem Zwiespalt zwischen den Anforderungen ihrer Füße und den Anforderungen ihres sonstigen Lebens.

Ein Beispiel: Eine Patientin berichtete: "Meine Tochter würde sich um mich kümmern. Ich könnte auf dem Sofa sitzen bleiben. Aber dann würde ich mich selbst nicht mehr mögen. Ich würde depressiv werden." [4] Nach fünf Jahren haben Patient:innen mit DFS und Depression eine zweifach erhöhte Mortalität im Vergleich zu Patient:innen mit DFS ohne Depression [6].

Mangelnde Selbstwirksamkeit

Auch die Patient:innen, die die Folgen der Neuropathie verstehen und bemüht sind, auf ihre Füße zu achten, stoßen an Grenzen. Es ist nicht möglich, immer auf "Gegenstände" aufzupassen, die man nicht spürt. Alex Risse, Chefarzt der Diabetologie in Dortmund, beschreibt dieses Phänomen sehr genau als "Leibesinselschwund" [7]: Die Patient:in kann ihre Füße nicht wahrnehmen, wenn sie sie nicht gerade anschaut oder anfasst oder bewusst darüber nachdenkt. Sie sind Umgebungsbestandteile geworden. Im Gegensatz zu Neglect kann sie sie kognitiv als Teil ihres Körpers anerkennen. Nur sind sie quasi nicht da, wenn sie sie nicht bewusst anschaut.

Ein Beispiel: Ein stationärer, geschulter Patient, dem die schnelle Heilung seines Ulkus aus beruflichen Gründen sehr wichtig war, rieb während der belastenden Phase eines Psychotherapiegespräches seinen linken Fuß auf dem Ulkus des rechten Fußrückens. Als ich ihn darauf hinwies, schaute er unter den Tisch. Anders hätte er nicht wissen können, was seine Füße gerade tun.

Wenn Patient:innen ihre Krankheit verstehen, beschreiben sie ihr Erleben als "ich gehe mit den Augen", "wenn ich aus dem Auto steige, muss ich schauen, wo meine Füße sind" [4]. Auch die geschulte Patient:in, die ängstlich bemüht um ihre Füße ist, kann sich aus Versehen verletzen. Manche Betroffene sind schier verzweifelt, wenn ein Ulkus nach dem anderen auftritt, mit wochenlanger Mehrfach-Antibiose, Arbeitsplatzverlust und sozialer Vereinsamung. In einem negativen Selbstwirksamkeitsloop beobachten sie, wie wenig ihre Bemühungen sie schützen. Solche Patient:innen können in Folge missmutig und gereizt wirken.

Kommunikation mit Menschen mit Neuropathie

Einer der Hauptprädiktoren für eine mangelnde Therapieadhärenz ist eine asymptomatische Erkrankung, aber auch eine schlechte Arzt-Patient-Beziehung [8]. Wenn eine Patient:in nicht versteht, warum ihr Behandler insistiert und eventuell aufgrund der eigenen Hilflosigkeit gereizt reagiert, wird dies ihr Verständnis für die Erkrankung und ihr Vertrauen in die Behandlung nicht verbessern. Ermahnungen können die Verzweiflung und Isolierung von Patient:innen im Umgang mit dieser besonders tückischen Erkrankung verstärken. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum die Patient:in mit DFS den gut gemeinten ärztlichen Rat zunächst manchmal subjektiv nicht erfassen kann.

Gerald Engels, chirurgischer Fußspezialist aus Köln, sagt (pers. Mitteilung): "Was belastet werden kann, wird belastet." Diese Aussage von einem sehr erfahrenen DFS-Spezialisten macht deutlich, dass es am besten ist, wenn Behandler sich an die enormen Schwierigkeiten sowohl des Krankheitsverständnisses wie auch der praktischen Umsetzung der Patient:innen anpassen und praktische Lösungen für diese lebenslangen Einschränkungen mit der Patient:in gemeinsam suchen – ohne moralischen Impetus.

Um Gespräche mit Patient:innen mit DFS etwas leichter zu gestalten, ist es hilfreich, folgende Fragen zu stellen:
  1. Was wissen Sie über Ihren Fuß/Ihre Erkrankung? Womit haben Sie bisher gute/schlechte Erfahrungen gemacht?
  2. Können Sie, bis wir uns wiedersehen, gar nicht auf Ihren Fuß auftreten? Gehen Sie Ihren Alltag durch. Wo wird es gehen? Wo sehen Sie Schwierigkeiten?

Am wichtigsten ist es, Menschen mit einer lebenslangen sehr einschränkenden Erkrankung, die ihre Fähigkeit zum Selbstschutz aufgehoben hat, mit Verständnis und Fürsorge zu begegnen.

ESSENTIALS – Wichtig für die Sprechstunde
  • Bei der diabetischen Neuropathie fällt der Schmerzreiz aus der Peripherie vollständig aus.
  • Menschen mit wenig Wissen über chronische Erkrankungen urteilen nach subjektiven Kontrolltheorien.
  • Die sensible Gefühlsstörung entwickelt sich schleichend.


Literatur:
1. Leventhal H, Meyer D, Nerenz D. The common sense model of illness danger In: Rachman S, editor, Medical psychology. Vol. 2 New York (NY): Pergamon; 1980. p. 7–30
2. Canguilhem G. The Normal and the Pathological. New York: Zone Books (1991)
3. Vileikyte L. Psychosocial and behavioral aspects of diabetic foot lesions. Curr Diab Rep. 2008. April;8(2):119– 125
4. Woods et al. Documentation of psychosocial therapy barriers to offloading in patients with diabetes foot syndrome at risk for recurrent ulceration. 2005, Poster DFSG Thessaloniki
5. Vileikyte et al., Diabetic peripheral neuropathy and depressive symptoms: the association revisited. Diabetes Care (2005), 28,10
6. Winkley K, Sallis H, Kanyawasam D et al, Five-year follow-up of a cohort of people with their first diabetic foot ulcer: the persistent effect of depression on mortality. Diabetologica 2012 Feb (2): 303-10
7. Risse A. Anthropologische Bedeutung der Polyneuropathien für Patienten und Versorgung. Der Diabetologe. 2(2):125-131
8. Osterberg L & Blaschke T, Adherence to medication. N Engl J Med 2005;353:487-97


Autorin

© privat
Dipl. Psych. Susan Clever

Psychol. Psychotherapeutin, Psychodiabetologie, Fachpsychologin DDG
Diabetespraxis Blankenese
22587 Hamburg

Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (4) Seite 44-46