Eines sei gleich klargestellt: Auch Menschen mit Diabetes dürfen Alkohol trinken! Moderater Weingenuss im Rahmen einer mediterranen Ernährung hat sogar herzschützende Effekte, wie aktuelle Studien zeigen. Doch fehlende Informationen dazu in Leitlinien und Diabetes-Schulungen – dort wird hauptsächlich vor dem Hypoglykämierisiko gewarnt – sorgen bei Diabetespatienten und Diabetologen gleichermaßen für Verunsicherung und Verwirrung.
Trotz belastbarer Evidenzbasis kommt das Kulturgut der europäischen "Diät" (altgriechisch: díaita [1]) mit einem auf die Erkrankung abgestimmten Verhalten in mehreren Lebensbereichen – Speisen, Getränke Sport, Schlaf und Sexualität – sowie seinem Kernbestandteil, dem moderaten Weingenuss, in diabetologischen Leitlinien und Diabetes-Schulungsprogrammen zu kurz. Für Betroffene und Betreuer ist das nicht hinnehmbar. Denn: Die zurückliegende Dekade hat für die medikamentöse Therapie des Typ-2-Diabetes zu einem Paradigmenwandel weg von Surrogatparametern hin zu klinischen Endpunkten geführt sowie zur Bevorzugung von Substanzen mit belegbarem Vorteil für den Patienten [2].
Auch in der nicht-medikamentösen Therapie findet ein Paradigmenwandel statt, bei dem die quantitative Betrachtung und Begrenzung von Einzelnahrungsbestandteilen und Makronährstoffen (Kalorien, Fette, Kohlenhydrate, Äthanol etc.) zugunsten einer qualitativen Bewertung gesundheitsfördernder Nahrungsmittel und Ernährungsstile in den Hintergrund tritt [3 – 7]. Leider ist der Teil der Leitlinien, der sich mit der Lebensweise als Komponente der Diabetesbehandlung beschäftigt, zuweilen widersprüchlich und nicht auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft [2, 6, 7]. So kann als gesichert gelten, dass steigende Adhärenz zum mediterranen Ernährungsstil (vgl. Abb. 1) mit einer Abnahme der Diabetes-inzidenz und vor allem der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität einhergeht [8 – 10].
Die Adhärenz ist mit einem einfachen 14-Punkte-Fragebogen im Rahmen einer detaillierten Ernährungsanamnese messbar und lässt sich in der Diabetikerschulung und der Ernährungsberatung einsetzen (Tabelle 1) [11]. Moderater Weingenuss wird dabei als einer von neun gesundheitsfördernden Bestandteilen der mediterranen Ernährung erfasst.
- Zwischen schädlichem Alkoholkonsum (einschließlich der Suchterkrankung) einerseits und moderatem Weingenuss im Rahmen eines mediterranen Ernährungsstils andererseits ist zu differenzieren.
- Zwischen destillierten (Spirituosen) und vergorenen (Wein und Bier) Getränken ist zu differenzieren.
- Das Phänomen der dosisabhängigen Effektumkehr (Hormesis oder J-Kurve) ist allen alkoholischen Getränken gemein. So unterliegen Abstinente, vor allem aber jene mit schädlichem Alkoholkonsum und Suchtkranke im Vergleich zu Personen mit moderatem Weingenuss höheren Gesundheitsrisiken.
In den Leitlinien wird dagegen einseitig fast ausschließlich vor dem Schadens- und Suchtpotenzial des übermäßigen Alkoholkonsums und vor der Hypoglykämiegefahr gewarnt [5, 7]. Der belegte Gesundheitsnutzen des moderaten Konsums wird ebenso wie die Schaden-/Nutzenbilanz unterschiedlicher alkoholischer Getränkearten [12] und Trinkmuster [13] nicht thematisiert. Auch fehlt der Hinweis auf das Phänomen der dosisabhängigen Effektumkehr (Hormesis oder J-Kurve), die als Schlüssel zur Frage des "rechten Maßes" für beide Diabetestypen gesichert ist [12, 14]. Gleichzeitig überbieten sich hochrangige Journale mit globalen Großstudien minderer Evidenz, aber mit hohem ideologischem Anspruch, die jeglichen risikofreien Alkoholkonsum negieren und vollständige Abstinenz für alle fordern [15, 16].
Wein und Stoffwechsel
Schon Carl von Noorden hat mit seinen Hafertagen und der täglichen Gabe von Alkohol (Wein zu den Hauptmahlzeiten) bei seinen Diabetespatienten die Glukoseausscheidung fast halbiert [17]. Heute wissen wir, dass dem ein komplexes Zusammenspiel aus Äthanoleffekten sowie Effekten sekundärer Pflanzenstoffe (Polyphenole, Flavonoide und Stilbene sind mit einer reduzierten Diabetesprävalenz assoziiert [18]) zugrundeliegt [19 – 21]. Äthanol wirkt sich bereits in geringen Mengen umfassend auf den Stoffwechsel aus. Es kommt zu einem obligat bevorzugten Äthanol-Abbau bei gleichzeitig gebremster Lipid-Oxidation, einer insulinunabhängigen Antilipolyse sowie einem Redox- und Substrat-Shift.
Für die ADVANCE-Studie, eine der drei großen Diabetesstudien [22, 23], liegen von 30 % der 11.140 Teilnehmer Daten aus Fragebögen zu Trinkverhalten und -menge vor, die in einer Post-hoc-Subgruppenanalyse korreliert wurden [24]. Bei moderatem Alkoholkonsum waren im Fünf-Jahres-Vergleich mit der abstinenten Kohorte kardiovaskuläre Ereignisse, mikrovaskuläre Komplikationen und Gesamtmortalität jeweils um 17, 15 und 13 % signifikant vermindert. Dieser Befund ist bei moderatem Weinkonsum mit 22, 15 und 23 % relativer Risikoreduktion noch deutlicher (Tabelle 2). Bei größeren Trinkmengen verschwindet der kardiovaskuläre Vorteil: Starke Trinker hatten im Vergleich zu den Abstinenten ein dosisabhängig höheres Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und Tod. Allerdings sind die Daten vorsichtig zu interpretieren, u. a. wegen der mutmaßlich hohen Teilnehmerzahl mit genetischer Alkoholunverträglichkeit (Asian Flush Syndrome [25]).
Die CASCADE-Studie [26] untermauert den günstigen Effekt moderaten Weinkonsums bei 224 zielgerecht behandelten Typ-2-Diabetikern. Die Probanden konsumierten zwei Jahre im Rahmen einer ernährungsmedizinisch begleiteten isokalorischen mediterranen Ernährung entweder 150 ml Rot- oder Weißwein oder Mineralwasser zum Abendessen. Die Effekte auf das Lipidprofil reproduzieren hauptsächlich die von moderatem Weingenuss bekannten Veränderungen – mit leichten Vorteilen zugunsten des Rotweins. Signifikante Unterschiede gab es beim Blutdruck und bei den glykämischen Parametern (HbA1c, Nüchtern-Plasmaglukose, Insulin), die nahelegen, dass es sich um äthanolvermittelte Effekte handelt. Dagegen beobachtete man weder eine Gewichtszunahme noch eine veränderte Fettverteilung [27, 28].
In der PREDIMED-Studie [10] wurden 7.447 Personen mit Typ-2-Diabetes (ca. 50 %) oder hohem kardiovaskulärem Risiko in drei Gruppen randomisiert: fettreduziert (Kon-
trollgruppe) und zwei Gruppen mit mediterraner Ernährung, die zusätzlich Olivenöl oder Nüsse erhielten (Beobachtungszeitraum: 4 Jahre). Die ernährungsmedizinische Begleitung beinhaltete vor allem die 14 Kriterien aus Tabelle 1. Die Nr. 8 – "pro Woche mindestens sieben Gläser Wein jeweils zur Mahlzeit" – erfüllte ein Viertel der Teilnehmer in der Kontroll-, ein Drittel in der mediterranen Gruppe. Der primäre Endpunkt (kardiovaskulärer Tod, tödlicher/nicht tödlicher Herzinfarkt/Schlaganfall) wurde in beiden mediterranen Ernährungsgruppen innerhalb von 4,8 Jahren um etwa 30 % reduziert.
- geringer Konsum von Fleisch und Fleischprodukten sowie Milch und Milchprodukten
- hoher Konsum von Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Nüssen, Fisch und Olivenöl
- moderater Weingenuss (♀ 10 – 20 g ♂ 20 – 40 g), Daumenregel: 1/8 l Wein ≡ 10 g Äthanol
Die MOLI-SANI-Kohortenstudie [8] zeigte bei 1.995 Diabetikern, dass die Mortalität mit steigender Adhärenz zur mediterranen Ernährung abnimmt und moderater Weingenuss hier das Einzelmerkmal mit dem höchsten erzielbaren Vorteil von allen mediterranen Nahrungsmitteln ist [8]:
Moderater Alkoholkonsum als Wein zu den Mahlzeiten ist "die Komponente der mediterranen Ernährung mit dem größten günstigen Einfluss auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit von Diabetikern".
Wir sollten unsere Diabetespatienten keineswegs undifferenziert ermuntern, Alkohol zu trinken. Eine ausgewogene Beratung und Schulung erfordert aber die Information, dass moderater Weingenuss zu den neun empfehlenswerten Teilaspekten des mediterranen Ernährungsstils gehört. Verantwortungsbewusster Umgang mit Alkohol schließt ein bis zwei Abstinenztage/Woche, völlige Abstinenz für Schwangere und bei Suchtproblematik sowie ggf. im Hinblick auf Medikamenteninteraktionen ein.
- Durch den Kaloriengehalt des Äthanols und der Kohlenhydrate sind alkoholische Getränke für den Stoffwechsel relevante Energieträger. So hat beispielsweise das
- Glas Pils 126 kcal und 9 g Kohlenhydrate (d. h. weitere 36 kcal), Glas Rotwein 106 kcal und je nach Restsüße nur 1 – 3 g Kohlenhydrate, (d. h. weitere 4 – 12 kcal)
- während der Weinbrand pro 25 ml mit 90 kcal ohne Kohlenhydrate zu Buche schlägt.
Interessenkonflikte: Der Autor hat den diesem Manuskript zugrunde liegenden Vortrag am 25.02.2020 auf dem BDI-Intensivkurs "Diabetologie Update 2020" in Salzburg gehalten. Der Vortrag war nach den Richtlinien des BDI honoriert. Der Autor ist ehrenamtliches Mitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Weinakademie.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (13) Seite 18-19