Im Fach Humanmedizin sind knapp zwei Drittel der Studierenden weiblich, nach der Approbation liegt der Anteil der Medizinerinnen bei ca. 48 %. Man könnte also vermuten, dass die Gleichberechtigung in der Medizin endlich angekommen ist. Aber entspricht das wirklich der Realität in der niedergelassenen Arztpraxis?

Positives vorab: Gute Entwicklungen gibt es bei den Arbeitszeiten und beim Zugang zu Führungspositionen zu vermelden. Laut dem „Medscape Gleichstellungs­report“ bestätigen 41 % der Ärztinnen und 54 % der Ärzte Verbesserungen bei den Arbeitszeiten. Mehr als die Hälfte der Frauen (55 %) und Männer (59 %) beobachtet zudem ­positive Entwicklungen bei Teilzeitangeboten, was als Zeichen für mehr Flexibilität gewertet werden könnte. Auch bei den Führungspositionen scheint sich etwas zu bewegen. Demnach arbeiten 42 % der Medizinerinnen und 61 % der Mediziner in einer Führungsposition. Weitere 18 % bzw. 15 % geben an, Teammitglieder zu beaufsichtigen. Nicht eindeutig ist die Lage bei den tatsächlichen Karriere­möglichkeiten: 19 % der Frauen bejahen für 2021 positive Entwicklungen, bei den Männern sind es mit 44 % aber mehr als doppelt so viel. Dazu passt, dass mehr Frauen (39 %) als Männer (24 %) aktuell eine Beförderung anstreben. Gleichzeitig fühlen sich jedoch erschreckend viele Ärztinnen (60 %) im Beruf benachteiligt. Hinzu kommt, dass die Auswirkungen der Coronapandemie Frauen deutlich härter treffen: 40 % der Ärztinnen beobachten Verschlechterungen für Frauen (und 10 % der Ärzte). Nachteile für Männer sehen lediglich 7 % der Ärzte und keine einzige der befragten Ärztinnen.

Corona verändert aber auch die persönliche Einstellung zum Arztberuf − in positiver Hinsicht: Gesundheit und Work-Life-Balance rücken mehr in den Vordergrund. Gleichzeitig sind immer weniger Mediziner bereit, den zusätzlichen Druck von Patientenseite auf ihren alleinigen Schultern zu tragen. Insbesondere da es vermehrt zu verbaler und körperlicher Gewalt in den Arztpraxen kommt.

Die niedergelassene Arztpraxis scheint perfekt für Medizinerinnen, die nach Vereinbarkeit von Familie und Arztberuf streben: z. B. durch mehr Selbstbestimmung und Flexibilität, weniger Wochenend- und Nachtschichten. Das bestätigt Prof. Dr. med. Nicola Buhlinger-Göpfarth, (seit 19 Jahren eigene Niederlassung als Hausärztin mit vier Kolleginnen; zuvor in einem Klinikum in der Gynäkologie tätig): Die dreifache Mutter erinnert sich noch gut, wie ihr Ehemann samstags mit den Kleinen in die Klinik kam, „einfach, damit man sich überhaupt mal gesehen hat“. Sie macht Mut, findet aber auch, man dürfe als Medizinerin nicht den Fehler machen zu denken, „alles ist easy“.

Der Wechsel in die eigene Praxis bringt viel Verantwortung mit sich: für sich, aber auch für das eigene Team. Neben finanziellen Themen (z. B. Steuer, Altersvorsorge) sollte man auch die Verantwortlichkeiten in der eigenen Partnerschaft im Blick behalten.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Der Personalmangel im Sektor Gesundheit, Pflege und Soziales entwickelt sich immer mehr weg vom Fachkräftemangel hin zu einem gravierenden generellen Arbeitnehmermangel. Gleichzeitig liegt die zunehmend schwierige Lage bei der Gesundheitsversorgung nicht nur am steigenden Kostendruck, sondern auch an der geringeren Verfügbarkeit von qualifizierter Arbeitskraft. Zur Sicherung der eigenen langfristigen Wirtschaftlichkeit, aber auch der Gesundheitswirtschaft insgesamt sollten wir wegkommen von einem Ausschluss weiblicher Bewerber aufgrund von Geschlecht und/oder Alter (inkl. „zu gebärfähig“) hin zu generationen- und gendergerechten Teams. Das ist eine große gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In der Niederlassung könnte sie aber bereits heute darüber mitentscheiden, ob der Sprung zur Medizin der Zukunft gelingt.


Literatur
1. Medscape Gleichstellungsreport 2021: 60 % der Ärztinnen fühlen sich im Beruf benachteiligt – Corona hat die Job-Situation für Frauen weiter verschlechtert, November 2021
2. AB-KURZBERICHT 1/2022: Der Weg nach ganz oben bleibt Frauen oft versperrt, Januar 2022
3. ifo Schnelldienst: Wo steht Deutschland 2022 bei der Gleichstellung der Geschlechter? März 2022


Autorin:
Sabine Mack

Erschienen in: DERMAforum, 2022; 26 (6) Seite 10