Was ist zu tun bei einem bisher nicht geimpften Erwachsenen bzw. einer Person ohne Impfpass? Das Problem stellt sich z. B. häufiger bei Flüchtlingen ohne jegliche Dokumente. Soll man die Grundimmunisierung für Tetanus, Diphtherie, Pertussis und Polio mit einem Kombinationsimpfstoff durchführen, obwohl diese nur für die Auffrischung zugelassen sind? Welche Patienten sollten gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft werden?

Gemäß STIKO gilt eine nicht dokumentierte Impfung als nicht durchgeführt. Flüchtlinge stellen eine besondere Risikogruppe dar, sollten also "großzügig" die Standardimpfungen erhalten.

Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Polio

Leider ist bisher keiner der verfügbaren Kombinationsimpfstoffe für die Grundimmunisierung zugelassen, obwohl der Gehalt an Tetanus- und Diphtherieantigen dem Td-Impfstoff entspricht. Ich würde bei Erwachsenen die ersten beiden der drei Impfungen "off label" nach entsprechender Aufklärung als Tdap-IPV-Impfung geben. Das entspricht auch der aktuellen (August 2014) STIKO-Empfehlung: "Erwachsene sollten die nächste fällige Tetanus-Impfung einmalig als Tdap-Kombinationsimpfung erhalten, bei entsprechender Indikation als Tdap-IPV-Kombinationsimpfung."

Eine "routinemäßige" Polio-Auffrischung wird derzeit in Deutschland (noch) nicht empfohlen. Klar indiziert ist die Impfung aber nach STIKO für "Aussiedler, Flüchtlinge und Asylbewerber, die in Gemeinschaftsunterkünften leben bei Einreise aus Gebieten mit Poliomyelitisrisiko". Dies ist derzeit neben Pakistan in vielen afrikanischen Ländern der Fall.

Die Empfehlung gilt also praktisch für alle Flüchtlingsheime. Diese sollen ohne Nachweis einer Grundimmunisierung "wenigstens zwei Dosen IPV" erhalten. Wichtig: Auch das Personal der Gemeinschaftseinrichtungen sollte gegen Polio geimpft sein!

Zu den Reisenden: Alle Reisenden in Polio-Risikogebiete sollten eine Auffrischimpfung erhalten – nach STIKO alle zehn Jahre. In Deutschland ist – wegen des niedrigen Risikos einer vakzineassoziierten paralytischen Poliomyelitis (VAPP) – kein oraler Polio-Lebendimpfstoff mehr zugelassen. Sämtliche Impfungen sollten mit IPV erfolgen.

Abweichend von der STIKO fordert Pakistan wegen der extremen Häufung von Poliomyelitis im Land eine (orale) Impfung, die maximal ein Jahr alt sein darf! Empfehlung: Reisende nach Pakistan sollten mit IPV-Impfstoff geimpft werden, dies sollte dann als "Vaccination against Poliomyelitis" im Impfausweis dokumentiert werden.

Gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Kombinationsimpfstoffen? Dazu ist zu sagen, dass der Kombinationsimpfstoff der Firma Pfizer mehr Pertussisantigen enthält. Da die derzeit verwendete azelluläre Vakzine schlechter wirksam ist als die früher verwendete Ganzzellvakzine, ist der Schutz durch den erhöhten Antigengehalt möglicherweise etwas besser.

Masern, Mumps, Röteln (MMR)

Zu Masern (und Mumps) nimmt die STIKO eindeutig Stellung: "Alle nach 1970 geborenen Personen mit unklarem Impfstatus, ohne Impfung oder mit nur einer Impfung in der Kindheit, in Gesundheitsdienstberufen, Gemeinschaftseinrichtungen oder Ausbildungseinrichtungen – also de facto fast alle "U45er" sollten einmalig mit einem MMR-Impfstoff geimpft werden. Die Impfung gegen Röteln bekommen also auch die Männer dazu, sie schützen damit indirekt ihre – möglicherweise schwangeren – Frauen.

Aktuell steigt die Zahl der Masernerkrankungen in Berlin weiter an. Laut Focus Online vom 29.3.2015 wurden dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales insgesamt 925 Fälle seit Beginn des Ausbruchs im Herbst gemeldet. Ein Ende der Masernwelle in Berlin ist nicht in Sicht und auch in Thüringen sieht es schlecht aus. Der Grund für den Anstieg liegt im Masern-Ausbruch an einer Erfurter Schule. Allein dort erkrankten seit Ende Februar den Angaben zufolge 36 Schüler im Alter von 7 bis 15 Jahren. Auch Sachsen hatte von einer steigenden Masernzahl berichtet. Anfang des Jahres wurde wegen eines Ausbruches in einem Asylbewerberheim eine Grundschule geschlossen.

Eltern können sich ab sofort auch beim Kinderarzt gegen Masern impfen lassen und Frauenärzte können auch begleitende Männer impfen. Auf diese Art sollen unkompliziert Impflücken in der Bevölkerung geschlossen werden. Da es sich um eine Lebendimpfung handelt, müssen Kontraindikationen, insbesondere Immunsuppression, beachtet werden.

Die Masern-Welle, die in Berlin ausbrach, hat eine bundesweite Diskussion um eine Masern-Impfpflicht entfacht. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e. V. fordert sogar, einen vollständigen altersentsprechenden Impfschutz gemäß STIKO-Empfehlungen als verpflichtende Voraussetzung für den Besuch von Schulen, Kindergärten und Kinderkrippen zu etablieren und berufsrechtliche Schritte gegen Ärzte einzuleiten, die von Impfungen abraten.

Varizellen

Erforderlich ist eine zweimalige Impfung im Mindestabstand von vier bis sechs Wochen für
  • alle seronegativen Frauen mit Kinderwunsch
  • seronegative Patienten vor geplanter immunsuppressiver Therapie oder Organtransplantation
  • empfängliche Personen (seronegativ) mit schwerer Neurodermitis
  • empfängliche Personen mit engem Kontakt zu den oben genannten Personengruppen
  • seronegatives Personal in Gesundheitseinrichtungen
  • Neueingestellte in "Gemeinschaftseinrichtungen für das Vorschulalter" (Kindergärten)

Der Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizellen (Priorix Tetra®) ist leider nur bis zum 13. Lebensjahr zugelassen.

Als Lebendimpfstoff sind auch bei der Varizellenimpfung Kontraindikationen zu beachten. Diese sind:
  • Chemotherapie
  • mehr als 20 mg/Tag Prednisolonäquivalent
  • HIV mit < 200 CD4-Zellen
  • Methotrexat > 0,4 mg/kg/Woche (ACIP-Empfehlung)
  • Azathioprin < 3 mg/kg/Tag (ACIP-Empfehlung)
  • 6-Mercaptopurin > 1,5 mg/kg/Tag (ACIP-Empfehlung)

Im Zweifelsfall gilt: Falls klinisch möglich sollte das Immunsuppressivum abgesetzt und mindestens fünf Halbwertszeiten bis zur Impfung abgewartet werden.

Viele in der Rheumatologie verwendeten Antikörper verursachen eine langanhaltende Immunsuppression, die ebenfalls eine Kontraindikation für Lebendimpfungen darstellt.

Die Impfsprechstunde

Teil 1: Mindestabstände von Impfungen

Teil 2: „Echte“ und „falsche“ Kontraindikationen

Teil 3: Vorgehen bei ungeimpften Erwachsenen

Teil 4: Zoster-Impfung: wann und für wen?

Teil 5: Impfungen in der Schwangerschaft

http://Teil6: STIKO-Empfehlungen 2015

Teil 7: Influenza: Für jeden der passende Impfstoff



Autor:

© copyright
Dr. med. Andreas H. Leischker, M.A.

Facharzt für Innere Medizin – Reisemedizin (DTG), Flugmedizinischer Sachverständiger
Alexianer Krefeld GmbH
47918 Krefeld

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (9) Seite 60-62