Erst die noch andauernde Corona-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine – von beiden Krisen waren und sind auch die Hausärzt:innen unmittelbar betroffen. Vor diesem Hintergrund trafen sich die Delegierten des Deutschen Hausärzteverbands (DHÄV) in Hannover, um über die Zukunft der hausärztlichen Versorgung zu diskutieren. Im Fokus standen dann aber weniger die aktuellen Krisen als vielmehr das leidige Thema Digitalisierung und die damit verbundenen Probleme.

Zu Beginn erinnerte Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des DHÄV, an die bedrückenden Folgen des Ukraine-Kriegs auch für die Hausärzt:innen in Deutschland. Die Hausärzt:innen würden auch in Zukunft alles tun, um dazu beizutragen, dass die Geflüchteten die medizinische Hilfe bekommen, die sie brauchen, erklärte er und forderte die Politik auf, die notwendigen Rahmenbedingungen sicherzustellen, damit für die Hausärzt:innen nicht zusätzliche Belastungen entstehen.

Hausärzt:innen müssen Fehler der Politik ausbügeln

Denn Belastungen gebe es schon genug, z. B. die Bewältigung der Corona-Pandemie. Kaum gute Worte fand der Hausärzte-Chef zum Pandemie-Management der Bundesregierung. Die Hausarztpraxen hätten sowohl bei der Versorgung der Patientinnen und Patienten als auch im Rahmen der Impfkampagne Außergewöhnliches geleistet und tun dies immer noch. Dabei hätten sie nicht selten die Fehler der Politik ausbügeln müssen. So befinde sich Deutschland auch nach zwei Jahren Pandemie immer noch im Daten-Blindflug, und bei der Bewertung der Pandemie-Situation sei keine konsistente Strategie erkennbar. Mangelhaft war und bleibe auch die Kommunikation der Verantwortlichen in der Politik, und nach wie vor fehle die Einbindung der hausärztlichen Expertise im Expertenrat der Bundesregierung, beklagte der DHÄV-Chef. "Wir fordern von den Verantwortlichen, dass sie jetzt die notwendigen Vorbereitungen treffen, damit wir im kommenden Herbst nicht erneut mit den altbekannten Problemen zu kämpfen haben."

Und schon öffnete sich der Blick auf ein weiteres Ärgernis oder – wie Weigeldt es nannte – ein Ei, das die Politik den Hausärzt:innen so ganz nebenbei ins Nest gelegt habe: So sollen Apotheker:innen zukünftig nicht nur Corona-Impfungen vornehmen dürfen, sondern auch gegen Grippe impfen. Versorgungspolitisch mache das allerdings keinen Sinn, so Weigeldt, das würden sogar viele Apotheker:innen so sehen. Folgerichtig forderte die Delegiertenversammlung des DHÄV in einem der Beschlüsse den Gesetzgeber auf, das Impfgeschehen zum Wohle der Patient:innen in ärztlicher Hand zu belassen. Das Impfen in Apotheken als Teil der Regelversorgung oder auch nur in Modellvorhaben lehnten die Delegierten ab.

Pleiten, Pech und Pannen

So schon etwas erhitzt widmete sich der DHÄV-Bundesvorsitzende schließlich der eigentlichen Großbaustelle der Gesundheitspolitik: der Digitalisierung. Die Telematik-Infrastruktur (TI) sei eine Aneinanderreihung von Pleiten, Pech und Pannen, deren Leittragende die Ärzt:innen und ihre Patient:innen seien. Von den angekündigten großen Visionen und Strategien sei bisher nichts in den Praxen angekommen, was schade sei, denn gut funktionierende digitale Anwendungen könnten Hausärzt:innen und die Praxisteams spürbar entlasten.

Digitalisierung ist nicht per se schlecht, aber …

Ulrich Weigeldt forderte, dass die digitalen Instrumente in der Praxis der Versorgung nützen müssten und keinen zusätzlichen Aufwand allein zum Nutzen der Krankenkassen hervorrufen dürften. Unausgereifte Produkte wie das eRezept, die eAU oder die elektronische Patientenakte dürften den Praxen nicht aufoktroyiert werden und schon gar nicht mit der Androhung von Strafzahlungen. Unter dem stürmischen Beifall der Delegierten legte er noch einmal nach: "Wir sind nicht die Betatester der Nation!"

… sie bietet derzeit keinen Anlass zur Euphorie

Weigeldt betonte aber auch gleich, dass die Hausärzt:innen keine grundsätzlichen Digitalverweigerer seien. Tatsächlich gebe es aber eben auch keinen Grund zur Euphorie. So sei der geplante Austausch der Konnektoren wieder einmal ein Musterbeispiel deutscher Bürokratie. Die Telematik-Infrastruktur mache derzeit mehr Aufwand als sie nütze, ein Mehrwert für die Patientenversorgung sei de facto nicht erkennbar. Unter diesem Aspekt seien aktuelle Forderungen aus Investorenkreisen zur Etablierung einer neuen Versorgungsebene "Digitale Medizin" strikt abzulehnen. Noch immer gelte: Wer einen schlechten Prozess digitalisiert, bekommt einen schlechten digitalen Prozess, so Weigeldt. Er kündigte an, dass eine eigene Arbeitsgruppe zur Digitalisierung im DHÄV gebildet wurde, die sich mit diesem Thema intensiv befassen werde.

Der Ökonomisierung der Medizin Einhalt gebieten

Zum Ende seines Lageberichts richtete der DHÄV-Bundesvorsitzende seinen Blick auf ein Thema, das Ärzt:innen zukünftig womöglich immer mehr beschäftigen wird: die Ökonomisierung der Medizin und die mögliche Abhängigkeit medizinischer Entscheidungen von den Renditeerwartungen der Investoren. Anlass dazu bot die aktuelle Diskussion um investorenbetriebene Medizinische Versorgungszentren (MVZ) insbesondere bei Ophthalmologen und Zahnärzten. In diesen Fachgebieten sollen Investoren bereits hunderte, möglicherweise sogar tausende Arztsitze in Deutschland aufgekauft haben.

Die von Investoren geführten Ketten böten Mediziner:innen für ihre Arztsitze oft hohe Beträge und drängten so andere aus dem Markt. Angestellte würden von einem hohen wirtschaftlichen Druck berichten, der auf sie ausgeübt werde, damit sie vermehrt betriebswirtschaftlich attraktivere Leistungen erbringen, während sie weniger attraktive Leistungen vernachlässigen, heißt es in der Studie des IGES Instituts aus dem Jahr 2020. Auch eine weitere, aktuelle Untersuchung des Instituts zu anderen medizinischen Fachbereichen kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung: Praxen, die Finanzinvestoren gehören, rechnen höhere Kosten für vergleichbare Behandlungen ab.

Für Ulrich Weigeldt ist klar, dass sich auch Allgemeinmediziner:innen mit diesem Problem intensiv auseinandersetzen müssen, nicht zuletzt, weil es für den hausärztlichen Nachwuchs von großer Bedeutung sein wird. Denn viele junge Ärzt:innen strebten zunächst eine Anstellung an, weil sie das vermeintliche Risiko einer Praxisgründung scheuten. Hier stehe man vor der Aufgabe, kooperative Formen der Berufsausübung von Hausärzt:innen zu entwickeln, bei denen die Ärzt:innen das Sagen haben und nicht die Controller. Eine Ausbreitung der Kommerzialisierung der Medizin auf den hausärztlichen Bereich müsse verhindert werden, so Weigeldt. In der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) sieht der Hausärzte-Chef einen wichtigen Baustein hierfür. Man wolle dieses "freiwillige Primärarztsystem" deshalb weiterentwickeln und ausbauen, denn die Anstrengung lohne sich.


Die wichtigsten Beschlüsse der Frühjahrstagung des DHÄV

Versorgung von Geflüchteten aus der Ukraine

… die flächendeckende Ausgabe von elektronischen Gesundheitskarten an Geflüchtete schnell und bundeseinheitlich umzusetzen. Ebenso dürfen keine Risiken für Hausärzt:innen bestehen, dass bestimmte Leistungen nachträglich nicht erstattet werden.

Sprechende Medizin fördern

… im EBM eine angemessene Vergütung und Förderung der sprechenden, zugewandten und lebenslang begleitenden Medizin, wie sie in hausärztlichen Praxen erbracht wird, sicherzustellen.

Steuerfreien MFA-Bonus ermöglichen

… die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Sonderzahlungen für MFA in den ambulanten (hausärztlichen) Praxen zumindest steuer- und abgabenfrei erfolgen können.

Digitalisierung

… dass bei den im deutschen Gesundheitswesen genutzten IT-Systemen, Software und digitalen Anwendungen Interoperabilität gewährleistet wird. Ziel muss es sein, dass Hausärzt:innen unabhängig von dem von ihnen gewählten PVS-System ergänzende Hard- und Software von jeglichen Anbietern nutzen und in ihr PVS integrieren können.
… dass die gematik die sogenannte TI 2.0 zeitnah umsetzt, sodass auf die Nutzung von Hardware-Konnektoren vollständig verzichtet werden kann. Unabhängig davon, ob ein Austausch der Konnektoren oder eine Erneuerung oder Aktualisierung der Sicherheitszertifikate erforderlich ist, sind die Arztpraxen von den dafür anfallenden Kosten freizustellen bzw. sind die dafür erforderlichen Zeitaufwände für das Praxispersonal zu erstatten. Jegliche Neueinführungen von Chipkarten, Technik und sonstigen IT-Komponenten sollten erst nach umfassenden Testungen in der Versorgung über mindestens 6 Monate vorgenommen werden.

Stärkung der Allgemeinmedizin

… die Umsetzung der Reform der Ärztlichen Approbationsordnung endlich voranzutreiben. Wichtig dabei ist vor allem die Stärkung der Allgemeinmedizin während des Medizinstudiums, so wie es der Masterplan 2020 vorgibt. Der Hausärzteverband wendet sich gegen jegliche Verwässerung dieses Ziels.

Regresse

… die Regresse bei den Arzneimittelverordnungen in der vertragsärztlichen Versorgung komplett abzuschaffen. Auf jeden Fall sollten jedoch die Bagatellgrenzen bei den Arzneimittelregressen auf eine angemessene Höhe angehoben werden, sodass Klein- und Kleinstbeträge keine umfänglichen Prüfverfahren auslösen.

Regulierung von Medizinischen Versorgungszentren

… die Einführung eines MVZ-Transparenzregisters, aus dem sich auch die nachgelagerten Inhaberstrukturen ergeben. Eine Kennzeichnung der Inhaberstrukturen muss auch auf dem Praxisschild erfolgen.

… die vorrangige Berücksichtigung niederlassungswilliger Ärzt:innen gegenüber MVZ in Praxisnachbesetzungsverfahren,

… die Begrenzung der Zahl der ärztlichen Angestellten auch für MVZ,

… die Schaffung der Vorgabe, dass Vertragsärzte über die Mehrheit der Gesellschaftsanteile und Stimmrechte der MVZ-Trägergesellschaft verfügen bzw. die Entscheidungsstrukturen einer MVZ-Trägergesellschaft in Händen von Vertragsärzten liegen,

… die Beschränkung der Gründungsbefugnis für MVZ von Krankenhäusern und die Schaffung der Vorgabe, dass ein Krankenhaus-MVZ nur noch in räumlicher Nähe zu dem gründenden Krankenhaus möglich ist,

… die Feststellung der Unzulässigkeit des Abschlusses von Gewinnabführungs- oder Beherrschungsverträgen mit natürlichen oder juristischen Personen durch MVZ, die in der Rechtsform einer GmbH geführt werden,

… die Streichung der Möglichkeit des Zulassungsverzichts zugunsten eines MVZ.



Autor
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (6) Seite 26-28