60 Jahre wird der Deutsche Hausärzteverband (DHÄV) in diesem Jahr, und eigentlich wollte man dieses Jubiläum entsprechend feierlich begehen. Doch hier hat die Corona-Pandemie dem Verband einen Strich durch die Planung gemacht. So fand der 41. Deutsche Hausärztetag in Berlin nur in kleinem Rahmen statt – aber immerhin als Präsenzveranstaltung. Diskutiert wurden nicht nur die Auswirkungen der Pandemie auf die Hausarztpraxen, sondern auch das leidige Thema Digitalisierung. Und da gab es auch gleich neuen Anlass zur Empörung.

Wie bei jedem anständigen Jubiläum sollte man dem Jubilar zunächst einmal zu seinem Geburtstag gratulieren. Ulrich Weigeldt, der Bundesvorsitzende des DHÄV, übernahm diese Aufgabe gleich mal selbst: "Wir können stolz sein auf einen gestandenen Berufsverband, der gerade in der aktuellen Krise Handlungsfähigkeit zeigt und sich hoher Anerkennung in Politik, Medien und den Selbstverwaltungsorganen erfreut."

Hausärzte haben sich gut geschlagen

Lob gab es aber auch für die Hausärztinnen und Hausärzte im Land. Diese hätten sich in der Pandemie gut geschlagen. Trotz fehlender Schutzausstattung, erratischen Herumirrens der Politik und enormer Verunsicherung der Patienten sei die hausärztliche Versorgung stabil geblieben, so Weigeldt. Die Hausärzte hätten sich anpassungsfähig gezeigt, als es darum ging, die häufig wechselnden Empfehlungen aus der Politik z. B. bei den Infektsprechstunden umzusetzen. Und so hätten sie einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Kliniken nicht überlastet wurden, während viele andere sich in dieser Zeit "vom Acker gemacht und in den Urlaub begeben hätten".

So manches hätte aber noch besser laufen können, hätte man die Hausärzte ab und an mal um ihren Rat gebeten, zeigte sich der Hausärzte-Chef enttäuscht davon, dass die hausärztliche Rolle und Leistung in der Pandemie nicht adäquat wahrgenommen worden sei. So habe man immer noch keine Reaktion der Politik auf die Forderung des Verbands nach einer Prämienzahlung für die Praxismitarbeiter-
Innen erhalten.

Mangelnde Wertschätzung beklagt

Der Eindruck mangelnder Wertschätzung werde noch verstärkt, wenn es für Corona-Testungen in der Praxis nur 15 € gebe. Offensichtlich werde dabei nicht berücksichtigt, dass es nicht darum geht, Wattestäbchen wie am Fließband in Rachen und Nase zu stecken. In der Hausarztpraxis gehe es eben auch um die individuelle Beratung zum Test und zu den möglichen Konsequenzen bei einem positiven Testergebnis.

Noch ärgerlicher fand Weigeldt den Streit mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) um die Fortführung der Telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Tele-AU). Diese habe sich nicht nur in der Praxis bewährt, sondern habe auch keineswegs zu den vielen befürchteten Missbräuchen geführt. Der DHÄV spricht sich daher dafür aus, die patienten- und praxis-
entlastende Tele-AU dauerhaft fortzuführen. Und das nicht zuletzt wegen der bevorstehenden Infektzeit, in der voraussichtlich wieder mehr Patienten in die Praxen strömen werden.

Was bringt die Infektzeit?

Ob dafür auch genügend Grippe-Impfstoff zur Verfügung stehen wird, da setzt der Hausärzte-Chef ein recht dickes Fragezeichen. Man müsse davon ausgehen, dass sich in diesem Herbst mehr Menschen gegen Influenza impfen lassen wollen, ob dann die bisher bestellten 26 Millionen Impfdosen ausreichen werden? Keinesfalls dürfe es wieder zu regionalen Lieferengpässen kommen. Und noch weniger dürften den Hausärzten im Anschluss irgendwelche Prüforgien wegen unwirtschaftlichen Verhaltens drohen. "Es kann nicht sein, dass die Ärzteschaft zum Impfen aufgefordert wird und gleichzeitig Regresse fürchten muss, weil sie die Abnahmemengen im Vorhinein nur schwer einschätzen konnte", forderte Weigeldt unter dem Beifall der Delegierten.

Digitalisierung ja, aber …

Ein weiterer, schon lange schwelender und immer wieder neu entflammender Streitpunkt ist die Digitalisierung. Der DHÄV-Bundesvorsitzende gab sich hier durchaus als Fan elek-
tronischer Möglichkeiten zu erkennen. So habe die Videosprechstunde tatsächlich in viele Hausarztpraxen Einzug gehalten und werde auch häufiger genutzt. Sinnvoll sei die Digitalisierung aber nur, wenn sie das Leben erleichtere, die Bürokratie mindere und den Ärzten mehr Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben lasse. Und das sei so leider längst nicht überall der Fall. Nach wie vor seien die Patienten und Hausärzte komplett analog, und schließlich behandelten Hausärzte keine Datensätze, sondern individuelle Menschen. Für diese Feststellung erhielt Ulrich Weigeldt starken Applaus.

Herbe Kritik an der Technik der Telematik-In-
frastruktur – die sei eine Katastrophe. Und insgesamt laufe bei der Digitalisierung derzeit zu viel allein zugunsten der Krankenkassen. Als ein Beispiel nannte er die elektronische Patientenakte (ePA). Sollte diese Akte – wie derzeit noch geplant – von den Hausärzten befüllt werden müssen, dann sollte das ohne zusätzlichen Aufwand für die Praxen erfolgen. Sollte es aber einen Mehraufwand geben, müsste dieser marktgerecht vergütet werden und nicht mit Punkten oder EBM-Ziffern. Für die Praxen seien die ePA-Daten nur mäßig interessant, vor allem weil es sich auch nur um unstrukturierte PDF-Files handele, aus denen man sich seine Informationen nur mühsam zusammensuchen könne. Es dauere vielleicht sogar länger, das "elektronische Sammelsurium" der PDF-Files zu durchsuchen, als Unterlagen auf Papier durchzusehen. Einen Fortschritt kann Weigeldt darin nicht erkennen.

Zu viel wird auf die Hausärzte abgewälzt

Ähnliches gelte für das Versichertenstammdatenmanagement (VSDM), das strafbewehrt in der Praxis stattfinden soll. Davon hätten weder die Ärzte noch Patienten etwas, nur die Krankenkassen würden davon profitieren, weil sie interne Bürokratie sparen könnten, so Weigeldt. Aber bei den Ärzten könne man das ja einfach mal abladen.

Genauso gehe es dann bei der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weiter. Nicht mehr der Versicherte werde verantwortlich sein für die Übermittlung seiner AU an die Kasse, sondern wieder die Ärzte – und auch das strafbewehrt. Hauptnutznießer seien wieder die Krankenkassen. Und über den Ärzten schwebe erneut die Strafandrohung. Zur Akzeptanz der Digitalisierung trügen derartige Sanktionsandrohungen wenig bei. Und für den Hausärzte-Chef stellt sich die Frage: "Wer soll in Zukunft die ambulante hausärztliche Versorgung übernehmen, wenn aus der absoluten Unkenntnis unserer täglichen Arbeit Vorschrift über Vorschrift in die Praxen geschossen wird?" Dass man es auch anders machen könne, zeige die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) in Baden-Württemberg, wo man mit Partnern aus der Wirtschaft und den Krankenkassen – aber ohne die Gematik – eine funktionierende Vernetzung der Ärzte auf die Beine gestellt habe. Und zwar ohne Sanktionen.

Ungläubiges Kopfschütteln

Die Hausärzte müssten nicht gegängelt und bis ins kleinste Detail gnadenlos kontrolliert werden, wetterte Weigeldt unter dem Beifall der Delegierten, denn schließlich seien sie Mitglieder eines freien Berufs und sehr wohl in der Lage, eigenverantwortlich zu handeln. Bei all den strittigen Themen von überbordender Bürokratie und Sanktionierungen werde man vonseiten des Hausärzteverbands der Politik weiterhin "hartnäckig auf den Füßen stehen bleiben", versprach Weigeldt, denn eines sei klar: "Aufgeben ist nicht unsere Sache!"

Mitten in die Delegiertenversammlung platzte dann die Nachricht, dass der Gemeinsame Bundesausschuss beschlossen habe, für veranlasste Leistungen wie z. B. die Tele-AU regionale Ausnahmeregelungen zu ermöglichen. Voraussetzung dafür sei, dass von den zuständigen Behörden ein auf regional hohe Neuinfektionszahlen reagierendes Beschränkungskonzept erlassen wird. Erst dann kann der G-BA die Sonderregelungen des Grundlagenbeschlusses räumlich begrenzt und zeitlich befristet durch eine gesonderte Beschlussfassung in Kraft setzen.

Das heißt, eine bundesweite Verlängerung der Tele-AU soll es nicht geben, dafür aber eine wohl nicht ganz unkomplizierte Regelung je nach Region. Bei den Teilnehmern des 41. Deutschen Hausärztetags sorgte diese Nachricht nur für ungläubiges Kopfschütteln.



Autor:
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (17) Seite 28-30