Beim traditionellen berufspolitischen Oktoberfest der practica in Bad Orb ging es wieder mal hoch her. Verantwortlich hierfür war das Vorpreschen von DEGAM-Präsident Prof. Martin Scherer, der sich für ein Primärarztsystem aussprach. Dem schloss sich eine kontroverse Debatte um die Gestaltung eines Primärarztsystems an, bei der erstaunlich große Differenzen zwischen dem Hausärzteverband und der DEGAM offenkundig wurden.

Prof. Scherer warb dabei in Bad Orb für ein verpflichtendes oder zumindest ein verbindlicheres Primärarztsystem, als es derzeit das freiwillige hausärztlich gestützte Primärarztsystem in Form der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) vorsieht. Hausärzte benötigten schlichtweg "mehr Macht und Handlungsspielräume", um ihrer Steuerungs- und Koordinierungsfunktion im System besser gerecht werden zu können. Denn derzeit biete das System dem Patienten "vom Falschen zu viel und vom Richtigen zu wenig". Insgesamt sei die Versorgung viel zu diagnose- und apparatezentriert und zu wenig "auf den ganzen Menschen" ausgerichtet. Dies führe genau zu der häufig zu Recht beklagten Unter- und Überversorgung von Patienten.

Fehlsteuerungen im System entgegenwirken

Viele insbesondere junge Allgemeinärzte pflichteten in Bad Orb beim berufspolitischen Oktoberfest und beim Workshop "Schutz vor Überversorgung" Scherer uneingeschränkt bei. Dr. Leonor Heinz, die gerade ihre Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeinmedizin abgeschlossen hat, berichtete über ihre ersten "frustrierenden" Erfahrungen, als gut qualifizierte Allgemeinärztin nicht ihre Kompetenzen einbringen zu können, weil zum Beispiel Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen lieber zum Orthopäden gingen und dann rasch in die apparativen Mühlen der Medizin gerieten. Andere berichteten darüber, dass Patienten sich beschweren würden, wenn sie kein Rezept oder keine Überweisung erhielten, weil eben gar keine behandlungswürdigen Symptome vorliegen. Den meisten Beifall erhielt ein Allgemeinarzt mit seiner Feststellung, sich den ganzen Tag über am meisten damit beschäftigen zu müssen, "irgendwelche Sachen zu verhindern." Martin Scherer fasste all diese Erkenntnisse dann wie folgt zusammen: "Die medizinische Bedarfslage und das, was ärztlich getan wird, klafft aufgrund der vielen Fehlsteuerungen im System eklatant auseinander." Daher müsse nun gegengesteuert werden.

Nicht zu viel auf einmal wollen

Dies sieht Hausärzte-Chef Ulrich Weigeldt nicht anders. Ein verbindlicheres oder gar verpflichtendes Primärarztsystem ist für Weigeldt allerdings dennoch keine Lösungsoption. Es wäre "politischer Selbstmord", jetzt zu viele Schritte auf einmal machen zu wollen und dabei die politischen Realitäten aus dem Blick zu verlieren. Weigeldt plädierte stattdessen eher dafür, die HzV in Richtung freiwilliges Primärarztsystem weiter auszubauen. Dies wolle man nun gemeinsam mit der DEGAM angehen. Diese auch von Martin Scherer in Bad Orb explizit geforderte engere Zusammenarbeit zwischen DEGAM und Hausärzteverband sei auch deshalb nötig, um zu verhindern, dass die HzV ins kollektivvertragliche System der KVen einverleibt wird. Weigeldt: "Die HzV kann es nur von und mit Hausärzten geben." Es sei geradezu absurd, dass nach den Vorstellungen von KVen plötzlich auch grundversorgende Fachärzte in die Rolle der koordinierenden Hausärzte schlüpfen könnten. Armin Beck, 1. Vorsitzender des Hausärzteverbandes in Hessen, sieht in diesem Ansinnen vor allem auch monetäre Gründe. Dann wäre es nämlich auch für Fachärzte möglich, eigene freie Verträge "unter dem Deckmantel der Primärversorgung" abschließen zu können. Diese Vertragsgestaltung funktioniert derzeit im Rahmen der HzV gerade in Hessen ausgesprochen gut. "Die Kassen lehnen nicht mehr ab, sondern laden uns hierzu nun sogar explizit ein", so Beck. Das sei 2015 noch völlig anders gewesen.

HzV und VERAH weiter fördern

Für Ulrich Weigeldt sind Hessen und auch Westfalen-Lippe Paradebeispiele dafür, dass es mit der HzV gut vorangeht. Selbst in die neuen Bundesländern, in denen die HzV bisher eher abgelehnt worden ist, komme nun Bewegung. Weigeldt: "Wir sehen, dass sich auch hier etwas verändert. Mit der HzV sind wir weiter auf einem guten Weg."

Das gilt in gleicher Weise auch für die Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis (VERAH), die ein elementarer Bestandteil der HzV ist. Der Sättigungsgrad bei der Ausbildung von VERAH ist noch längst nicht erreicht, denn jedes Jahr kommen gut 1.000 neue ausgebildete VERAH hinzu, erläuterte Dr. Hans-Michael Mühlenfeld, Vorsitzender des Instituts für hausärztliche Fortbildung (IhF) und Tagungspräsident der practica. Derzeit seien bereits 12.600 VERAH bundesweit im Einsatz, an die die Hausärzte immer mehr Aufgaben delegieren könnten, um selbst Zeit zu sparen und sich intensiver um die schwerwiegender kranken Patienten kümmern zu können. Da die VERAH
eng in die Praxisabläufe eingebunden seien, fehle es auch nicht an der dafür notwendigen Kommunikation mit dem delegierenden Hausarzt. Deshalb wolle das IhF im Einklang mit dem Hausärzteverband auch das VERAH-
Modell weiter ausbauen. Eine Delegation oder gar Substitution von Aufgaben oder Verantwortung zum Beispiel an einen Physician Assistant lehnt Mühlenfeld dagegen ab. Dieser könne in keiner Weise so gut in die Praxisabläufe und das Praxisgefüge eines Allgemeinarztes eingebunden werden, wie das bei den klar strukturierten Aufgabenfeldern der VERAH möglich sei.

Generalistische Kompetenz erhalten

Mühlenfeld sah in Bad Orb aber noch deutlich mehr Gefahrenherde, die zu einer "De-Professionalisierung" im System führen könnten. Drohende Änderungen in den Bereichen Weiterbildung Allgemeinmedizin und Fortbildung von Hausärzten könnten an den Wurzeln des gesamten primärärztlichen Bereichs rütteln, fürchtet er. So warnte er davor, dass angesichts von demnächst 8 Disease-ManagementProgrammen (DMP), für die jeweils 4 Fortbildungsstunden pro Jahr angesetzt werden müssen, bereits 32 von insgesamt 50 zu erbringenden Fortbildungsstunden aufgebraucht seien. Rechne man dann noch 10 Stunden Eigenleistung und 8 Stunden, die für Qualitätszirkel benötigt würden, hinzu, sei das Kontingent von 50 Stunden pro Jahr bereits voll ausgeschöpft.

Alle anderen Krankheiten, für die es keine DMP gebe, würden dann durchs Raster fallen, befürchtet Mühlenfeld. Eine Fortbildung, mit der die "generalistische Kompetenz" etwa im Bereich der Chirurgie oder Pädiatrie immer wieder neu erworben werden müsse, werde so mehr und mehr verloren gehen. Diese "rein geldgesteuerte Fortbildung" sei "völlig ungeeignet", um die breite Kompetenz in der Allgemeinmedizin zu erhalten. Dieser Erhalt der Kompetenz bestehe ohnehin nur zu maximal 20 % aus Wissensvermittlung. Weitaus wichtiger für eine qualitätsgestützte Fortbildung sei die Vermittlung der Arbeitsmethodik, meint Mühlenfeld. Nur wenn diese immer wieder den neuen Anforderungen angepasst werde, könnten Generalisten in der ärztlichen Primärversorgung Probleme im Praxisalltag gut lösen. Dies sei auch genau der Ansatz bei den IhF-Fortbildungen, mit denen pro Jahr allein bei Präsenzveranstaltungen rund 10.000 Hausärzte erreicht würden.

Vehement kritisierte Mühlenfeld abschließend in Bad Orb die Entscheidung der Landesärztekammer Bremen, wonach die 24-monatige Weiterbildung in der Allgemeinmedizin auch bei einem hausärztlichen Internisten, der für die ambulante hausärztliche Versorgung im Gebiet Allgemeinmedizin befugt ist, abgeleistet werden kann. Damit würde das gesamte qualifizierte Weiterbildungskonzept für Allgemeinärzte unterlaufen, da Hausarzt-Internisten aufgrund ihres eigenen Werdegangs keinesfalls in der Lage seien, einen Allgemeinarzt in der erforderlichen notwendigen Breite auszubilden.



Autor:
Raimund Schmid

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (19) Seite 36-39