Die hippokratische Tradition verpflichtet den Arzt zum Dienst für das Leben und das Wohl des Patienten. Doch was genau ist das "Wohl" des Patienten? Die Entwicklung der modernen hochtechnisierten Medizin hat schon seit geraumer Zeit dazu geführt, dass es häufig nicht mehr um die Frage "Leben – ja oder nein?", sondern um die Frage "Leben – wie?" geht. Insbesondere am Lebensende, wenn supportive Maßnahmen vonnöten sind, um das Leben zu erhalten, wiegt diese Frage besonders schwer. Wie beantworte ich als Arzt mit Respekt vor der Autonomie des Patienten diese schwerwiegende Frage, wenn ich seinen Willen gar nicht kenne?

Das eigentliche Dilemma der modernen Medizin beginnt mit den Möglichkeiten, über längere Zeit einen menschlichen Organismus ohne "Person-sein" am Leben zu erhalten. Fortgeschrittenes, medizinisch-technisches Know-how scheint hier die Verpflichtung des Arztes, Leben zu erhalten, ad absurdum zu führen und ihm den Ruf einzuhandeln, eine Medizin ohne Menschlichkeit zu betreiben. Die gegenwärtige Medizin verfügt über zahlreiche supportive Maßnahmen, die ihr ermöglichen, lebensnotwendige Organfunktionen zu unterstützen oder, wie z. B. durch die Dialyse, zu ersetzen. Die Symptomkontrolle und Verlangsamung der Progredienz hat dazu geführt, dass das Leben mit Erkrankungen, die in früheren Jahren in überschaubarer Zeit zum Tode führten, über einen langen Zeitraum möglich wird. Unumstritten ist die Sinnhaftigkeit des Einsatzes dieser supportiven Maßnahmen bei voraussichtlich reversiblen Organfunktionsstörungen. Hier hat der medizinische Fortschritt, haben die technischen Möglichkeiten auf Intensivstationen Großartiges geleistet.

Anders sieht es allerdings aus, wenn es um Funktionsstörungen im absehbaren oder bereits eingetretenen Terminalstadium einer unheilbaren Krankheit geht. Bedeutet hier doch oftmals der Einsatz unterstützender Maßnahmen, nicht nur Leben, sondern auch Leiden zu verlängern. In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint dies dann oft als "herzlose Tyrannis einer Hightech-Medizin" auf Intensivstationen.

Hier gilt es zu entscheiden – im Idealfall gemeinsam mit dem Patienten, ggf. aber auch tutorisch – zwischen der Verpflichtung gegenüber dem Leben und dem Sterben(lassen)-dürfen. Ganz wesentlich für diese Entscheidung sind die ausgesprochenen und/oder schriftlich formulierten ggf. aber auch nur rekonstruierten, mutmaßlichen Präferenzen, Wünsche und Vorstellungen des betroffenen Patienten.


Fallbeispiel 1

Vor einigen Jahren habe ich eine Patientin mit inkurablem Magenausgangskarzinom hausärztlich betreut. Frau S. befand sich in der Palliativ-care-Phase, war in einem gewissen Umfang mobil und konnte mit Hilfe ihrer in der Nähe wohnenden Tochter noch zu Hause versorgt werden. Für dieses Krankheitsstadium mit zunehmendem Verschluss des Magenausganges gab es eine klare Indikation dafür, den Nährstoffbedarf auf künstlichem Weg zu decken mit dem Therapieziel, die Schwächung des Allgemein- und Kräftezustandes durch die Tumorkrankheit zu verlangsamen. Dies postuliert die aktuelle Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin auch für den ambulanten Bereich (Kasten 1).

Kasten 1
Eine künstliche Ernährung im ambulanten Bereich soll durchgeführt werden, wenn entweder Mangelernährung nachgewiesen ist bzw. droht oder die orale Nahrungsaufnahme relevant eingeschränkt ist und wenn es dadurch innerhalb der zu erwartenden Lebenszeit des Betroffenen zu einer relevanten Verschlechterung des Ernährungszustands, der Prognose oder der Lebensqualität kommt und wenn solche Verschlechterungen nicht durch andere Maßnahmen (z. B. Behandlung der Grunderkrankung) behoben werden können. Die Indikation muss von einem Arzt gestellt werden.


S3-Leitlinie der DGEM: "Künstliche Ernährung im ambulanten Bereich", 2013 [1]


Im gemeinsamen Therapieziel-Findungsgespräch mit Patientin, Angehörigen und der mitbetreuenden Gastroenterologin entschieden sich alle Beteiligten für eine parenterale Ernährung. Via zentralvenösem Katheter wurde die Patientin über mehrere Monate zu Hause mittels Infusionen ernährt und konnte auch dank der Betreuung durch ein Ernährungsteam und der Versorgung durch ihre Angehörigen mit einer für sie zufriedenstellenden Qualität am Leben teilhaben. Der Progress des Tumorleidens führte dennoch erwartungsgemäß zu weiterer Konsumption und Sarkopenie und schließlich zur Terminalphase des Tumorleidens mit vollständiger Bettlägerigkeit. Bei vollem Bewusstsein und bei uneingeschränkter Einsichtsfähigkeit wurde auf Wunsch der Patientin nun, wie sie es auch in ihrer Patientenverfügung für diesen Fall festgelegt hatte, die parenterale Ernährung eingestellt, und sie starb etwa vier Wochen später zu Hause im Kreise ihrer Familie.

Mitunter muss bei den Angehörigen von Tumorpatienten im fortgeschrittenen Krankheitsstadium Überzeugungsarbeit geleistet und erklärt werden, dass es hierbei in den meisten Fällen kein Hungergefühl mehr gibt, dass ein Verhungern mit dem dazugehörigen subjektiven Leidensdruck nicht vorliegt und bei korrekter Mundpflege auch kein Durstgefühl empfunden wird. Schon vor über 10 Jahren hat die Bundesärztekammer in ihren "Grundsätzen für ärztliche Hilfe bei Sterbenden" dazu Stellung genommen (Kasten 2). Sinngemäß äußert sich auch die aktuelle "Leitlinie Palliativmedizin" der DGP (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin) aus dem Jahr 2015 [3].

Kasten 2
"Basisbetreuung heißt menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie Stillen von Hunger und Durst. Dazu gehören nicht immer Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, da sie für Sterbende eine schwere Belastung darstellen können. Jedoch müssen Hunger und Durst als subjektive Empfindungen gestillt werden.


"Grundsätze für ärztliche Hilfe bei Sterbenden" der Bundesärztekammer, Mai 2004 [2]


Lebenszeit versus Lebensqualität

Das obige Beispiel aus der hausärztlichen Palliativmedizin zeigt, dass Lebensverlängerung durch künstliche Ernährung nicht im Widerspruch stehen muss zur Lebensqualität. Es zeigt aber außerdem auch, dass beratendes ärztliches Handeln ein Begleiten des Patienten durch Entscheidungsprozesse bedeutet, bei denen häufig die Einzelentscheidungen immer wieder zu reevaluieren, ggf. zu revidieren und an die sich ändernden Realitäten und/oder auch an die sich wandelnden Präferenzen, Wünsche und Vorstellungen des Patienten anzupassen sind.

Der Arzt ist, wie eingangs schon postuliert, primär dem Leben verpflichtet. Sogar Artikel 2. II des Grundgesetzes schützt das Grundrecht auf Leben als einen höchsten Wert innerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung in unserem Land. Gleichermaßen werden hier allerdings auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Freiheit von Leid und der Schutz vor Schmerzen eingefordert. Angesichts seiner technischen Möglichkeiten muss der Arzt sich daher auch immer wieder mit der Frage auseinandersetzen, mit welcher Qualität das dank seiner Intervention verlängerte Leben des Betroffenen noch gelebt werden kann. Es ist also mit dem Patienten und/oder seinen Angehörigen bzw. Betreuern zu diskutieren, inwieweit die hinzugewonnene Lebenszeit eine für den Betroffenen akzeptable Qualität hat. Und hier gibt es zweifellos große individuelle Unterschiede, was für den einzelnen Betroffenen an Funktionseinbuße, an Einschränkung des Lebensvollzugs noch tolerabel ist und was nicht. Der Patient mit seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen, seiner Anpassungsfähigkeit auch im Lebensentwurf ist hier als das Maß aller Dinge zu sehen.


Fallbeispiel 2

Hierzu nun noch ein weiteres Beispiel aus meiner hausärztlichen Praxis. Herr Heribert B., Jahrgang 1929, wurde über 20 Jahre lang bis zu seinem Tode im September 2013 von mir betreut. Anfangs standen bei ihm eine arterielle Hypertonie und eine degenerative Skeletterkrankung im Vordergrund. Es entwickelte sich ein generalisierter Gefäßprozess mit Manifestation einer KHK und Herzinsuffizienz. Bei zunehmenden kognitiven Defiziten wurde 2011 schließlich die Diagnose einer gemischten Demenz gestellt. Trotz Gabe von Antidementiva zeigte das Krankheitsbild eine rasche Progredienz mit Realitätsverkennung, halluzinatorischen Episoden und schließlich auch Selbst- und Fremdgefährdung im Rahmen deliranter Erregungszustände, die im Mai 2013 die notfallmäßige stationäre Aufnahme in der Gerontopsychiatrie erforderlich machten. Während des zweimonatigen stationären Aufenthaltes verweigerte der völlig unkooperative und nahezu kommunikationsunfähige Patient immer wieder für mehrere Tage die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Wiederholt wurde parenteral Flüssigkeit appliziert und auch für etwa zwei Wochen eine nasogastrale Sonde zur Nahrungszufuhr eingesetzt. Schließlich gelang es, den Patienten so weit zu stabilisieren, dass ein Minimum an oraler Nahrungszufuhr möglich war. Eigendynamik des dementativen Prozesses und/oder Medikamentennebenwirkung hatten jedoch erhebliche motorische Defizite zur Folge, sodass der Patient bei Entlassung in ein Pflegeheim komplett immobil war. Eine Kommunikation war auch weiterhin selbst für die nächsten Angehörigen nicht mehr möglich. Einer der beiden Söhne war zum Betreuer bestellt worden, zum zweiten Sohn bestand wegen eines Zerwürfnisses kaum noch Kontakt. Dem Thema Patientenverfügung hatte der Patient sich auch zu Zeiten noch erhaltener kognitiver Funktionen nicht öffnen können.

Im Pflegeheim stellte sich sehr bald erneut die Frage nach künstlicher Flüssigkeits- und Nah-rungszufuhr, denn Herr B. presste schließlich bei jedem Versuch, ihn zu füttern, regelmäßig die Lippen zusammen und wehrte sich dagegen mit den Händen.

Für Angehörige, Pflegepersonal und behandelnden Arzt war nun die Frage zu klären, muss hier künstliche Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr zur weiteren Unterstützung der vitalen Funktionen erfolgen oder ist dies angesichts der "Vita minima" bei kompletter Pflegebedürftigkeit und vollständiger Unfähigkeit zur Kommunikation aus ethischen Gründen zu unterlassen – zumal es keine Studien gibt, die einen Nutzen bei Demenzpatienten belegen (Kasten 3).

Gemeinsam entscheiden im Konsensgespräch

Da keine Patientenverfügung existierte, galt es nun, den mutmaßlichen Patientenwillen zu eruieren und einen gemeinsamen Konsens herzustellen. Am schwersten tat sich die Ehefrau mit der Entscheidungsfindung. Im Rahmen dieses Gespräches, zu dem sich die Ehefrau, beide Söhne, die Stationsschwester, Pflegedienstleitung und der behandelnde Hausarzt zusammensetzten, galt es also abzuwägen zwischen der künstlichen Ernährung als Teil einer Basisversorgung und Unterlassung dieser Maßnahme bei für den Patienten nicht mehr akzeptabler Lebensqualität. Angesichts des Postulates der Patientenautonomie versuchten nun die Beteiligten, den mutmaßlichen Willen des Herrn B. zu rekonstruieren basierend auf seinen früheren Äußerungen und Werthaltungen. In der hausärztlichen Akte fanden sich Bemerkungen aus der Zeit, wo der Patient erste Anzeichen seiner kognitiven Störung wahrgenommen hatte, wo er geäußert hatte: "Herr Doktor, wenn das so weitergeht, dann will ich nicht mehr", oder zu einem späteren Zeitpunkt: "Wann hört denn das endlich auf, ich will nicht mehr." Die Ehefrau und der eine Sohn, der permanent im engeren Kontakt zu seinen Eltern gestanden hatte, konnten sich an ähnliche Äußerungen erinnern. Auch die Tatsache, dass sich der Patient gegen die Nahrungszufuhr wehrte, während er sonstige pflegerische Maßnahmen zuließ, interpretierte das Pflegepersonal als Zeichen der Ablehnung von Nahrungsaufnahme und als Hinweis auf ein "Nicht-mehr-leben-Wollen" unter diesen Bedingungen (auch als "natürlicher Wille" bezeichnet). Zwischen allen Beteiligten konnte letztendlich der Konsens hergestellt werden, dass es wohl im Sinne des Patienten war, fortan auf eine künstliche Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr zu verzichten. Auch alle oralen Medikamente wurden abgesetzt, und es erfolgte eine kontinuierliche parenterale Schmerztherapie sowie bedarfsweise eine parenterale Sedierung. Intensive Mundpflege und auch weitere vorsichtige Versuche, auf natürlichem Wege Flüssigkeit und breiige Kost zuzuführen, wurden vereinbart. Sukzessive entwickelten sich bei Herrn B die Anzeichen einer Exsikkose und ein stuporöser Bewusstseinszustand. Er verstarb schließlich etwa drei Wochen nach dem geschilderten Konsensgespräch an einem mutmaßlichen akuten thromboembolischen Ereignis.

Auch im Nachhinein zeigte sich, dass alle Beteiligten mit dieser Vorgehensweise gut leben und diese vor sich rechtfertigen konnten.

Entscheidungskriterium ist immer der Patientenwille

Zwei Patientenschicksale aus hausärztlicher Tätigkeit, die sich zwar in mehreren Gesichtspunkten voneinander unterschieden – gemeinsam war jedoch beiden Fällen, dass der Patientenwille bzw. der mutmaßliche Patientenwille das ausschlaggebende Kriterium für die Entscheidung für bzw. gegen die künstliche Ernährung war. In beiden Fällen wurde ein zeitgemäßes Modell der Arzt-Patienten-Beziehung mit vorrangiger Respektierung der Patientenautonomie praktiziert, dabei galt es im zweiten Fall, nach bestem Wissen den mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu rekonstruieren und damit tutorisches ärztliches Handeln und Entscheiden zu rechtfertigen. Im zweiten Falle ging es aber auch noch um ein juristisches Interesse des behandelnden Hausarztes. Wäre es nicht zu einem Konsens aller Beteiligten gekommen, so hätte die Anrufung des zuständigen Gerichtes erwogen werden müssen, um nicht möglicherweise eine Klage wegen unterlassener Hilfeleistung zu riskieren.

Es liegen keine randomisierten, plazebokontrollierten Studien zur Verwendung von PEG-Sonden zur enteralen Ernährung im Stadium der schweren Demenz vor. Basierend auf der bisherigen Datenlage ist eine positive Beeinflussung der Überlebenszeit, der klinischen Symptomatik, des Auftretens von Infektionen oder Dekubitalulzera durch den Einsatz der PEG nicht gegeben. Bei der Anlage einer PEG sind insbesondere Patientenverfügungen zu beachten, und es ist der mutmaßliche Wille des Erkrankten zu ermitteln.



S3-Leitlinie "Demenzen" der DGN und DGPPN, 2016 [4]

Beide Beispiele zeigen auf, wie wichtig und hilfreich es ist, wenn Ärzte motivieren, sich mit dem Thema schwerwiegende, möglicherweise in absehbarer Zeit zum Tode führende Erkrankung auseinanderzusetzen und mittels einer Patientenverfügung für sich festzulegen, unter welchen Bedingungen lebensverlängernde Maßnahmen eingesetzt werden sollen oder nicht. Auch sind Hausärzte gut beraten, diesbezügliche Äußerungen ihrer Patienten zu dokumentieren.


Literatur:
1) S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) in Zusammenarbeit mit der GESKES und der AKE: "Künstliche Ernährung im ambulanten Bereich", 2013, AWMF-Register-Nr. 073/021
2) Bundesärztekammer: "Grundzüge der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung",
Dt. Ärzteblatt Jg. 101, Heft 19, 7. Mai 2004
3) S3-Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DPG): "Palliativmedizin", 2015, AWMF-Register-Nr. 128/001OL
4) S3-Leitlinie "Demenzen" der DGN und DGPPN, Aktualisierung 2016, AWMF-
Register-Nummer: 038-013
5) Deutscher Ärztetag, Beschlussprotokoll S. 76: "Ambulante Ethikberatung", Ulm 2008
6) Kirch Paula: "Stellenwert der Patientenverfügung und des Organspendeausweises in rheinlandpfälzischen Hausarztpraxen", mündliche Mitteilung 2016, Dissertation am Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie der Universitätsmedizin Mainz (noch nicht abgeschlossen)



Autor:

Prof. Dr. med. Karl-Bertram Brantzen, M.A.

FA für Innere und Allgemeinmedizin, Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie
Universitätsklinikum Mainz

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (12) Seite 18-22