Der Begriff „Sexsucht“ hat sich für ein nicht kontrollierbares exzessives Sexualverhalten, das sich schwerpunktmäßig auf normale, nicht-paraphile sexuelle Reize bezieht, weithin etabliert. Tatsächlich erfüllt nur eine Subgruppe besonders schwer betroffener Personen die Kriterien einer wirklichen Verhaltenssucht [8]. Die theoretische Frage, wie viel Sex zu viel Sex ist und welche Form von Sex potenziell schädlich ist, ist kompliziert und vielschichtig. Wenn ein Patient sich in der Praxis hilfesuchend an uns wendet, ist es dagegen viel einfacher, die individuelle Problematik zu verstehen und den Leidensdruck nachzuvollziehen.
Exzessives Sexualverhalten kann sich in einer Vielzahl von Verhaltensweisen ausdrücken. Als wichtigste Spezifikatoren gelten:
Hohe Frequenz und hohe Bedeutung von Masturbation
Bei einem hohen Prozentsatz der Betroffenen stellt die Masturbation den Hauptausdruck sexuellen Verhaltens dar und nimmt einen höheren Stellenwert als die beziehungsorientierten Komponenten der Sexualität ein. Die Masturbation wird oft als drang- oder zwanghaft erlebt und ist oft verbunden mit Pornographiekonsum. Masturbationsfrequenzen von mehr als fünfmal täglich sind nicht selten und werden nicht mit sexueller Befriedigung, sondern mit körperlicher Erschöpfung beendet. Häufig wird der Orgasmus extrem lange herausgezögert und führt zu keiner oder nur zu einer kurzfristigen Sättigung. Postorgastisch tritt vielfach eine dysphorische Stimmung auf ("Katerstimmung"), die das masturbatorische Verhalten perpetuiert.
Exzessiver Pornographiekonsum
Exzessiver Pornographiekonsum findet sich als zentrales Merkmal ebenfalls bei einem hohen Prozentsatz der Betroffenen und hat durch die leichte Verfügbarkeit eines riesigen Angebots an Pornographie im Internet zweifellos einen noch höheren Stellenwert bekommen. Der Pornographiekonsum kann trotz eingetretener oder drohender negativer Konsequenzen (Probleme am Arbeitsplatz, Entdeckung durch die Partnerin, finanzielle Aspekte) nicht reguliert werden. Vom Verhaltensmuster lassen sich "Jäger", die regelmäßig im Internet bestimmte Suchroutinen auf der Jagd nach neuen Reizen durchführen, von "Sammlern" unterscheiden, die (oft riesige) Vorräte pornographischer Materialien anlegen. Mischformen beider Muster kommen ebenfalls vor.
Promiskuität/multiple Sexualpartner
Das dritte Kernmerkmal exzessiven Sexualverhaltens bezieht sich auf einen Komplex aus Promiskuität, notorischem Fremdgehen und Sex mit multiplen Sexualpartnern. Die Verhaltensweisen können sich sowohl auf Prostitution als auch auf nicht-käuflichen Sex richten und nehmen einen Großteil der verfügbaren Zeit und Energie ein. Die Umgebung wird praktisch permanent auf mögliche Sexualpartner "gescannt" und es besteht oft ein großes Geschick, potenzielle Partner "herumzukriegen", worin nicht selten das Hauptziel des Verhaltens besteht. Sehr häufig werden dazu Chatrooms und Online-Partnerschaftsportale (Cybersex) genutzt.
Wie viele Menschen sind betroffen?
Zu dieser Frage liegen bisher nur wenige zuverlässige Daten vor, so dass wir auf Schätzwerte und Erfahrungen aus der klinischen Praxis angewiesen sind. Für den deutschsprachigen Raum geht man von Prävalenzraten zwischen 3 und 6 % aus [7], die exakt den Schätzwerten entsprechen, die für die USA vorliegen [4, 6, 12]. Diese älteren Prävalenzschätzungen ließen sich in neueren Studien allerdings nicht bestätigen. In einer Untersuchung aus Neuseeland [14] berichteten zwar 14 % der Männer und 7 % der Frauen über sexuelle Phantasien, Impulse oder Verhaltensweisen, die sie als "außer Kontrolle" empfanden, aber nur 2,8 % der Gesamtstichprobe gaben an, dass es dadurch zu einer Beeinträchtigung ihres Lebens gekommen war.
Auch zum Geschlechterverhältnis liegen bisher überwiegend Schätzwerte sowie Daten aus Online-Umfragen und unsystematischen Studien vor. Schätzwerte beziehen sich auf ein Verhältnis Männer zu Frauen von 3:1 bis 5:1 [5, 9]. In der Praxis besteht die weitaus überwiegende Mehrzahl von Personen, die professionelle Hilfe für derartige Probleme suchen, aus Männern. Einigkeit besteht außerdem darüber, dass die kritischen Verhaltensmuster von Frauen und Männern sich deutlich unterscheiden und sich bei Frauen mehr auf promiskes Verhalten und Online-Chats und Kontakte beziehen, während der für Männer hoch bedeutsame Bereich Pornographie und Masturbation für Frauen einen untergeordneten Stellenwert einnimmt.
Wie kann man eine Sexsucht diagnostisch erfassen?
Im Mittelpunkt der Diagnostik stehen das Gespräch mit dem Patienten und die detaillierte Erfassung des exzessiven Sexualverhaltens inklusive seines aktuellen und biographischen Hintergrunds. Eine orientierende Sexualanamnese ist hilfreich, da bei nicht wenigen der Betroffenen sexuelle Dysfunktionen vorliegen. In der Praxis erweisen sich die folgenden vier Screening-Fragen als sehr nützlich [9]:
1. Hatten Sie jemals wiederkehrende Schwierigkeiten, Ihr sexuelles Verhalten zu kontrollieren?
2. Hatte Ihr sexuelles Verhalten negative Konsequenzen (juristische, in der Partnerschaft, im Beruf, medizinisch, zum Beispiel sexuell übertragbare Krankheiten)?
3. Gab es Versuche, das Verhalten zu verheimlichen, und/oder Schamgefühle?
4. Hatten Sie jemals das Gefühl, zu viel Zeit mit sexuellen Aktivitäten zu verbringen?
Als Ergänzung zur klinischen Diagnostik können zwei Selbstbeurteilungsfragebögen eingesetzt werden, die jeweils einen Cut-Off-Wert anbieten, der für die Beurteilung des Schweregrads hilfreich ist. Der "Sexual Addiction Screening Test" (SAST-R) [3] umfasst 25 Fragen, die mit "ja" oder "nein" beantwortet werden können, und bietet einen Cut-Off-Score. Seine Anwendung ist allerdings auf heterosexuelle Männer beschränkt und der Inhalt vieler Items erscheint aus heutigem Blickwinkel problematisch. Das "Hypersexual Behavior Inventory" (HBI 19) [13] ist ein neuerer Fragebogen, der sich explizit auf die Merkmale der für das DSM V vorgeschlagenen Kategorie "Hypersexualität" bezieht. Er besteht aus 19 Items, die sich in drei Faktoren gruppieren, die (a) die negativen Konsequenzen des exzessiven Sexualverhaltens, (b) die mangelhafte Verhaltenskontrolle und (c) den Einsatz von Sex als Bewältigungsstrategie bezüglich negativer Gefühle bzw. Stress erfassen. Probanden mit einem HBI-Score > 53 werden als hypersexuell eingestuft. Das Verfahren ist geschlechtsübergreifend konzipiert und nicht an eine bestimmte sexuelle Orientierung gebunden und eignet sich zum Screening u. E. besser als der SAST-R.
Wovon ist eine Sexsucht differenzialdiagnostisch abzugrenzen?
Differenzialdiagnostisch muss exzessives Sexualverhalten vor allem von den Paraphilien abgegrenzt werden. Definitionsgemäß bezieht sich exzessives Sexualverhalten ausschließlich oder ganz überwiegend auf nicht-deviante, normophile sexuelle Stimuli oder Verhaltensweisen. Paraphile Tendenzen sind allerdings bei einer nicht geringen Anzahl derjenigen, die ein exzessives normophiles Sexualverhalten aufweisen, ebenfalls vorhanden, werden dann aber von der exzessiven Prozessdynamik energetisiert, die sich im Verlauf gleichsam "wahllos" immer neuen, dann eben auch devianten, sexuellen Stimuli (z. B. kinderpornographischen Darstellungen) zuwenden kann, an diesen aber nicht in besonderer Weise haftet. Weitere differenzialdiagnostische Abgrenzungen sind gegenüber sexuell getönten Zwangsgedanken vorzunehmen, die bei Zwangsspektrumsstörungen häufig sind. Die Betroffenen werden dabei von der Furcht durchdrungen, ihre häufig skurrilen und aggressiv getönten sexuellen Impulse und Phantasien auszuagieren und damit anderen Personen Schaden zuzufügen. Typischerweise dreht sich die obsessive Beschäftigung aber primär um diese Ausagierungsangst und weniger um die sexuellen Inhalte selbst und es kommt konsequenterweise auch nicht zu sexueller Erregung und fast nie zu einem realisierten Sexualverhalten. Vermehrte sexuelle Phantasien, Gedanken und Impulse können auch bei manischen oder hypomanischen Episoden, im Rahmen bipolarer Störungen, bei der Borderline-Persönlichkeit oder bei schizophrenen und wahnhaften Störungen auftreten. Diese sind in ihrem Auftreten dann jedoch direkt an die affektive oder psychotische Symptomatik gebunden und entaktualisieren sich mit dieser auch wieder. Schließlich ist exzessives Sexualverhalten von sexuellen Auffälligkeiten bei neuropsychiatrischen Störungen (z. B. frontalen oder temporal-limbischen Läsionen) und einer medikamenteninduzierten Störung bei Parkinsonpatienten unter Dopaminersatztherapie abzugrenzen und dann nicht separat zu kodieren.
Welche Therapie-Optionen gibt es?
Die Mehrzahl der Ratsuchenden stellt sich mit der Selbstdiagnose "Sexsucht" vor. Häufig geschieht das, nachdem das verheimlichte sexuelle Verhalten – seien es Bordellbesuche, Affären, Chatroom-Aktivitäten oder (am häufigsten) exzessiver Pornographiekonsum – "aufgeflogen" ist und es zu unangenehmen Konsequenzen in der Partnerschaft oder im beruflichen Kontext gekommen ist. Das Etikett "Sexsucht" darf vom Arzt nicht als feststehende Diagnose übernommen werden, sondern sollte zunächst lediglich als Anzeichen dafür gewertet werden, dass der Patient seine Sexualität oder bestimmte Aspekte von dieser als problematisch oder besorgniserregend empfindet. Alles Weitere muss im individuellen diagnostischen Prozess mit dem Patienten geklärt werden. Dabei sind zum einen die oben beschriebenen Fragebögen und Screeningfragen nützlich, noch wichtiger ist allerdings eine Sexualanamnese inklusive einer Verhaltens- und Bedingungsanalyse des exzessiven Sexualverhaltens.
In Anbetracht der Heterogenität und Komplexität der Problemkonstellationen bei exzessivem Sexualverhalten hat sich in der Praxis ein multimodaler Ansatz bewährt, der Elemente von kognitiver Verhaltenstherapie (KVT), Rückfall-Vermeidungs-Therapie, psychodynamisch orientierten Verfahren sowie pharmakotherapeutischen Optionen beinhaltet [1, 10, 11]. Die meisten dieser Therapiestrategien stammen entweder aus der Behandlung von Paraphilien bzw. Sexualdelinquenz oder aus der Suchttherapie und wurden auf Patienten mit exzessivem Sexualverhalten angewendet, ohne dass bislang entsprechende empirische Studien dazu vorliegen. Die Therapieprogramme bestehen in der Regel aus einer individualisierten Kombination von Strategien zur Kontrolle bzw. Regulation des hypersexuellen Verhaltens und der Bearbeitung von tiefer verwurzelten intrapsychischen oder dyadischen Faktoren, die das Verhalten verursacht haben oder aktuell aufrechterhalten. In vielen Fällen gehören Intimitätsdefizite und fehlender Zugang zu den eigenen Gefühlen zu den Kernproblemen. Die ursprünglich von den Anonymen Alkoholikern entwickelten 12-Schritte-Programme wurden von verschiedenen Selbsthilfeorganisationen auch für Patienten mit exzessivem Sexualverhalten adaptiert und werden in vielen Ländern angeboten. Vor allem durch den halt- und strukturgebenden Gruppenrahmen und ihren Fokus auf Aufrichtigkeit, Kontrolle und Abstinenz können sie für einige Patienten – zumindest als komplementäres Angebot – eine Hilfe sein.
Pharmakologische Behandlungsoptionen
Abgeleitet aus den Erfahrungen in der Therapie von Sexualstraftätern werden auch für die Behandlung von exzessivem Sexualverhalten verschiedene pharmakotherapeutische Optionen – in der Regel kombiniert mit psychotherapeutischen Interventionen – angewendet [2, 1, 10]. Das übliche Therapieschema beginnt mit SSRI, die affektmodulierend und steuerungsverbessernd (insbesondere hinsichtlich der Phantasieproduktion) wirken, geht dann über den Einsatz von Mood-Stabilizern bzw. Antiepileptika bis hin zu Antiandrogenen (Cyproteronacetat, LHRH-Analoga), wenn eine eindeutige Fremd- oder Selbstgefährdung vorliegt.
Bei der Therapie von Patienten mit exzessivem Sexualverhalten kann der Arzt mit seinen Mitteln und seiner Erfahrung den Patienten helfen, die ersten Schritte zu machen, um aus der Spirale von exzessivem Verhalten und Selbstverachtung auszubrechen. Wichtig ist dabei eine Grundhaltung, dass diese Probleme ernst zu nehmen sind und die Patienten es verdienen, dass die gegen sie oft bestehende Abwehrhaltung aufgegeben wird.
Interessenkonflikte: keine deklariert
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (17) Seite 54-59