Die Behandlung älterer Menschen mit Psychopharmaka erfordert große Sorgfalt. Ansonsten sind unerwünschte Arzneimittelwirkungen vorprogrammiert. Zum einen sind die Besonderheiten der Pharmakokinetik und -dynamik im Alter zu beachten. Zum anderen sollte man bei häufig bestehender Multimedikation mögliche Wechselwirkungen von Medikamenten bedenken.

Die Psychopharmakotherapie im Alter spielt eine immer größere Rolle. So erhalten heute 80-jährige Patienten drei- bis viermal so viele Psychopharmaka pro Tag wie 40- bis 50-jährige und etwa zehnmal so viele wie 20- bis 30-jährige. Bei der Behandlung älterer Patienten gibt es allerdings große Vorbehalte gegenüber diesen Medikamenten. Gerade im psychiatrischen Alltag zeigt sich aber immer wieder, dass Psychopharmaka bei genauer Indikationsstellung für Patienten und Angehörige hilfreich sein können.

Wichtige Aspekte ergeben sich hier aus den Besonderheiten der Pharmakokinetik und -dynamik. So zeigen sich ein verzögerter enteraler Transport sowie eine verzögerte Resorption, eine Reduktion des Serumalbuminspiegels und der Enzymaktivität, Einschränkungen der Leber- und Nierenperfusion, eine reduzierte Herz-Kreislauffunktion, eine Kumulationsgefahr durch Anstieg der Medikamentenkonzentration – besonders bei langen Halbwertszeiten – und eine veränderte Rezeptorsensibilität. Darüber hinaus gibt es pharmakologische Probleme bei Multimorbidität mit erhöhter Sturzgefahr, zu geringer Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme und konsekutiver Exsikkose, bei Polypharmazie mit der Gefahr von Arzneimittelinteraktionen und mit der Compliance gerade bei kognitiven Störungen und Demenzen.

Die Bestimmung von Wirkstoffkonzentrationen kann bei Complianceproblemen und schweren UAW gerade im höheren Lebensalter sehr aufschlussreich sein. Sie werden deshalb in der Gerontopsychiatrie des Klinikums Nürnberg Nord regelmäßig angewandt. Sie sind besonders hinsichtlich der Interaktionsgefahr und bei Gen-Polymorphismen der Leberausscheidungsenzyme (z. B. dem Cytochrom-P450-Isoenzym 2D6, CYP2D6) sehr zu empfehlen.

Auch können Interaktionsprogramme im Internet (z. B. MediQ, PSIAC) sowie Listen von potenziell inadäquaten Medikamenten (PIM) für ältere Patienten (Beers-Liste, PRISCUS-Liste) hilfreich sein, um eine rationelle und sicherere Psychopharmakotherapie zu erreichen. Besonders ungünstig sind Medikamente mit anticholinergen Eigenschaften, langen Halbwertszeiten, stark sedierenden Eigenschaften und kardiovaskulären Nebenwirkungen. Benzodiazepine können im höheren Lebensalter häufiger paradoxe Wirkungen zeigen. Das Prinzip "Start low, go slow" und eine zeitlich begrenzte Therapie mit EKG- und Laborkon-trollen sowie die Überprüfung der Indikation sind zu empfehlen. Auch sollten länger verordnete Psychopharmaka nicht abrupt abgesetzt werden.

Wesentliche Behandlungssyndrome

Zu den Hauptbehandlungsindikationen von Psychopharmaka im höheren Lebensalter zählen akute Verwirrtheitszustände (Delire), Wahn, Halluzinationen, Erregung mit Unruhe und Aggression, Affektstörungen, insbesondere Angststörungen und Depressionen, Demenzen und Schlafstörungen.

  • Delir, Wahn und Halluzinationen: Empfohlen sind die neuen sogenannten atypischen Neuroleptika mit geringerem UAW-Profil. Risperidon ist bei zusätzlicher Demenz das einzige arzneimittelrechtlich zugelassene Neuroleptikum. Oft aber, z. B. bei Parkinsonpatienten, ist "off-label" Quetiapin wegen der geringeren bis fehlenden EPMS-Nebenwirkungen empfehlenswert. Bei sehr ausgeprägten Deliren und vor allem bei aggressiven Zuständen muss ggf. kurzfristig Haloperidol parenteral i. m. oder mit EKG-Überwachung i. v. eingesetzt werden. Auf anticholinerg wirkende Substanzen wie Olanzapin, Clozapin oder auch Levomepromazin sollte man verzichten.
  • Erregung, Unruhe und Aggressionen: Mittel der ersten Wahl sind Melperon und Pipamperon. Bei starken zusätzlichen Ängsten sollten nur Benzodiazepine mit kurzer Halbwertszeit, z. B. Lorazepam, gegeben werden. Auch das Thiazolderivat Clomethiazol lässt sich anwenden. Es wird im Alter meist gut vertragen und hat eine sehr kurze Halbwertszeit, was der Kumulation vorbeugt.
  • Affektstörungen: Als Mittel der Wahl werden bei Depressionen und Ängsten Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), z. B. Escitalopram und Sertralin, empfohlen. Mit zusätzlich schlafanstoßendem Effekt kann auch Mirtazapin gegeben werden. Besonders bei älteren Frauen ist an eine Hyponatriämie als UAW zu denken. Als Mittel der zweiten Wahl kann man Venlafaxin mit gutem Wirkungsprofil empfehlen. Schließlich sei auch auf die gute Wirksamkeit und Verträglichkeit von Nortriptylin im Alter hingewiesen. Als sogenannte "Mood Stabilizer" kann wegen der sehr guten phasenprophylaktischen und antisuizidalen Wirkung mit engmaschigen Laborkontrollen auch Lithium im Alter gegeben werden. Alternativ können Valproat oder Oxcarbazepin zum Einsatz kommen.
  • Schlafstörungen: Melperon und Pipamperon sind bevorzugt einzusetzen. Vor der Gabe von Benzodiazepinen sollten zuerst die Z-Substanzen Zolpidem oder Zopiclon probiert werden. Wenn nötig ist ein kurzwirksames Benzodiazepin-Schlafmittel wie Temazepam zu wählen. Auch haben Clomethiazol und Mirtazapin eine gute schlafanstoßende Wirkung und Baldrianpräparate, wie Valdispert®, sollten nicht vergessen werden.
  • Demenzen: Mittel der Wahl bei leichter und mittelgradiger Alzheimer-Demenz sind die Acetylcholinesterase-Hemmer (AChEH) Donepezil, Galantamin und Rivastigmin. Bei mittelgradiger und schwerer Alzheimer-Demenz ist der Glutamatantagonist Memantin indiziert. Die Studienlage gibt Hinweise auf eine bessere Wirkung in Kombination. Ein Absetzen der Antidementiva ist sorgfältig zu erwägen und kann auch bei schwerem Verlaufsstadium wegen der Gefahr einer massiven Verschlechterung nicht unbedingt empfohlen werden. Bei Parkinson plus Demenz ist arzneimittelrechtlich nur Rivastigmin indiziert. Eine Off-Label-Indikation wäre die Gabe der Antidementiva beim vaskulären Typ, der Lewy-Body-Demenz und der frontotemporalen Form. Es gibt aber Hinweise, dass die Substanzen auch bei vaskulärer und Lewy-Body-Demenz wirksam sein können.

Falldiskussion

Obwohl jede Wirkstoffkonzentration im Referenzbereich lag, ist die Distorsion des Oberkörpers der Patientin als extrapyramidal motorische Störung (EPMS) durch Risperidon und Melperon zu erklären – als Summeneffekt der Konzentrationen der beiden Wirkstoffe. Dazu zeigte sich eine Medikamenteninteraktion zwischen Risperidon und Melperon, das in höherer Dosierung ab ca. 100 mg als zunehmender Hemmer des Leberenzyms 2D6 wirkt. Risperidon wird überwiegend über 2D6 ausgeschieden. In Kombination kam es zu einer Ausscheidungshemmung von Risperidon mit deutlicher Erhöhung der Blutkonzentration im Verhältnis zur Dosis und des Risperidon/9-Hydroxyrisperidon-Quotienten auf 8, was beweisend für die Interaktion war. Die Antidementiva waren an der Interaktion nicht beteiligt. Dieses Interaktionsbeispiel verdeutlicht, dass man umsichtig mit Psychopharmaka im Alter vorgehen sollte. In diesem Fall hätte man den Ehemann auf die Interaktionsproblematik einer bedarfsweisen Dosiserhöhung hinweisen müssen, ggf. hätte man Risperidon unter Beachtung des Risiko-Nutzen-Prinzips auch noch weiter reduzieren oder sogar absetzen sollen.

Der besondere Fall: Das Pisa-Syndrom

Eine 62-jährige Patientin, bei der seit fünf Jahren eine präsenile Alzheimer-Demenz bekannt ist, wurde wegen einer seit drei bis vier Wochen zunehmenden Körperneigung nach links stationär aufgenommen. Die Demenz war in den letzten Jahren stark fortgeschritten (Pflegestufe 2), so der Ehemann.

Die Medikation von Donepezil (Aricept®, Dosis 10 mg/d), Memantin (Ebixa®, Dosis 10 mg/d), Risperidon (Risperdal®, Dosis 2 mg/d) und Melperon (Melperon-neuraxpharm forte®, Dosis 75 mg/d ) bestand unverändert seit 2,5 Jahren. Häufiger wurde in letzter Zeit Melperon (25 mg) bedarfsweise vom Ehegatten dazugegeben.

Bei der klinischen Untersuchung zeigte die Patientin eine ausgeprägte Rumpfneigung mit leichter axialer Rotation nach links im Sitzen, Stehen und Laufen (Pisa-Syndrom); zudem einen deutlichen Rigor beidseits mit linksseitiger Verstärkung. Psychopathologisch bot sie das Bild eines schweren demenziellen Syndroms mit vollständiger Desorientierung, schweren Wortfindungsstörungen, erheblicher Affektlabilität und -inkontinenz bei zeitweisem impulshaft aggressiven Verhalten. Wegen der Schwere des Syndroms wurde sofort eine Medikamentenumstellung vorgenommen und Risperidon sowie Melperon vollständig abgesetzt. Die antidementive Medikation mit Donepezil und Memantin blieb hingegen unverändert.

In zufrieden stabilisiertem Zustand konnte sie schließlich in die häusliche Versorgung des Ehemannes mit ambulanten Hilfen entlassen werden.



Literatur:
1) R. Waimer Pragmatische Therapie mit Psychopharmaka in der Altersmedizin, Gerontopsychiatrie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Paracelsus Medizinische Privatuniversität Nürnberg, Nürnberg, DGG-Kongress 2015
2) Benkert/Hippius, Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie, 2014
3) DGPPN, S3 Leitlinien "Demenzen", 01.2016
4) Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommision der deutschen Ärzteschaft,
Demenz, 3. Auflage 2004
5) G.Laux, Psychopharmakotherapie im Alter in Psychopharmakotherapie 2013; 9., vollst. überarb. Aufl. 2013 Springer Berlin (Verlag)
6) Ekkehard Haen, Regensburg, und Gerd Laux, Wasserburg/München für die AGATE: Arzneimitteltherapiesicherheit/ Pharmakovigilanz in der klinischen Psychopharmakotherapie - Das Kliniknetzwerk AGATE; Psychopharmakotherapie 18. Jahrgang • Heft 6 • 2011
7) TDM-Richtlinien: Psychopharmakologie, 12, Heft 5, 2005



Autor:

Dr. med. Reinhold Waimer

Abt. Gerontoppsychiatrie der Universitätskliniik für Psychatrie und Psychotherapie
Parcelsus Medizinische Privatuniversität, Nürnberg
Klinik Nord
90419 Nürnberg

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (19) Seite 26-28