Die Harninkontinenz der Frau verursacht bei den betroffenen Frauen keine körperlichen Schmerzen und auch keine lebensbedrohlichen Komplikationen. Nur wenigen Allgemeinärzten ist bewusst, dass es sich bei der Harninkontinenz jedoch um eine chronische und schwerwiegende Krankheit handelt, die gleichzusetzen ist mit Diabetes oder Hypertonie. Un- oder falsch behandelt beraubt sie die Frauen nicht nur ihrer Würde, sondern führt in der Folge oftmals zu verschiedenen Folgeerkrankungen. Darüber hinaus ist sie einer der häufigsten Gründe für die Einweisung in ein Pflegeheim, wenn sie im fortgeschrittenen Alter auftritt.
Zu spät zum Arzt Um die Krankheit „Harninkontinenz der Frau“ erfolgreich behandeln zu können, ist zunächst eine genaue Diagnose erforderlich. Das setzt voraus, dass die betroffenen Frauen einen Arzt ihres Vertrauens aufsuchen und offen über das Thema sprechen können. Obwohl Frauen durch die Harninkontinenz in ihrem Alltag und ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigt werden, steht nur ein kleiner Teil der erkrankten Frauen in ärztlicher Behandlung. Vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Therapiemethoden ist dies eine bedenkenswerte Tatsache. Die Öffentlichkeit und viele Mediziner stufen die Harninkontinenz nach wie vor als hinzunehmendes „Alte-Leute-Leiden“ ein. Frauen, die beruflich und/oder sozial sehr aktiv sind, bereitet es deshalb häufig Probleme, offen mit ihrem Arzt über unfreiwilligen Urinverlust zu sprechen. Als häufige Ursachen gelten Schamgefühle, Hemmungen, die richtigen Worte zu finden, Unkenntnis über die Therapiemöglichkeiten und Angst vor unangenehmen körperlichen Untersuchungen. Die Frauen versuchen die Erkrankung zu verheimlichen, entwickeln Coping-Strategien und ziehen sich immer mehr zurück. Neuere Untersuchungen belegen, dass nur knapp die Hälfte der Frauen innerhalb von zwei Jahren nach dem Auftreten der Inkontinenz einen Arzt konsultiert. Etwa ein Drittel wartet drei bis fünf Jahre und circa jede zehnte Frau wartete sogar elf und mehr Jahre, bevor sie ihre Probleme einem Arzt schildert. Alles in allem scheint die Arzt-Patientinnen-Beziehung bzw. das häufig postulierte „therapeutische Bündnis“ oder „Shared Decision Making“ im Hinblick auf die Erkrankung Inkontinenz zurzeit noch nicht zu funktionieren.
Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass Allgemeinärzte und Gynäkologen Patientinnen regelmäßig aktiv auf deren Trinkgewohnheiten und mögliche Inkontinenzsymptome ansprechen. Die Hausärzte kennen die Patienten oftmals schon seit Jahrzehnten und haben ein enges Vertrauensverhältnis zu ihnen aufgebaut. Daher erscheinen sie besonders geeignet, auch einmal „peinliche“ Themen anzuschneiden.
Die richtige Diagnose ist der Weg zur Heilung
Liegen Hinweise auf eine Erkrankung vor, ist die konsequente Verfolgung der zur Verfügung stehenden Leitlinien besonders wichtig. Eine gynäkologische Untersuchung, Ultraschalldiagnostik und Hormonstatuserhebung gehören zur Basisdiagnostik. Die Aufforderung zur Selbsthilfe wie beispielsweise Physiotherapie und die Verwendung von saugenden Vorlagen können nur der erste Schritt, keinesfalls jedoch eine Dauerlösung sein. Führt das Beckenbodentraining nicht zum Erfolg, müssen weitere Schritte in die Wege geleitet werden. Sinnvoll ist es, die Beckenbodengymnastik daher zunächst über einen geschulten Physiotherapeuten der Patientin nahezubringen. Ca. 50 % aller Frauen können nicht oder nur unzureichend ihren Beckenboden kontrahieren.
In nicht wenigen Fällen spannen die Damen ihre Bauchmuskulatur an, so dass sogar eine Belastung statt Kontraktion des Beckenbodens die Folge ist.
Vorrangiges Therapieziel ist die Wiederherstellung der Kontinenz oder zumindest eine Reduktion der Inkontinenzepisoden - das ist in den meisten Fällen möglich. Verfügt der erste ärztliche Ansprechpartner nicht über die erforderlichen Kenntnisse und Kompetenzen zur Behandlung der Harninkontinenz, empfiehlt sich die Überweisung an ein Kontinenz- und Beckenbodenzentrum, einen Urogynäkologen oder spezialisierten Urologen.
Folgen der Nicht- oder Falschbehandlung
Un- oder falsch behandelt hat die Harninkontinenz als chronische Erkrankung weitreichende Auswirkungen für die jeweilige Patientin, aber auch für die Solidargemeinschaft. Tabelle 1 soll einen ersten Überblick über die Tragweite der Konsequenzen von Harninkontinenz vermitteln.
Nicht nur multimorbide und bettlägerige Pflegebedürftige, bei denen Inkontinenz und Dekubitus immer wiederkehrende Probleme darstellen, sind von Folgeerkrankungen der Harninkontinenz betroffen. Hautunverträglichkeiten und -entzündungen im Intimbereich, Harnwegsinfektionen, Nierenbeckenentzündungen und sogar Sepsis lassen sich mit der Erkrankung der Blase direkt in Verbindung bringen. Studien legen außerdem nahe, dass eine Dranginkontinenz das Sturzrisiko älterer Menschen beträchtlich erhöht. Die Knochenbrüche ziehen dann natürlich wieder erhebliche Behandlungskosten nach sich und sind oftmals auch mit dem Verlust der Mobilität und der Selbstständigkeit verbunden. Besonders ausgeprägt ist das Risiko für die Entwicklung einer Depression: Frauen mit Harninkontinenz leiden deutlich häufiger an Depressionen im Vergleich zu Frauen ohne diese Erkrankung. Bei jüngeren Frauen (18 - 44 Jahre) mit Inkontinenz liegt die Häufigkeit von Depressionen bei 30 % und ist weitaus höher als bei allen anderen chronischen Erkrankungen.
Ursachen und Formen der Harninkontinenz
Frauen erkranken unabhängig vom Lebensalter ungefähr zwei- bis viermal so häufig an Harninkontinenz wie Männer. Die Prävalenz nimmt zwar mit dem Alter zu, aber entgegen häufiger Annahmen ist die Harninkontinenz nicht nur eine Erkrankung älterer Frauen, sondern auch schon bei prämenopausalen Frauen zu finden. Dabei unterscheidet man im Wesentlichen drei Formen der Harninkontinenz: Belastungs-, Drang- und Mischharninkontinenz. Seltenere Inkontinenzformen, wie die der neurogenen Blase z. B. nach Querschnittslähmungen, sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.
- Belastungsinkontinenz (früher: Stressinkontinenz):
Ohne Harndrang zu verspüren, kommt es während körperlicher Anstrengung, beim Niesen oder Husten zu einem unwillkürlichen Harnverlust. Der Verschluss der Harnröhre öffnet sich dabei unkontrolliert. Als Ursache dieser häufigsten Form der Harninkontinenz (50 Prozent) liegt in den meisten Fällen ein schwaches oder defektes Bindegewebe und/oder eine schwache Beckenbodenmuskulatur vor. Die Schädigung wird oftmals ausgelöst durch Schwangerschaften, Geburtskomplikationen, Übergewicht, einen Östrogenmangel in den Wechseljahren, schwere körperliche Arbeit, Operationen oder schlicht durch eine chronische Obstipation.
- Dranginkontinenz:
Verbunden mit unwiderstehlichem Harndrang kommt es zu einem unwillkürlichen Verlust kleiner oder größerer Urinmengen bis hin zu einer vollständigen Entleerung der Blase. Meistens geht diesem Geschehen ein Triggermechanismus voraus, welcher z. B. durch das Hören laufenden Wassers, aber auch als Hustenstoß bedingt sein kann. Der Urinverlust tritt in der Regel mit einer leichten Zeitverzögerung zu dem Auslösegeschehen auf. Die Differenzialdiagnose zur Belastungsinkontinenz ist im letzteren Fall dann natürlich rein anamnestisch kaum zu führen. Ursache können Vorerkrankungen wie Diabetes mellitus, neurologische Störungen etc. sein.
- Mischinkontinenz:
Hier treten sowohl Symptome der Drang- als auch der Belastungsinkontinenz auf.
Therapie bei Harninkontinenz
Die Dranginkontinenz wird in der Regel erfolgreich mit Medikamenten - sogenannten Anticholinergika oder auch Antimuskarinika - behandelt. Sie mindern den Harndrang und vergrößern so die Kapazität der Blase. Allerdings kann es unter Einnahme zu Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Verstopfung, verschwommenem Sehen, Beeinträchtigung der Merkfähigkeit (der kognitiven Leistungsfähigkeit), Schwindel und Erhöhung des Augeninnendrucks kommen. Deshalb sind Anticholinergika ausschließlich bei Vorliegen einer Dranginkontinenz sinnvoll. Für die Therapie der Belastungsinkontinenz sind diese Medikamente nicht zugelassen und führen hier nicht nur zu Nebenwirkungen, sondern vor allem zu Frustration über den fehlenden Behandlungserfolg. Immerhin 43 bis 83 Prozent der Patientinnen brechen deshalb die Behandlung mit Medikamenten innerhalb von nur 30 Tagen ab.
Die Therapie der Belastungs- oder einer Mischinkontinenz kann auf unterschiedliche Weise erfolgen - je nach Schwere und Ursache der Erkrankung. Dabei kann die Versorgung mit Hilfsmitteln wie aufsaugenden Vorlagen oder Inkontinenztampons zwar hilfreich sein, stellt jedoch keine therapeutische Maßnahme dar. Hingegen führen bereits geringfügige Änderungen des Lebensstils teilweise zu Besserungen. Frauen, die ihr Körpergewicht reduzieren und konsequent ihren Beckenboden trainieren, können dadurch die Krankheit jahrelang im Griff halten. Speziell ausgebildete Physiotherapeuten der Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologie, Geburtshilfe, Urologie und Proktologie (www.ag-ggup.de) sind hierzu der Garant für ein effizientes und nachhaltiges Beckenbodentraining. Ebenso gehört heutzutage die lokale Östrogenisierung mit einem östriolhaltigen Präparat, ein- bis zweimal die Woche intravaginal appliziert, zum Standard. Bleibt durch diese Maßnahmen der Erfolg aus oder liegt eine schwere Form der Belastungsinkontinenz vor, ist eine Operation anzuraten, die in Deutschland Heilungsraten von 75 bis 90 Prozent erzielt. Hier stehen neben der klassischen Bauchschnittoperation mit Anhebung der Blase (Kolposuspension nach Burch) maßgeblich zwei minimal-invasive Verfahren zur Verfügung: die suburethrale Schlingenoperation und die Injektionstherapie. Bei der Schlingenoperation wird ein dünnes Netzband aus Polypropylen, das sogenannte TVT-Band, spannungsfrei im mittleren Harnröhrenbereich platziert - die defekten Bandstrukturen werden ersetzt und die ursprüngliche Spannung wiederhergestellt. Die objektive Heilungsrate beträgt 90 %. Die Injektionstherapie mit sogenannten „bulking agents“ (z. B. Polyacrylamid-Hydrogel) in die Wand der Harnröhre zielt darauf ab, die Harnröhre wieder „aufzupolstern“. Dabei wird unter Anästhesie die Substanz ringförmig in die Wand der Harnröhre injiziert. Das entstehende Polster verengt die Harnröhre, so dass sie bei Belastung verschlossen bleibt. Auch diese OP-Methode ist eine komplikationsarme und erfolgreiche Behandlungsoption vor allem bei Wiederauftreten der Inkontinenz, der sogenannten Rezidivinkontinenz.
Fazit
Haus- und Frauenärzten kommt bei der Diagnostik und Therapie von betroffenen Frauen eine wesentliche Aufgabe zu. Sie können durch die Einhaltung der vorliegenden Leitlinien und die Überweisung an Urogynäkologen, Kontinenz- und Beckenbodenzentren sowie speziell geschulte Urologen die Lebensqualität und Gesundheit von Frauen schnell und nachhaltig verbessern. Bei entsprechender Diagnose ist jede Form der Harninkontinenz gut behandelbar - von der mindestens wesentlichen Besserung der Beschwerden bis zur vollständigen Heilung - und das sollte das vorrangige Ziel sein.
Internet: www.agub.de
Der Artikel basiert auf dem ausführlichen Dossier von Prof. Dr. med. Werner Bader: „Harninkontinenz der Frau - Eine individuell bedeutsame Krankheit mit weitreichenden sozio-ökonomischen Folgen“.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (18) Seite 14-17