Bei einem anaphylaktischen Schock heißt es, schnell zu handeln. Allerdings hängt die verbleibende Zeit – von wenigen Minuten bei Insektenstichen bis zu mehreren Stunden bei Nahrungsmitteln – stark von der Art des auslösenden Allergens ab. So oder so: Bei schweren Verläufen hilft nur die sofortige intramuskuläre Injektion von Adrenalin, erklärte am 5. Burghalde-Symposium in Lenzburg der Allergologe Dr. med. Paul Scheidegger aus Brugg.

Laut WHO ist der "anaphylaktische Schock" definiert als "schwere, akute, lebensbedrohliche generalisierte oder systemische Überempfindlichkeitsreaktion" [1]. Allerdings sieht man derzeit ein Sammelsurium an Diagnosen, so Scheidegger, "und vieles, was als Anaphylaxie deklariert wird, ist vielleicht eine vasovagale Reaktion oder eine hysteriforme Konversionsreaktion gewesen. Das kann bei der Wahl der Therapie Schwierigkeiten bereiten", warnte der Allergologe.

Symptome der Anaphylaxie

Heute wird die Definition Anaphylaxie breiter gefasst als früher [2]:

1. Plötzliches Auftreten einer Erkrankung mit Haut- bzw. Schleimhautbeteiligung (urtikarielles Exanthem) plus Dyspnoe oder eine Urtikaria mit Blutdruckabfall.

2. Plötzliches Auftreten zweier oder mehrerer der folgenden Symptome nach Exposition eines Pseudoallergens oder eines anderen Triggers: gastrointestinale Beschwerden, Blutdruckabfall, Dyspnoe (Asthma), Urtikaria und Angioödeme.

3. Blutdruckabfall nach einer Exposition gegenüber einem bestimmten Allergen innerhalb kurzer Zeit ohne weitere Symptome.

Zu den objektiv fassbaren Symptomen einer echten (und keiner psychogen getriggerten) Anaphylaxie zählen Urtikaria, Angioödem, Konjunktivitis, Rhinitis, Stridor, Tachykardie und Blutdruckabfall. Die Betroffenen schildern auch Parästhesie, Dyspnoe, Juckreiz, Schwindel, Nausea, Erbrechen, Diarrhö, Synkope oder Angst.

Als Grundlage der therapeutischen Entscheidungen werden die Symptome in vier Schweregrade eingeteilt (Tabelle 1). Allerdings müssen die Betroffenen nicht notwendigerweise alle vier Stadien durchlaufen, sondern weisen im schlimmsten Fall sofort die stärksten Symptome (IV) auf und können damit sofort in eine lebensbedrohliche Situation kommen.

Beine hoch!

Selbstverständlich muss die unter Verdacht stehende auslösende Ursache der Anaphylaxie schnellstmöglich beseitigt werden. Bei Patienten mit einer allergischen Reaktion sollte nach einer kurzen Basisuntersuchung das Leitsymptom und der Grad der Bedrohung bestimmt werden. Bei Kreislaufsymptomen ist die richtige Lagerung des Betroffenen entscheidend. "Bei einer echten Anaphylaxie haben wir ein Leck in der Peripherie, und deshalb müssen wir versuchen, den Patienten wieder zu zentralisieren", erklärte Scheidegger. Die erste Maßnahme bei Anaphylaxie ist daher die Schocklagerung. Der Betroffene muss auf dem Rücken liegen und die Beine hochlegen. Versucht in dieser Situation jemand aufzustehen oder sich auch nur aufzurichten, kann das durch einen plötzlich einsetzenden Blutdruckabfall in Sekundenschnelle tödlich enden.

Keine Angst vor Adrenalin!

Wegen der ausgezeichneten Wirkung ist bei einer Anaphylaxie die möglichst rasche Applikation von Adrenalin das Mittel der ersten Wahl (Erwachsene: 0,3 mg bis 0,5 mg; Kinder: 0,1 mg/10 kg Körpergewicht). Das sollte wegen des wesentlich rascheren Wirkungseintritts intramuskulär und am besten im anterolateralen Bereich des Oberschenkels (im Notfall durch die Kleidung hindurch) erfolgen. Während die maximale Plasmakonzentration bei intramuskulärer Applikation schon nach acht Minuten erreicht ist, benötigt die maximale Absorption nach einer subkutanen Injektion 34 Minuten [4]. Die Inhalation von Adrenalin ist ebenfalls keine Alternative, da sie systemisch nach einem anaphylaktischen Schock nur sehr begrenzte Wirksamkeit hat.

Auch Glukokortikoid- bzw. Antihistaminikapräparate benötigen mindestens eine halbe Stunde Wirkzeit – diese Zeit steht oft nicht zur Verfügung. "Haben Sie keine Angst vor der i.m.-Applikation des Adrenalins", sagte Scheidegger: "Vorausgesetzt, dass es sich tatsächlich um einen anaphylaktischen Schock handelt und nicht zum Beispiel um eine vasovagale Reaktion, können Sie praktisch keinen Schaden anrichten – sogar bei Patienten mit Herzkrankheiten."

Innerhalb von Minuten die maximale Plasmakonzentration zu erreichen, geht eigentlich nur mit einem Adrenalinautoinjektor, meinte Scheidegger. Mit seiner Nadellänge von 1,58 cm sorgt beispielsweise der EpiPen® dafür, dass das injizierte Adrenalin bis zu 2,78 cm tief in die Oberschenkelmuskulatur penetriert. Scheidegger berichtete, dass er zur Sicherheit immer einen weiteren Autoinjektor zur Hand hat, weil die therapeutische Wirkung der ersten Injektion bei manchen Patienten ungenügend ist. Falls sich während eines Notfalls der Schock innerhalb von 10 bis 15 Minuten nicht löst, ist eine zweite Injektion erforderlich. Insgesamt wird bei allergischen Reaktionen Adrenalin immer noch zu selten und zu spät eingesetzt, so Scheidegger.

Insektenstiche wirken schnell

Je nachdem, mit welchem Allergen die Betroffenen es zu tun haben, kann die Latenzzeit bis zum Auftreten der ersten Reaktionen sehr unterschiedlich sein. Bei Hymenopterengiften, also nach Stichen von Biene, Wespe, Hornisse oder Hummel, kann die Spanne zwischen Allergenexposition und dem Auftreten ernsthafter Symptome mit wenigen Minuten extrem kurz sein [5]. Dagegen beträgt die Latenzzeit bei einem Medikamentenschock rund 20 Minuten und bei Nahrungsmitteln 30 Minuten bis 6 Stunden nach der Einnahme.

Für die ärztliche Anamnese ist wichtig, daran zu denken, dass Nahrungsmittelallergien auch mit langen Verzögerungen auftreten können. Nahrungsmittelallergiker haben durch diese lange Verzögerung beim Erscheinen der ersten leichten Symptome (z. B. in Form eines pelzigen Gefühls im Mund) durch eine Glukokortikoid- bzw. Antihistaminikumtablette die Chance, das weitere Voranschreiten der allergischen Reaktion rechtzeitig abzumildern.

Häufigkeiten verschiedener Anaphylaxien

Zahlen aus dem deutschsprachigen Anaphylaxie-Register zeigen, dass bei Kindern mit 58 % Nahrungsmittel die häufigsten Auslöser einer schweren anaphylaktischen Reaktion sind [6], gefolgt von Insektengiften (24 %) und Medikamenten (8 %). Bei Erwachsenen dagegen rangieren die Insektengifte mit 55 % auf Platz 1, gefolgt von Medikamenten (21 %). Nahrungsmittel machen nur 16 % aus [6].

Unter den Nahrungsmitteln besitzen Erdnüsse das höchste Allergenpotenzial (20 %), gefolgt von Nüssen (14 %), Crustaceen (10 %), Mollusken (6 %), Weizen (6 %), Kuhmilch (5 %), Sellerie (5 %), Sesam (3 %) und anderem.

Patienten, die eine Allgemeinreaktion schon einmal erlebt haben, sollten immer ein Notfallset mit Glukokortikoid- und Antihistaminikumtabletten sowie einen Adrenalinpen und einen Anaphylaxieausweis dabeihaben.

Klaus Duffner


Quellen
Vortrag von Paul Scheidegger: "Anaphylaxie, wenn die Zeit zählt", 5. Burghalde-Symposium, Lenzburg, 10. September 2015.
Genehmigter und bearbeiteter Nachdruck aus Ars medici 5/2016



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (8) Seite 50-53