Komplexe gesundheitliche Probleme im Rahmen der geriatrietypischen Multimorbidität stellen an die ärztliche Therapie hohe Anforderungen. Bei der Betreuung älterer Diabetes-Patienten ist der Alltagskompetenz des jeweiligen Patienten individuell Rechnung zu tragen. Oft überfordert z.B. das notwendige Selbstmanagement die Ressourcen des chronisch Kranken. Zudem sind bei der medikamentösen Therapie Besonderheiten bei alten Menschen zu bedenken.

Eine patientenzentrierte und dabei individualisierte Therapie ist für geriatrische Patienten zwingend erforderlich, denn das sogenannte Alter umfasst immerhin eine Zeitspanne von bis zu 30 Jahren und ist "heterogener" als jeder andere Lebensabschnitt. Ein heute 70-jähriger Mensch lebt im Mittel weitere 15 Jahre und allen ist gemeinsam der Wunsch nach Lebensqualität, Selbstbestimmtheit und Alltagskompetenz.

In Deutschland wird die Zahl der Diabetiker auf ca. 8 Mio. geschätzt. Ca. 90 % sind Typ-2-Diabetiker und ca. 25 % der Diabetiker sind älter als 70 Jahre. Mehr als 50 % der Menschen mit Erstmanifestation Diabetes mellitus sind älter als 65 Jahre. Selbst bei der Diagnosestellung im 70. Lebensjahr verkürzt sich die Lebenserwartung der Patienten relevant um zwei bis vier Jahre. Es gibt nicht den alten Menschen. Die Einteilung in die drei Gruppen "Go-Go", "Slow-Go" und "No-Go" ist ebenso eingängig wie hilfreich für eine grundsätzliche Therapieplanung:

  • Go-Gos sind körperlich und kognitiv in der Lage, ihre Belange kompetent zu regeln. Dieser Gruppe muss das gesamte Therapiespektrum zur Verfügung stehen und die Go-Gos dürfen in ihren Möglichkeiten nicht beschnitten werden und sollten leitlinienkonform behandelt werden.
  • Slow-Gos weisen somatische Erkrankungen und/oder Hirnleistungsprobleme auf, die es erforderlich machen, Unterstützung und teilweise Übernahme durch Dritte zu geben. Hier müssen Therapieregime einfach und sicher gestaltet werden, um in der Versorgungsrealität Bestand zu haben. Angehörige und Pflegende benötigen Schulung und Einbeziehung in die Therapieplanung. Die Blutzuckerzielwerte sind nicht mehr so engmaschig zu setzen, so sollte der Nüchternblutzucker nicht unter 100 mg % betragen und im Tagesverlauf sollte der Blutzucker unter 200 mg% betragen. Der HbA1C-Zielwert liegt bei 7 – 8 %.
  • No-Gos sindauf pflegerische Versorgung und Übernahme bis hin zur palliativen Betreuung angewiesen. Der HbA1C-Zielwert sollte bei 8 % liegen. Wenn die Blutzuckerwerte regelhaft deutlich über 200 mg% steigen und der HbA1c-Wert auf Werte über 8 % steigt, benötigen selbstverständlich auch geriatrische Patienten eine Insulintherapie.

Geriatrisches Assessment

Die geriatrischen Symptomkomplexe, auch geriatrische I genannt, sind hilfreich: Immobilität, Instabilität (Sturz), Intellektueller Abbau, Inkontinenz und Iatrogene Einflüsse (ärztliche Polypharmazie).

Zur Aufdeckung der Probleme – aber auch zum Erkennen von Ressourcen – eignet sich das geriatrische (Basis-)Assessment. Mit dem Barthel-Index (max. 100 Punkte) kann die basale Selbsthilfefähigkeit überprüft werden und z. B. mit dem Mini Mental State Examination (MMSE) ist eine erste Einschätzung der Hirnleistungsfähigkeit möglich. Die maximale Punktzahl beträgt 30, bei weniger als 24 Punkten wird die Diagnose einer Demenzerkrankung immer wahrscheinlicher. Ergänzend hilfreich ist hier der Uhrentest. Für den Bereich Mobilität zeigt der Up & Go-Test eine hohe Aussagekraft. Ein Zeitbedarf von mehr als 15 sec signalisiert Gangunsicherheit, Sturzgefahr und letztendlich eingeschränkte selbstständige Lebensführung. Im Screening für eine Depression wird die Geriatrische Depressionsskala nach Yesavage verwandt.

Selbstmanagement

Die moderne Diabetestherapie stellt an den Patienten große Anforderungen des Selbstmanagements, die der typisch geriatrische Patient nicht leisten kann. Standardisierte Therapien sind daher häufig zum Scheitern verurteilt. Stattdessen ist die Zieldefinition gemeinsam mit dem Patienten wichtig: Welche Ziele hat der Patient, was kann er leisten, wann ist er überfordert, wo ist Hilfe sinnvoll bzw. unumgänglich? Gerade Go-Go-Patienten bedürfen eines wiederholten geriatrischen Assessments, um rechtzeitig eine nachlassende Alltagskompetenz zu erkennen und eine Therapieanpassung (Vereinfachung) vorzunehmen. Hat der Patient alles verstanden (akustisch und kognitiv), kann der Patient die Verordnung lesen (Katarakt, Glaukom, Makuladegeneration, Retinopathie …). Wie ist die manuelle Geschicklichkeit? Können Tabletten der Packung entnommen werden? Können Tabletten geteilt werden? Kann ein Pen eingestellt werden? Kann das Display des Pens gelesen werden?

Dies alles ist nicht banal, denn in einer Studie an alltagskompetenten zu Hause lebenden Menschen (im Durchschnitt 81 Jahre, zu 66 % Frauen) zeigte sich, dass es für 63,9 % unmöglich war, die Sicherheitslaschen am Deckel zu öffnen, an Drück- und Drehflaschen scheiterten 44,5 %, an den gerade für die ältere Bevölkerung entwickelten Dosetten scheiterten immerhin 16,8 % und 10,1 % konnten Tabletten nicht aus dem Blister nehmen.

Hilfreich ist es daher, jeweils Präparate auszuwählen, die z. B. in der digitalen Anzeige sehr klar sind. Zwischen den Pens gibt es große Unterschiede. Tabletten sollten möglichst nicht noch geteilt werden müssen. Das Herausdrücken aus den Blistern ist je nach Hersteller unterschiedlich leicht oder schwer. Grundsätzlich gilt es, die Therapien möglichst einfach zu halten. Dies gelingt durch Bevorzugung von Einmalgaben sowohl bei den oralen Antidiabetika als auch bei den Injektionen.

Bei der Planung der Therapie ist es zudem wichtig, die psychoemotionale, die kognitive und auch die soziale Situation zu berücksichtigen. Sowohl Depression als auch Demenzerkrankungen und Diabetes treten überzufällig gemeinsam auf und führen einerseits zu einer schlechteren Stoffwechsellage und andererseits auch zur Aggravierung depressiver und demenzieller Symptome.

Compliance-Killer

Negativ auf die Compliance wirken sich aus:

  • Mobilitätsdefizite (Beschaffen und Zubereiten angemessener Nahrung)
  • kognitive Defizite
  • Depression
  • fehlendes oder inadäquates Schulungsangebot
  • hohe Einnahmefrequenz von Medikamenten
  • häufige Insulininjektionen
  • erlebte Hypoglykämien

Die leitliniengerechte Diabetestherapie sieht für alle Diabetiker eine Schulung vor. In der Realität nehmen nur ca. 50 % der Typ-2-Diabetiker eine Schulung wahr. Für geriatrische Patienten ist die SGS (Strukturierte geriatrische Schulung, jetzt umbenannt in Slow-Go-Schulung) entwickelt worden. Das Curriculum ist mit Kleingruppen, häufigen Wiederholungen und reichlich Praxisbezug auf die Bedürfnisse geriatrischer Patienten abgestimmt (vgl. Kasten).

Hypoglykämiegefahr

Eine strikte Vermeidung von Hypoglykämien ist in letzter Zeit ein übergeordnetes Therapieziel geworden, nachdem in Studien deutlich wurde, dass bereits eine geringe Zahl von schweren Hypoglykämien (d. h. mit Fremdhilfe) im jüngeren Erwachsenenalter zu erheblich ansteigendem Demenzrisiko führt. Auch bei Demenzen besteht per se eine erhöhte Hypoglykämiegefahr. Ein vorzeitiger Abbruch großer Studien erfolgte wegen Übersterblichkeit bei straffer Stoffwechseleinstellung. Dies wird ebenfalls mit gehäuft auftretenden Hypoglykämien in Zusammenhang gebracht. Die von dem Patienten in der Hypoglykämie erlebte Hilflosigkeit führt zudem oft dazu, dass das Therapieregime nicht mehr akkurat umgesetzt wird und höhere Blutzuckerwerte angestrebt werden.

Strukturierte geriatrische Schulung (SGS)
Inhalte:
  • Basiswissensvermittlung
  • Kleingruppen: 3 – 5 Teilnehmer
  • Erkennen blutzuckersteigernder Nahrungsmittel
  • Viel Praxisbezug ("eine Handvoll Obst") und praktische Übung (Blutzuckerselbstkontrolle)
  • Häufige Wiederholungen

Weggelassen wird:
  • Pathophysiologie
  • Insulinwirkkurven und Insulindosisanpassung
  • Berechnung der Nahrung nach Kohlenhydrateinheiten

SGS ist nicht mehr möglich bei fortgeschrittener Demenz

Orale Antidiabetika

Metformin ist auch im Alter das Medikament der ersten Wahl. Dabei ist unbedingt auf eine GFR > 60 ml zu achten, denn ansonsten besteht in Deutschland eine Kontraindikation (wenn auch in anderen Ländern Metformin z. T. bis zu einer GFR von 30 ml/min verordnet wird). Kreatinin ist bei muskelarmen älteren Patienten oft irreführend normal. Zu bedenken sind auch mögliche gastrointestinale Beschwerden unter Metformin-Einnahme. Bei fehlender Kontraindikation und guter Verträglichkeit sollte eine Zieldosis von 2 x 1000 mg angestrebt werden. Der große Vorteil des Metformins besteht in nahezu fehlender Hypoglykämiegefahr.

Acarbose, ausgestattet mit guten Studiendaten zur Senkung des kardiovaskulären Risikos, wird auch im Alter schlecht akzeptiert, da gastrointestinale Nebenwirkungen mit Flatulenz bis zur sozialen Unverträglichkeit und Isolation führen.

Eingeschränkt geeignet für den geriatrischen Patienten sind die neuen SGLT2-Hemmer, auch Gliflozine genannt. Sie führen durch Hemmung der tubulären Glukoserückresorption aus dem Primärharn zu vermehrter Glukoseausscheidung und somit zur Blutzuckersenkung. Bei nachlassender Nierenfunktion lässt die Wirkung der Gliflozine nach, eine Anpassung an die GFR ist je nach Präparat notwendig bzw. es ergeben sich Kontraindikationen. Es besteht ein erhöhtes Risiko für Harnwegsinfektionen und urogenitale Mykosen. Durch die Glukosurie entsteht zudem ein kontinuierlicher Kalorienverlust, der bei vielen hochaltrigen Patienten nicht erwünscht ist. Der Vorteil der Gliflozine liegt in der fehlenden Hypoglykämiegefahr, Daten für Ältere fehlen.

Als ungeeignet müssen inzwischen die jahrzehntelang eingesetzten Sulfonylharnstoffe bezeichnet werden. Es besteht eine große Gefahr für langanhaltende Hypoglykämien und eine kardiovaskuläre Übersterblichkeit ist in Studien belegt.

Die Gliptine/DPP-4-Hemmer zeigen ebenfalls ein nahezu fehlendes Hypoglykämierisiko. Große Endpunktstudien haben ihre kardiovaskuläre Sicherheit belegt, auch bei Niereninsuffizienz können diese Substanzen dosisadaptiert verordnet werden. Vermehrtes Auftreten von Pankreatitis und Pankreas-Karzinom hat sich nicht bestätigt.

Die Inkretinmimetika als GLP-1-Analoga müssen injiziert werden, verursachen keine Hypoglykämien und erfordern ebenfalls eine Anpassung an die Nierenfunktion. Die Gabe ist meist mit im Alter unerwünschtem Gewichtsverlust verbunden.

Insulintherapie

Die Insulinbehandlung ist eine komplexe Therapie und sollte wohlüberlegt sein, denn auch hier besteht grundsätzlich ein hohes Hypoglykämierisiko. Zudem sehen wir im klinischen Alltag immer wieder Patienten, die auf eine intensivierte Insulintherapie eingestellt und damit völlig überfordert sind. Insuline können nicht benannt werden, schnellwirksame und langwirksame Insuline werden verwechselt. Die Anpassung des schnellwirksamen Insulins an den aktuellen Blutzucker bereitet Schwierigkeiten, der Pen kann motorisch-funktionell und/oder kognitiv nicht sicher gehandhabt werden. Mischinsuline werden nicht geschwenkt und bevorzugt wird immer wieder in dieselben Hautareale injiziert. All diese Problemstellungen gilt es in der Arztpraxis zu überprüfen.

Je weniger Injektionen, umso größer die Lebensqualität. So eignet sich die basalunterstützende orale Therapie (BOT) mit 1 x täglicher Gabe eines langwirksamen Insulins oft gut als Einstieg in die Insulinbehandlung. Die BOT kann den Blutzuckertagesverlauf glätten. Mit fortschreitender Krankheitsdauer werden die Anforderungen an die Therapie in aller Regel komplexer und im Rahmen der Insulintherapie bevorzugen wir dann die konventionelle Therapie mit 2 x täglicher Injektion einer fixen Dosierung eines Mischinsulins (üblicherweise Mischverhältnis 30/70). Da Mahlzeiten regelmäßig eingenommen werden und auch die Nahrungsmenge zumeist gleichbleibend ist, kann mit dieser verhältnismäßig einfachen – wenn auch pathophysiologisch nicht optimalen – Therapie längerfristig eine zufriedenstellende Stoffwechseleinstellung erzielt werden. Diese Therapie ist auch für einen eventuell notwendigen Pflegedienst praktikabel.

Die SIT (supplementäre Insulintherapie) und die ICT (intensivierte konventionelle Therapie) mit der Kombination von mahlzeitenbezogenem schnellwirksamen Insulin, jeweils angepasst an den aktuellen Blutzucker und an ein- bis zweimal tägliche Gaben von langwirksamem Insulin, ist für den geriatrischen Patienten kaum zu bewältigen und auch Pflegedienste scheitern an der Komplexität im Pflegealltag.

Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus wie Nephropathie, Neuropathie, Retinopathie und Fußsyndrom beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich. Die optimierte Stoffwechseleinstellung und die Vermeidung von nephrotoxischen Medikamenten bei regelmäßiger Kontrolle von Kreatinin und GFR, ergänzt durch regelmäßige Augenarztbesuche und ärztliche Begutachtung der Füße inklusive Diagnostik mit Stimmgabel und Monofilament, sichern den geriatrischen Patienten ein erhebliches Maß an Lebensqualität.



Dr. med. Ann-Kathrin Meyer, Hamburg

Geriatrie
Asklepios Klinik Wandsbek
22043 Hamburg

Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (5) Seite 38-42