Nutzen und Wert der Schutzimpfung stehen außer Frage. Es gibt jedoch Situationen, bei denen viele Kollegen Zweifel haben und befürchten, mit einer Impfung mehr zu schaden als zu schützen. Man denke etwa an Krebspatienten, Menschen mit Autoimmunerkrankungen, HIV oder Allergien. Doch sind diese Bedenken wirklich berechtigt? Der folgende Beitrag soll aufzeigen, was heute noch gilt und auf welchen Gebieten aufgrund des Fortschritts der Medizin ein Umdenken erforderlich ist.

Die üblichen, der Schutzimpfung innewohnenden Gefahren konnten aufgrund zunehmender Kenntnisse in der Herstellung und Anwendung der Impfstoffe bis zum heutigen Tag erheblich reduziert werden. Dadurch eröffnete sich die Möglichkeit zu impfen, wo bislang Zurückhaltung geboten war. Auch gelang es immer mehr in ehedem medizinisch oder ärztlich kaum beherrschbaren Situationen, eine deutliche Besserung zu erreichen und zu erhalten, in Einzelfällen sogar Heilung. Beide Entwicklungen schoben gemeinsam die Grenzen der Schutzimpfung immer weiter hinaus, so dass heute im Hinblick auf eine bessere Prognose nicht wenige, denen früher vom Impfen abgeraten worden wäre, nunmehr dazu aufgefordert werden.

Impfen bei Krebspatienten

In der Onkologie war die Impfung lange Zeit weniger bedeutsam wegen der überwiegend schlechten Prognose mit kurzer Lebenserwartung. Durch die Erfolge der Therapie leben die Betroffenen nicht nur länger, sondern auch in einem deutlich besseren Allgemeinzustand. Dies schlägt sich nieder in einer Lebensführung mit Tätigkeiten und Reisen, bei welchen Impfungen angezeigt sind.

Therapie als limitierender Faktor

Die Problematik liegt in der Besonderheit der Therapie. Zytoreduktive und aktivitätshemmende Maßnahmen hemmen auch Abwehr und Immunreaktion. Das bedeutet auf der einen Seite erhöhte Infektanfälligkeit mit der Notwendigkeit eines abdeckenden Impfschutzes. Auf der anderen Seite wird die Induktion einer spezifischen Immunantwort herabgesetzt. Eine Beeinträchtigung der Abwehr ist bei malignen hämatologischen Prozessen stärker ausgeprägt als bei soliden Organtumoren. Doch selbst bei nicht-hämatologischen Prozessen ist dies nachweisbar.

Eine Beeinträchtigung der T-Zellaktivität findet sich bei M. Hodgkin. B-Zelldefekte sind bei CLL und Multiplem Myelom zu erwarten. Cyclophosphamid schädigt z. B. den Thymus. Besonders betroffen sind T-Zellen, also die zellvermittelte spezifische Immun­abwehr. Potenziell kurative Polychemotherapie hat dabei stärkere Effekte als palliative Monotherapie. Massive T-Zelldefekte bringt auch die Behandlung mit Purinanaloga.

Kortikoide nehmen eine Sonderstellung ein. Bei topischer Anwendung, lokaler Applikation und systemischem Prednison/Prednisolon < 2 mg/kgKG sind sämtliche Impfungen gestattet. Systemische Applikation von Prednison/Prednisolon in einer Dosis von > 2 mg/kgKG über mehr als zwei Wochen erfordert vier Wochen Abstand zu allen Impfungen. Depotpräparate dürfen nicht verabreicht werden.

Immunsystem rechtzeitig ankurbeln!

Die Behandlung insbesondere hämatologisch-onkologischer Erkrankungen ist für die Abwehr sehr belastend. Die einschneidenden Maßnahmen vermögen sogar das vorher etablierte Impfgedächtnis zu löschen. Es ist daher wichtig, unter Berücksichtigung der Therapie durch Impfung die Abwehr erneut aufzubauen.

Falls möglich sollte man noch vor Beginn einer zytostatischen Therapie ausstehende Impfungen vervollständigen. Bei einem Karzinomverdacht geht erfahrungsgemäß durch anstehende Kontrolluntersuchungen beim Fachkollegen mindestens eine Woche vorbei. Diese Zeitspanne kann der Hausarzt nutzen, um eine Impfung vorzunehmen. Dabei schadet es nicht, eine im mehrjährigen Rhythmus vorzunehmende Impfung um ein bis zwei Jahre vorzuziehen. Da heute eine beträchtliche Auswahl an Kombinationsimpfstoffen verfügbar ist, lassen sich mehrere Impfungen zusammenlegen. Ein Telefonat mit den zuständigen Zentren schafft bei Zweifeln Klarheit. Wiederholungsimpfungen bringen die Maschinerie des spezifischen Immunsystems binnen einer Woche von Leerlauf auf stramme Leistung. Das schützt für die bevorstehende Zeit immunkompromittierender Maßnahmen, die ansonsten über Monate eine Impfung verhindern oder ineffizient machen.

Eine anstehende Grundimmunisierung ist diesbezüglich anders zu handhaben. Ihr Nutzen in einem solchen Fall hängt von der Spezifität und dem verbleibenden Intervall bis zum Therapieeinsatz ab. Zusätzlich ist die bereits eingetretene mögliche Behinderung des Immunsystems von Bedeutung. Dies gilt insbesondere für den Fall der Lebendimpfung.

Was tun bei fortgeschrittenem Krebs?

Falls die Betroffenen bereits Folgen der malignen Erkrankung aufweisen wie Mangelernährung oder Fieber, oder falls reaktive Organschäden von Leber, Niere oder Endokrinium vorliegen, wird es schwierig, allgemeine Regeln aufzustellen. Hier muss der die spätere Betreuung übernehmende Fachkollege in seiner Gesamtschau entscheiden. Dazu zählt etwa die Überlegung, dass bei malignen Prozessen der Lunge auf Immunprophylaxe gegenüber Influenza oder Pneumokokken geachtet werden muss.

Autoimmunkrankheiten

Die Immunreaktion gegen körpereigene Strukturen als Ursache für die Autoimmunopathie wirft zunächst mit Bezug auf Impfungen kein Problem auf. Es gibt jedoch einige Ausnahmen. So stellt die Zerstörung der Phagozyten etwa in Form einer Agranulozytose ein unmittelbar verursachtes Defizit dar. Bei Autoimmunopathien insbesondere von Leber und Niere erfolgt durch Funktionseinbuße der Organe quasi eine innere Vergiftung, die auch sämtliche Elemente der Abwehr betrifft. Ansonsten wird die Abwehr bei Autoimmunopathien durch die Therapie behindert. Das liegt an der generalisierten Wirkung der medikamentösen Immunsuppression, die sich nicht nur auf die pathogenen Klone beschränkt, sondern auch die protektiven Klone mit einbezieht. Dies äußert sich in einer allgemeinen Infektanfälligkeit.

Die übliche Immunsuppression folgt weitgehend unabhängig von den eingesetzten Substanzen der Strategie zunächst unbegrenzter Dauer. Daraus folgt eine anhaltende Reduzierung der Immunabwehr. Bei den meisten Autoimmunkrankheiten wird die Immunsuppression nicht schon bei den ersten Symptomen begonnen. Daher gilt auch hier, sofort anstehende oder gar fehlende Impfungen vorzunehmen.

Keine Lebendimpfungen!

Bei aktiven Schutzimpfungen sind aus Vorsichtsgründen Lebendimpfungen ausgeschlossen. Das gilt auch für die parenterale und die orale Applikation. Ist eine Lebendimpfung unverzichtbar, etwa bei Einreise in infektträchtige Gebiete, so muss die medikamentöse Immunsuppression für wenigstens drei Monate unterbrochen sein. In jedem Fall sollte eine Titerkontrolle zur Sicherung oder vielmehr Bestandsaufnahme der Effizienz erfolgen.

Impfungen sollten nicht vorgenommen werden während aktiver Phasen der Autoimmunkrankheit. Denn hierbei wird die Immunsuppression verstärkt durch Dosiserhöhung oder Addition eines weiteren Medikamentes. Nachdem sich der Krankheitsprozess beruhigt hat, soll noch so lange mit der Impfung gewartet werden, bis das System stabilisiert ist. Das dauert etwa bei Applikation verzögert oder verlängert wirkender Substanzen wie Biologicals oder einer Stoßtherapie mit Cyclophosphamid in der Regel mehrere Wochen.

MS und Myasthenia gravis

Umstritten und unterschiedlich bewertet wird die Impfung bei Multipler Sklerose und Myasthenia gravis. Das beruht weniger auf immunbiologisch physiologischen Überlegungen als auf der Tatsache, dass ein nach Impfung auftretender Schub in beliebigem Abstand meist mit der aktiven Impfung in Zusammenhang gebracht wird. Es wird aber auch gegenteilig argumentiert, indem auf die nicht nur potenzielle, sondern reelle Gefahr einer Exazerbation durch die natürliche Erkrankung hingewiesen wird, die ohne Impfschutz besonders stark ausfällt. Eine Impfung kann nur bei stabiler und kontrollierter Situation vorgenommen werden.

Immunmangel und Immundefekt

Der zugrundeliegende Status ist vergleichbar mit dem von onkologischen oder autoreaktiven Erkrankungen. Demgegenüber handelt es sich nicht um ein sekundäres Phänomen, sondern um eine primäre Störung der Abwehr selbst.

Im Gegensatz zur Situation in der Hämatologie und Onkologie wie auch zu Autoimmunkrankheiten fehlen bei primären Immundefekten Maßnahmen zur Hemmung der Zellteilung. Dies erleichtert das Vorgehen, weil eine Abstimmung mit der Therapie nicht erforderlich ist. Ausgenommen sind Fälle, bei denen Abwehr und Immunsystem therapeutisch oder prophylaktisch massiv unterstützt werden.

Patienten mit weniger stark ausgeprägten Defektsyndromen schützt man nicht selten vor allem während oder kurz vor belastenden Situationen passiv durch humane Antikörper. Hier gilt es, die Impfung mit der Applikation abzustimmen, da Lebend­impfungen in Gegenwart spezifischer Antikörper weniger effizient sind.

Art des Immundefekts entscheidet

Die Schwere der Funktionsstörung nimmt in der Reihenfolge T-Zell-Defekt, B-ZellDefekt, Phagozyten-Defekt, Komplement-Defekt ab. Bei T-Zell-Defekten können Lebendimpfungen abhängig von Analysen der Lymphozytenzahl und -funktion verabreicht werden, bei B-Zell-Defekten scheinen Lebendimpfstoffe grundsätzlich gut vertragen zu werden. Dies gilt auch für Phagozyten-Defekte mit Ausnahme der Tuberkulose-Lebendimpfung.

Abwehr analysieren

Totimpfstoffe dürfen generell bei Immundefekten verabreicht werden. Lebendimpfstoffe sind grundsätzlich zu vermeiden. Im Einzelfall kommt es auf den Schweregrad der Erkrankung und das Gefährdungspotenzial möglicher Infektionskrankheiten an (s. o.). Neben der Anfälligkeit nicht nur bezüglich banaler Infekte, sondern vor allem auch bezüglich Pilzbefall helfen Analysen der Abwehr weiter. Dazu dient die Differenzierung der Lymphozyten im peripheren Blut als Routineanalyse ebenso wie die spezialisierten Einrichtungen vorbehaltene Messung der Lymphozyten- und Phagozyten-Aktivität.

Knochenmarkspender vorher impfen!

Ausgeprägte Defektsyndrome mit Aneinanderreihung schwerer Infektionsprozesse können durch Knochenmarktransplantation und Stammzelltransplantation gebessert werden. Hier ist es wichtig, vor dieser Maßnahme den Spender komplett zu impfen. So wird die Impfimmunität in einem gewissen Grade weitergegeben.

HIV: Totimpfstoffe erlaubt

Bei HIV-Infizierten besteht unter adäquater Therapie bei stabilem Status eine ausreichende Immunantwort. Totimpfstoffe können ohne Risiko und mit Erfolg appliziert werden. Bei dringlicher Indikation gilt dies in Einzelfällen auch nach Ermessen des betreuenden Zentrums für Lebendimpfstoffe.

Impfungen bei Allergie

Allergien waren früher eine der wichtigen Kontraindikationen bei Impfungen. Die damals vergleichsweise häufigen, teilweise heftigen bis lebensbedrohlichen Komplikationen waren den Additiven und Verunreinigungen der Impfstoffe anzulasten. Heutige Herstellungsverfahren kommen mit deutlich weniger derartigen Substanzen aus, und zwar sowohl bezüglich der Stoffe als auch deren Menge. Daher sind allergische Reaktionen sehr viel seltener geworden.

Derzeit wird vor allem auf Proteine vom Huhn hingewiesen, die noch in einigen wenigen Vakzinen enthalten sind. In Einzelfällen kann bereits auf hühnereiweißfreie Impfstoffe ausgewichen werden. Dies gilt in gewisser Weise auch für Antibiotika. Bedenken werden auch gegenüber Adjuvantien geäußert. Hier liegen weltweit hinreichende Erfahrungen vor bezüglich der Verträglichkeit. Langjährige Beobachtungen haben hier große Sicherheit gebracht. Inwieweit noch nach Jahrzehnten unerwünschte Wirkungen auftreten können, ist nicht bekannt, wenngleich nahezu ausgeschlossen.

Asthmatiker rechtzeitig impfen!

Es sei darauf hingewiesen, dass bei besonderen Allergien eine Impfung sogar wichtig ist. Dies ist der Fall bei Asthma bezüglich Infektionen des Respirationstraktes. Hier kann jede Irritation – gerade durch Infekte – Auslöser obstruktiver Perioden sein. Daher muss rechtzeitig gegen Grippe und Pneumokokken geimpft werden. Bei Neurodermitis und schwerem Ekzembefall ist die Impfung gegen Varizellen sehr wichtig, da hier die lädierte Haut infektgefährdet ist und sich Infektionen durch Kratzen rasch ausbreiten.

Allgemeine Hinweise

Unabhängig von den Impfempfehlungen bezüglich Betroffener gilt es, Ansteckungsquellen zu meiden. Daher sind sämtliche Familienmitglieder ebenfalls zu impfen. Im erweiterten Sinne sollten auch alle Kinder eines Hortes, Mitglieder eines Heimes und bei sportlicher Betätigung Trainer, Physiotherapeuten usw. komplett geimpft sein. Wichtig ist es darüber hinaus, Gesunde vom Nutzen der Impfung zu überzeugen. Über Nacht können Krankheiten auftreten, bei denen Impfschutz sehr wichtig, mitunter sogar lebensrettend ist.


Interessenkonflikte:
Der Autor ist für das Institut für hausärztliche Forschung (IHF) und für Berufsbildungswerke (Weiterbildung Medizinischer Fach­angestellter zu Impfassistentinnen) tätig, teilweise mit Unterstützung von Sanofi Pasteur MSD.

Prof. Dr. med. Hanns-Wolf Baenkler


Kontakt:
Prof. Dr. med Hanns-Wolf Baenkler
Medizinische Klinik III
Universität Erlangen-Nürnberg
91045 Nürnberg

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (17) Seite 45-49