Die medizinische Bedarfslage und das, was ärztlich getan wird, klaffen eklatant auseinander. Auf das Thema Über- und Unterversorgung fokussiert sich das Buch „Viel zu viel und doch zu wenig".

Die fundierten Analysen im Buch untermauern, dass unser Gesundheitssystem trotz aller Vorzüge im Vergleich mit anderen Ländern nur scheinbar eine optimale Versorgung bietet. Vielfach werden große und kleine Patienten mit Fehlversorgung konfrontiert, die sich sowohl in Unter- wie auch in der Überversorgung widerspiegelt. Beispiele hierfür gibt es zur Genüge:
- So müssen ältere Menschen pro Tag häufig bis zu 12 Arzneimitteln und mitunter sogar mehr schlucken, wobei zumeist auch lediglich die Hälfte der Dosis ausreichen würde.
- Darüber hinaus liegen die Deutschen an der Weltspitze bei Rücken-, Knie- und Hüftoperationen, obwohl vielfach diese Operationen gar nicht notwendig und mitunter sogar schädlich sind.
- Zudem existieren in Deutschland viel zu viele Kliniken mit zu vielen Betten auf Normalstationen, die nach dem Motto „alle Kliniken machen alles“ mit möglichst vielen Patienten belegt werden müssen, um finanziell über die Runden zu kommen.
- Anderseits mangelt es an Kinderkliniken fast an allem, um insbesondere chronisch kranke Kinder gut versorgen zu können.
- Und an allen Stellen des Gesundheitssystems fehlt es an Zeit und mangelnder Zuwendung.

Diese geballte Menge an Fehlsteuerung, die zu der Fehlversorgung führt und die in dem Buch „Viel zu viel und doch zu wenig“ an 39 Fallbeispielen aus der Erwachsenenmedizin sowie aus der Kinder- und Jugendmedizin festgemacht und mit konkreten Fallbeispielen untermauert wird, kostet der Versichertengemeinschaft aufgrund unzureichender Planung und mangelhafter Koordination jedes Jahr Milliarden.

Diese gravierenden Auswirkungen sind durch die Folgen der langanhaltenden Corona-Pandemie, durch die viele Mittel, Personalkräfte und Kapazitäten noch stärker als zuvor gebunden werden, noch deutlich verschärft worden. Der Druck auf die politisch Verantwortlichen wächst stetig. So kündigt der Vorstandsvorsitzende der Techniker-Krankenkasse Jens Baas bereits Anfang 2021 an, dass der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung voraussichtlich um mehr als ein Prozentpunkt ansteigen wird, um die finanziellen Defizite ausgleichen zu können. Um das zu verhindern, müssen die Fehlsteuerungen im System dringender denn je beseitigt werden.

Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass dem Gesundheitssystem dringend mehr Fachkräfte (insbesondere Fachärzte, Allgemeinmediziner sowie Pflegekräfte) zur Verfügung gestellt werden. Warum muss erst eine Corona-Pandemie kommen, um festzustellen, dass Teile des Gesundheitssystems fehlgesteuert sind und alle Gesundheitsberufe zwar systemrelevant sind, bisher aber systematisch beschnitten worden sind?

Das Fazit, das Herausgeber Raimund Schmid gemeinsam mit den 39 Fachautoren zieht, ist daher eindeutig: Bei den Patientengruppen, die überversorgt werden, müssten in Zukunft deutlich weniger Gesundheitsleistungen veranlasst werden. Dieses „Weniger an Medizin“ würde sich sogar positiv auf die Gesundheit dieser überversorgten Patientengruppe auswirken.

Und: Würden die eingesparten Ausgaben für unnötige Gesundheitsleistungen den bisher unterversorgten Bevölkerungsgruppen (vor allem einen Großteil der chronisch kranken Kinder und der geriatrischen sowie pflegebedürftigen Patienten) zugutekommen, wäre endlich eine Balance hergestellt, von der alle Patienten und Gesundheitsakteure hierzulande und das Gesundheitssystem insgesamt enorm profitieren würden.

Konkrete Vorschläge hierfür bietet das Buch in Hülle und Fülle und ist daher nicht nur eine Fundgrube für Ärzte und andere medizinische Experten und politisch Verantwortliche, sondern auch für den medizinischen Laien. Denn jeder kann von heute auf morgen zum Patienten werden und sollte daher frühzeitig gewappnet sein, um nicht selbst in eine fatale Fehlversorgungsspirale zu geraten.

„Viel zu viel und doch zu wenig“, Urban & Fischer (Elsevier), 2021, ISBN 978-3-437-24061-4; Preis: 24 Euro.