Unser FallDie 75-jährige Maria H. klagt seit zwei Tagen über starke, einseitige Gesichtsschmerzen, die hinter dem rechten Ohr ihren Anfang genommen hätten. Zudem leide sie unter gleichseitigen Kiefer- und Zahnschmerzen, die sie aber nicht näher eingrenzen könne. Sie sei immer ohrgesund gewesen, habe auch jetzt subjektiv keine Hörminderung auf dem betroffenen Ohr, keinen Schwindel und kein Fieber. Jetzt sei sie allerdings beunruhigt, weil sich aus dem schmerzenden Ohr kräftig Eiter entleere.Bei der Untersuchung sind der Tragus und die retroaurikuläre Umgebung des rechten Ohres äußerlich zwar unauffällig, aber deutlich druckschmerzhaft. Ein Trommelfellbefund kann nicht erhoben werden, weil der rechte Gehörgang nahezu vollständig zugeschwollen ist. Nach Entnahme eines Abstrichs wird zur Abschwellung ein Tamponadestreifen in den erkrankten Gehörgang eingelegt, der mit 70 %igem Isopropylalkohol und einer Kortisonlösung getränkt ist. Am nächsten Morgen ist der Gehörgang so weit offen, dass im vorderen, unteren Anteil des entzündlich geröteten Trommelfells eine kleine Perforation erkennbar wird, aus der sich putrides Sekret entleert. Unter dem Bild einer purulenten Otitis media mit begleitender Entzündung des Gehörganges wird systemisch und topisch mit einem Gyrasehemmer behandelt. In den folgenden Tagen kommt es zunächst zu einer Schmerzreduktion und Minderung der Otorrhoe, zumal auch die inzwischen nachgewiesenen Pneumokokken für das eingesetzte Antibiotikum sensitiv sind. Eine knappe Woche nach der Erstkonsultation berichtet die Patientin jedoch von erneuten Ohrenschmerzen mit einem maximalen Schmerzpunkt über dem kaudalen Anteil des Mastoids. Außerdem sei ihr aufgefallen, dass sie die rechte Gesichtshälfte nicht mehr so richtig bewegen könne (Abb. 1), meningitische Zeichen oder ein Nystagmus finden sich nicht.Unter der Diagnose einer otogenen Fazialisparese wird die Patientin umgehend in eine Hals-Nasen-Ohrenklinik eingewiesen und dort am nächsten Tag operiert. Wie klinisch schon zu vermuten war, hatte die Mittelohrentzündung zu einer Mastoiditis mit Einbeziehung des N. facialis geführt. Nach der Operation bilden sich der lokale Ohrbefund und die Fazialisparese regelrecht zurück. Fast zwei Monate nach diesem Ereignis kommt Maria H. erneut sehr besorgt mit einer rechtsseitigen Otalgie ohne Otorrhoe in die Sprechstunde. Sie befürchtet einen Rückfall, wobei die Beschwerdeschilderung anders klingt: Jetzt sei es die Region vor dem Ohr und über dem Kiefergelenk, die ihr Schmerzen bereite, und schon beim Öffnen des Mundes habe sie erhebliche Einschränkungen. Tatsächlich sind das rechte Mastoid, der Gehörgang und das Trommelfell vollkommen reizlos, der gleichseitige Kiefergelenkspalt aber sehr druckschmerzhaft und die Mundöffnungsweite deutlich reduziert. Die Vorstellung beim Kieferchirurgen bestätigt den Verdacht: Die „Ohrenschmerzen“ wurden diesmal durch eine Irritation des Kiefergelenkes initiiert und möglicherweise durch eine muskuläre Dysbalance in der Phase der Gesichtsnervenlähmung ausgelöst. Entsprechend wurde eine kieferorthopädische Behandlung mit einer Korrekturschiene (Abb. 2) eingeleitet, die zur nahezu vollständigen Beschwerdefreiheit der Patientin führte.

Dasselbe ist nicht das Gleiche

Die vorgestellte Kasuistik bestätigt die alte Erfahrung, dass ähnliche Symptome noch längst nicht die gleiche Ursache haben müssen, auch wenn es vom Betroffenen aufgrund einer zeitlichen Koinzidenz gerne so vermutet wird.

Unter einer Otalgie wird zunächst jeder im Ohr empfundene Schmerz verstanden. Weil nicht nur im Ohr, sondern auch weiter vom Ohr entfernt liegende Erkrankungen als Auslöser in Frage kommen, werden Ohrenschmerzen nach ihrer vermuteten Herkunft praktischerweise in ohrnahe (otogene) und ohrferne (nicht otogene) Otalgien unterteilt (Tabelle 1).

Kinder versus Erwachsene

Dabei unterscheiden sich die Ursachen bei Kindern und Erwachsenen nicht nur in der Art, sondern auch in der Häufigkeit erheblich. Kindliche Otalgien sind im hausärztlichen Praxisalltag hauptsächlich otogen, meist als Folge einer akuten oder rezidivierenden Otitis media, gelegentlich auch als Reizzustand durch Fremdkörper oder nach Manipulationen.

Beim adulten Ohrenschmerz spielen akute Mittelohrentzündungen eine eher nachrangige Rolle. Der Ohrenschmerz der Erwachsenen ist hälftig [1] durch strukturelle Läsionen des äußeren Ohres oder des Mittelohres, mindestens genauso häufig aber auch durch nicht otogene Auslöser (Tabelle 2) bedingt.

Die Genese nicht otogener Schmerzen erklärt sich aus der sensiblen Versorgung des Ohres, die durch vier Hirnnerven (V, VII, IX, X) und Äste des Plexus cervicalis (C2, C3) sichergestellt wird. Die möglichen Quellen (Tabelle 1) projizierter Otalgien sind damit vielfältig und in weiterführende Überlegungen bei der Ursachensuche mit einzubeziehen.

Abwendbar gefährliche Verläufe bei Otalgien

Im Hausarztalltag sind lebensbedrohliche Komplikationen bei akuten Ohrenschmerzen älterer Menschen selten. Wie unsere Fallgeschichte aber zeigt, können sich aus einer zunächst unproblematisch scheinenden Mittelohrentzündung durch Progression unerwartete Komplikationen (Mastoiditis, Fazialisparese, Meningitis, Gehirnabszess) entwickeln.

Obwohl diese Verläufe im hausärztlichen Alltag zwar Raritäten sind, müssen sie dennoch als abwendbar gefährliche Ereignisse bedacht werden, wenn sich außergewöhnliche Schmerzen oder neurologische Symptome dazugesellen (Tabelle 3).

Ebenso kann der häufig genug mit starken, schneidenden Ohrenschmerzen beginnende Peritonsillar- oder Retrotonsillarabszess plötzlich lebensbedrohliche Folgen für den älteren, nicht selten in seinem Allgemeinbefinden herabgesetzten Patienten haben, weil Atmung und Ernährung behindert werden.

Während diese bedrohlichen Verläufe selbst mit den eingeschränkten Möglichkeiten eines Hausarztes erkannt oder zumindest vermutet werden können, kann es bei akuten oder auch länger andauernden Ohrenschmerzen eines Erwachsenen ohne fassbare Ohrbefunde schwierig werden.

Häufiger zu bedenken sind dabei Erkrankungen der Halswirbelsäule, des Kiefergelenks, der Zähne und ihres Halteapparates sowie der nasalen Funktionsräume (Nasenhaupthöhle, Nasennebenhöhlen, Nasenrachenraum), die auch mit hausärztlichen Mitteln in der Zusammenschau von erhobenem Befund und entsprechenden Funktionsprüfungen (vgl. dazu auch Abb. 3) erkannt werden können. Sollten sich dabei keine Erklärungen für den Ohrenschmerz finden, muss letztendlich auch die Möglichkeit eines weiter entfernt liegenden Malignoms (Kiefer, Zunge, Mundboden, Pharynx, Oesophagus, Trachea) in Betracht gezogen werden und der Patient in jedem Fall weitergehend und interdisziplinär (HNO-Arzt, Neurologe, Orthopäde, Kieferorthopäde, Zahnarzt, Internist) abgeklärt werden.

Interessenkonflikte: keine deklariert


Literatur:
1) Göbel H, Baloh R, Heinze-Kuhn K, Heinze A, Maune S. Kopfschmerzen bei Erkrankungen der Ohren, Nase und Nasennebenhöhlen. Deutsches Ärzteblatt 2001; 98(7): A-396
2) Müller H. Genese rezidivierender Otalgien – Diagnostik und Therapie. Consilium Infektiologisches Zeitgeschehen 2003; 13(3): 42 - 44
3) Meyer F. "Ohrenschmerzen" S. 476 - 482 in: M. M. Kochen (Hrsg.) Allgemeinmedizin und Familienmedizin. 4. vollständig überarbeitete Auflage Georg Thieme Verlag Stuttgart (2012)
4) Meyer F, Knorr H. "Sinnesstörungen. Hören – Sehen – Gleichgewichthalten – Schmecken" Praxishilfe Praktische Geriatrie Band 2, 1. Auflage Kirchheim Verlag Mainz (2012)

Fritz Meyer


Kontakt:
Dr. med. Fritz Meyer, Facharzt für Allgemeinmedizin, Sportmedizin, Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, 86732 Oettingen/Bayern

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (1) Seite 40-42