In Deutschland leidet ein Viertel der über 75-Jährigen unter einem Diabetes mellitus. Ältere, multimorbide Patienten benötigen spezielle Vorgehensweisen bei der Therapie und wenn es darum geht, Behandlungsziele festzulegen. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Insulintherapie dar, da gut überlegt sein muss, welches Regime ohne Gefahr und unter Wahrung der Lebensqualität angewandt werden kann.
Für einige chronologisch ältere Menschen mit Diabetes gelten aufgrund ihres biologischen Alters ähnliche Therapieziele und damit auch Vorgehensweisen wie für jüngere Menschen mit Diabetes. Bezüglich der mikrovaskulären Folgeerkrankungen ist jedoch zu bedenken, dass eine mutmaßliche Lebenserwartung von unter zehn Jahren eine normnahe Blutzuckereinstellung nicht rechtfertigt, da diese Folgeerkrankungen einige Zeit bis zu ihrem Auftreten benötigen. Bei den makrovaskulären Begleit- und Folgeerkrankungen gilt hingegen, dass auch im hohen Alter die Vorteile einer guten Blutdruckbehandlung sowie ggf. die Behandlung einer Dyslipidämie gerechtfertigt sind.
Die Blutzuckereinstellung ist vor allem im Hinblick auf geriatrische Syndrome und die damit verknüpfte Lebensqualität maßgebend (Tabelle 1).
Die Diskussion um „die richtigen“ Blutzuckerwerte im Alter dauert an. Neue größere Studien, wie die ACCORD-Studie [2] oder die ADVANCE-Studie [3], zeigten, dass eine sehr straffe Blutzuckereinstellung (Zielwert HbA1c < 6,5 %) in Hinblick auf die Sterblichkeit bei Älteren gefährlich sein kann. Ältere sind zudem durch Hypoglykämien stärker gefährdet. Andererseits lassen sich verschiedene alltagsrelevante Problembereiche des Älteren, wie Harninkontinenz, Kognition, Gangstörung etc., durch bessere Blutzuckereinstellung verbessern. Das Therapieziel für den Blutglukosewert bzw. den HbA1c-Wert sollte individuell mit dem Patienten besprochen und definiert werden. Es sollte sich nach dem Wohlbefinden, dem Alter, dem Funktionsstatus und den primären Therapiezielen des Patienten richten. In der Regel sollte der angestrebte HbA1c-Wert unter 8 % liegen [4].
Von Go-Go bis No-Go
Mit höherem chronologischen Alter ist eine Unterscheidung in biologisch jüngere, „fitte“ Patienten (sogenannte „Go-Goes“), geistig und/oder physisch eingeschränkte Patienten („Slow-Goes“) und biologisch alte Patienten, schwerst Demenzkranke und/oder Bettlägerige („No-Goes“) hilfreich, um immer wieder neu über die individuellen Behandlungsziele des Älteren nachzudenken (Tabelle 2).
Schulung
Konventionelle Schulungsprogramme sind bei geriatrischen Patienten in aller Regel nicht sehr effektiv. Dagegen konnte eine spezielle „strukturierte geriatrische Schulung“ (SGS) für ältere bzw. kognitiv leicht eingeschränkte Menschen mit Diabetes mellitus eine hohe Effektivität zeigen [8]. Für die Schulung von Pflegekräften gibt es seit 2006 ein entsprechendes Curriculum „Fortbildung Diabetes für Altenpflegekräfte“ (FoDiAl) [9] bzw. das Diabetes-Pflege-Management-Programm für Krankenpflegekräfte [10].
Bewegung
Die mit zunehmendem Alter auftretende Sarkopenie (Verlust der Muskelmasse) mit Abnahme von Kraft und Gleichgewicht wird durch das Vorliegen eines Diabetes mellitus noch wesentlich verstärkt (z. B. durch eine Polyneuropathie mit afferenter Ataxie). Daher ist ein Training von Kraft und Balance bei geriatrischen Patienten mit Diabetes durch systematische Bewegungstherapie sinnvoll.
Ernährung
Ältere Menschen leiden häufiger unter Fehl- und Mangelernährung. Das für Typ-2-Diabetiker immer eingeforderte Abnehmen ist im höheren Lebensalter oft nicht sinnvoll: Ältere Menschen mit einem Body-Mass-Index < 22,7 kg/m2 haben eher eine höhere Morbidität und Mortalität als etwas Dickere [11].
Orale Antidiabetika (OAD)
Die Leitlinie und das Disease-Management-Programm (DMP) Typ-2-Diabetes fordern erstrangig den Einsatz von Metformin. Dem steht aber entgegen, dass bei geriatrischen Patienten häufig eine Nierenfunktionsstörung vorliegt. Das Serum-Kreatinin reicht zur Beurteilung der Nierenfunktion nicht aus, besser sollte man die Kreatinin-Clearance mittels Cockcroft-Gault-Formel (Abb. 1) berechnen. Eine Kumulation von Metformin kann ab einer Clearance unter 60 ml/min auftreten. Besonderheiten zur Therapie mit OAD finden sich in Tabelle 4.
Insulintherapie
Eine Insulintherapie sollte begonnen werden, wenn durch modifizierte Ernährungstherapie und/oder orale Antidiabetika das individuelle Therapieziel nicht erreicht werden kann, in der Regel immer bei einem HbA1c > 8 % [4]. Zwei Injektionen eines vorgemischten Insulins pro Tag sind bei den meisten älteren Diabetikern Standard. Ca. 50 % der in Heimen oder durch ambulante Pflegedienste betreuten Patienten werden in Deutschland so behandelt [12]. Der Beginn einer Insulintherapie ist für viele geriatrische Patienten mit Diabetes die beste Möglichkeit, eine anabole Stoffwechselsituation zu erreichen und somit die Mobilität und sogar teilweise die Kognition zu verbessern [13].
Komplexe Regimes mit mehrfacher Insulindosisanpassung können unter stationären Bedingungen erfolgreich sein, sind aber im ambulanten Bereich eher schwierig umzusetzen. Obwohl hierzu keine kontrollierten Studien vorliegen, kann der Spritz-Ess-Abstand auch bei normaler Mischinsulingabe aus Sicherheitsgründen entfallen. Auf die korrekte Handhabung - vor allem durch Mischen - ist zu achten.
Der einschleichende Beginn einer Insulintherapie mit einem Bedtime-Insulin ist bei vorliegendem metabolischen Syndrom sinnvoll. Vor allem Patienten mit Insulinresistenz (bauchbetonte Adipositas als Hinweis), erhöhten Nüchtern-Blutzuckern und relativ hohem Insulinbedarf profitieren. Beim älteren Patienten sollte der Ziel-Blutzuckerwert sicherheitshalber nüchtern eher 100 - 110 mg/dl betragen, keinesfalls darunter.
Wird NPH-Insulin gegeben, ist eine Injektion zwischen 22:00 und 23:00 Uhr sinnvoll. Für die meisten Älteren ist das zu spät und zudem nur bei Selbstinjektion, Gabe durch Angehörige oder in Institutionen (Pflegeheim) möglich, da ambulante Dienste um diese Zeit nicht mehr einsatzbereit sind. Von Vorteil ist dann die Gabe eines langwirksamen Analoginsulins. Insulin Glargin kann z. B. bereits morgens gegeben werden (ambulante Dienste!) und wirkt über 24 Stunden.
Kombination mit OAD
Gut möglich ist auch eine Kombinationstherapie mit oralen Antidiabetika, z. B. langwirksamer Sulfonylharnstoff morgens + feste Menge Alt-Insulin vor dem Frühstück, um eine 10:00-Uhr-Spitze zu kappen. Feste Mengen eignen sich besser für das Selbstmanagement, wobei es immer wieder auch Menschen gibt, die bis ins höchste Alter erfolgreich eine intensivierte Insulintherapie nach Schema (also Dosierung nach gemessenem Blutzuckerwert) durchführen. Angehörige sollten dabei geschult und einbezogen sein.
Supplementäre Insulintherapie
Der Einsatz von kurzwirksamen Analog-insulinen im hohen Alter in Form der supplementären Insulintherapie kann beispielsweise zur postprandialen Applikation je nach gegessener Essensmenge sehr sinnvoll sein. Mit dieser Strategie können unter anderem demente oder essgestörte Patienten in Pflegeheimen erfolgreich behandelt werden, und die Zahl der Krankenhauseinweisungen kann hierdurch niedrig gehalten werden.
Erforderliche Fähigkeiten
Der Beginn einer Insulintherapie im Alter sollte idealerweise im Rahmen eines strukturierten Behandlungs- und Schulungsprogramms erfolgen, da der Umgang mit dem Insulin-Pen eine große Herausforderung an Sehvermögen, Kognition und Feinmotorik darstellt. Um eine einfache Insulintherapie mit Insulin-Pen selbstständig durchzuführen, brauchen ältere Diabetiker nach der Studie DIAMAN [14] drei Fähigkeiten:
- richtig zählen können, um die richtige Zahl einzustellen,
- gut genug sehen, um die Dosisangaben auf dem Pen zu lesen, und
- die Hände müssen kräftig genug sein, um den Dosierknopf zu drücken, und ruhig genug, um die Injektion in Bauch oder Oberschenkel durchzuführen.
Alle drei Fähigkeiten können in der Praxis mit dem Geldzähltest einfach und schnell überprüft werden.
Das Ziel sollte sein, möglichst viele ältere Diabetiker zur eigenständigen Insulintherapie zu bringen, da der Einsatz einer professionellen Hilfe (Diakoniestation), die mehr oder weniger genau zur gewünschten Essenszeit nach Hause kommt, nicht unerhebliche zusätzliche Kosten und eine Einschränkung der Lebensqualität durch Abhängigkeit mit sich bringt.
Der Autor erhielt Vortragshonorare und Projektmittel von den Firmen Berlin-Chemie, BBraun, Novo Nordisk, Sanofi-Aventis und der Deutschen Diabetes-Stiftung
