Ihre Patient:in zieht sich zunehmend zurück, wirkt verzweifelt und hoffnungslos? Besteht vielleicht eine Suizidgefährdung? Wenn Sie diese nicht ausschließen können, müssen Sie handeln. Die proaktive Befragung gefährdeter Personen kann bei der Risikoabschätzung und Krisenbewältigung weiterhelfen.
Im Jahr 2018 starben in Deutschland 9.396 Menschen durch einen Suizid [1]. Suizide werden über die gesamte Lebensspanne hinweg vollzogen und betreffen sowohl Frauen als auch Männer. Weltweit ist in den vergangenen Jahrzehnten ein substanzieller Rückgang der Suizidrate zu verzeichnen – gleichwohl gehören Suizide weiterhin zu den häufigsten Todesursachen [2]. In der Suizidprävention kommt Hausärzt:innen eine Schlüsselrolle zu. So verweisen Studienergebnisse darauf, dass 45 % der Suizidanten im Monat vor ihrer Selbsttötung einen Termin bei der Hausärzt:in hatten [3]. Suizidgedanken, -wünsche und -impulse sind dabei jedoch nur selten Gegenstand der Konsultation [4]. Offenkundig tun sich Betroffene schwer damit, entsprechende Beschwerden proaktiv zu äußern [5]. Hausärzt:innen kommt somit eine aktive Rolle in der Suizidprävention zu (vgl. Kasuistik).
Risikoabschätzung
Die Vermutung, eine Patient:in könne sich in einer suizidalen Krise befinden, sollte ihr gegenüber direkt, offen und mit konkreten Worten angesprochen werden: "Denken Sie darüber nach, sich das Leben zu nehmen?" Es ist ein empirisch gut widerlegter Mythos anzunehmen, dass man Patient:innen auf die Idee bringt, sich umzubringen, wenn man sie auf Suizidgedanken und -pläne anspricht [6].
Frei verfügbare Fragebögen wie der Patient Health Questionnaire (www.phqscreeners.com) lassen sich nutzen, um bereits im Vorfeld des Arztgesprächs ein Screening auf Suizidgedanken vorzunehmen. Grundsätzlich sollte es zudem Standard sein, lebensgeschichtliche Suizidversuche und suizidale Krisen bei einer Erstkonsultation zu erfragen und auf dem Deckblatt der Krankengeschichte zu vermerken. Zentrale Risikofaktoren für Suizide können so nicht mehr aus dem Blick geraten.
Gibt es Hinweise auf akutes suizidales Erleben und Verhalten, muss sich eine ausführlichere Exploration anschließen. Einen hilfreichen Rahmen zur Gestaltung der Risikoabschätzung bietet der Ansatz der "Chronologischen Erfassung suizidaler Ereignisse". Hier empfiehlt Shea [7], die Risikoabschätzung so zu strukturieren, dass die Art und das Ausmaß suizidaler Ideen und Handlungen in Bezug auf verschiedene Zeiträume erfragt werden. Das Gespräch untergliedert sich somit in eine Exploration (1) aktueller Suizidalität, (2) suizidalen Erlebens in den vergangenen zwei Monaten, (3) vergangener Suizidversuche und (4) unmittelbar bevorstehenden suizidalen Erlebens und Verhaltens. Innerhalb jedes Zeitfensters richtet sich der Fokus der Fragen auf Art und Ausmaß von Suizidgedanken und suizidalen Verhaltensweisen (vgl. Kasten 1).
Es ist durchgängig darauf zu achten, Fragen offen ("Denken Sie an Suizid?") zu stellen und auf negativ phrasierte Fragen ("Sie denken nicht an Suizid, oder?") zu verzichten. Zudem sollte man das Gespräch auf wertschätzende, akzeptierende und verständnisvolle Weise führen. Suizidale Menschen sind erheblicher Stigmatisierung ausgesetzt – diese Erfahrung sollte sich in der hausärztlichen Praxis auf gar keinen Fall wiederholen.
- Viele Menschen würden in ihrer Lebenssituation am Sinn des Lebens zweifeln oder es für das Beste halten, nicht mehr zu leben. Wie ist das bei Ihnen?
- Häufigkeit, Dauer, Intensität und Auslöser aktueller Suizidgedanken: Wie sehen diese Gedanken aus? Wie oft denken Sie derzeit daran, sich das Leben zu nehmen? Wie lange dauern diese Gedanken normalerweise an?
- Spezifität der Gedanken und konkrete Planung: Haben Sie auch darüber nachgedacht, wie, wo und wann Sie sich töten werden? Haben Sie auch über andere Methoden, sich zu töten, nachgedacht?
- Verfügbarkeit der Mittel: Haben Sie die notwendigen Mittel zu Hause?
- Vorbereitungen und Probehandlungen: Haben Sie auch andere Dinge schon vorbereitet? (Internet nach Suizidmethoden abgesucht, Abschiedsbrief geschrieben, persönliche Sachen verschenkt, Testament verfasst, Zahlungsmodalität der Lebensversicherung abgeklärt etc.?) Haben Sie schon mal probiert, wie es wäre, wenn Sie es dann wirklich tun würden?
- Während der letzten sechs bis acht Wochen, wie viel Zeit haben Sie da – an schlechten Tagen – darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen?
- Eher so 90 % oder 70 % des Tages?
- Haben Sie schon versucht, sich das Leben zu nehmen? Wie oft haben Sie in Ihrem Leben versucht, sich umzubringen?
- Letzter Suizidversuch: Wann haben Sie zuletzt versucht, sich das Leben zu nehmen? Was genau haben Sie gemacht? Wie ist es dazu gekommen, dass Sie überlebt haben? Waren Sie im Anschluss in medizinischer Behandlung? Haben Sie den Versuch länger geplant, oder ist es eher plötzlich dazu gekommen? Wie fanden Sie es seinerzeit, überlebt zu haben?
- Schwerster Suizidversuch: Welchen Suizidversuch würden Sie als Ihren schwersten bezeichnen, d. h. wann war Ihr Wunsch zu sterben am allergrößten beziehungsweise wann waren Sie sich am sichersten, dass das gewählte Vorgehen tödlich sein würde?
- Wie sieht es eigentlich mit suizidalen Gedanken aus, während wir gerade miteinander reden?
- Und wenn Sie jetzt die Praxis verlassen: Was denken Sie, passiert mit Ihrem Wunsch zu sterben?
Die Abklärung hat das Ziel, eine Einschätzung darüber vornehmen zu können, inwieweit sich die Patient:in von suizidalen Handlungen distanzieren kann, ob Absprachefähigkeit besteht (bzw. sich die Patient:in in einem Zustand der Freiverantwortlichkeit befindet) und welche Unterstützungsmöglichkeiten sie benötigt und wünscht. Eine Patient:in, die uns an suizidalem Erleben teilhaben lässt, ist ambivalent, hat die Entscheidung zum Suizid (noch) nicht getroffen und bittet somit um Hilfe. Auf Basis der Einschätzung muss über das weitere Vorgehen entschieden werden: Soll man eine unmittelbare stationäre Einweisung veranlassen, braucht es eine Überweisung beziehungsweise Vermittlung an eine Psychiater:in und/oder eine Psychotherapeut:in oder kann die Weiterbehandlung in der hausärztlichen Praxis erfolgen? Wegen fehlender Überweisungsmöglichkeiten und langer Wartezeiten auf einen Therapieplatz bleibt Letzteres leider oft die einzige Option.
Krisenintervention
Erfolgt eine Weiterbehandlung bei der Hausärzt:in, sollte der Zugang zu letalen Suizidmethoden begrenzt werden: Es muss also abgesprochen werden, dass Gegenstände, welche die Patient:in für ihre Selbsttötung verwenden möchte (z. B. Rasierklingen, Medikamente, Giftstoffe), entweder weggeworfen oder – für die Zeit der Krise – an Freund:innen, Familienmitglieder, Behandler:innen gegeben oder unzugänglich (Keller, Schließfach) aufbewahrt werden [8]. Entsprechende Studien zeigen, dass krisenhafte Zuspitzungen oftmals von kurzer Dauer sind und Betroffene innerhalb einer suizidalen Krise nur selten einen Wechsel der präferierten Methode vornehmen [9]. Tatsächlich gilt die Zugangsbeschränkung als eine der effektivsten Methoden der Suizidprävention überhaupt [10].
Als weitere Standardintervention im Umgang mit suizidalen Krisen gilt die Erstellung eines Notfallplans (vgl. Kasten 2) [11]. Dabei handelt es sich um eine Liste von hierarchisch organisierten Strategien und Personen oder Institutionen, die eine Patient:in im Fall einer suizidalen Zuspitzung anwenden beziehungsweise kontaktieren kann. Im Notfallplan sollten verschiedene Elemente spezifiziert werden. Das Format des Notfallplans sollte man entsprechend den individuellen Bedürfnissen der Patient:innen wählen. Vielfach bietet es sich an, kleine Karten, die im Portemonnaie mitgeführt werden können, zu nutzen. Alternativ lässt sich der Notfallplan natürlich auch im Smartphone speichern (z. B. Safety Plan App oder Krisenkompass-App).
In der Zeit der Krise sollte man auch regelmäßige Konsultationen anbieten. Es ist zu überlegen, Familienmitglieder oder Freund:innen der Betroffenen in die Gespräche einzubeziehen und gegebenenfalls eine unterstützende medikamentöse Behandlung anzubieten. Wegen der uneinheitlichen Befundlage rät die NVL/S3-Leitlinie Unipolare Depression (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-005.html) jedoch davon ab, Antidepressiva zur speziellen Behandlung suizidalen Erlebens einzusetzen. In der klinischen Praxis hat sich eine Kombinationsbehandlung aus Antidepressivum und Benzodiazepin in der Behandlung suizidaler Menschen etabliert. Ärzt:innen sollten sich jedoch bewusst sein, dass es keine Evidenz für den Nutzen einer entsprechenden Behandlung gibt. Zudem muss man die therapeutische Breite verschriebener Medikamente im Blick haben und nur kleine Mengen verschreiben oder mitgeben.
- Suizidgedanken und suizidales Verhalten sollten von Hausärzt:innen immer proaktiv erfragt werden.
- Ärzt:innen sollten sich hierbei als verlässliche Partner:innen im Umgang mit der Krise anbieten und umschriebene Methoden zur Kontrolle suizidaler Impulse nutzen.
- Eine wirksame Medikation zur Behandlung akuter Suizidalität gibt es derzeit nicht.
- Die zentrale antisuizidale Maßnahme: eine enge und vertrauensvolle therapeutische Beziehung.

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert
- Depression in der Praxis: Die 2 Säulen der hausärztlichen Therapie
- Suizidprävention beim Hausarzt: Gefahr erkennen und ansprechen!
- Herausforderung in der Hausarztpraxis: Die vielen Gesichter der Depression
- Freitod eines Patienten: Maximale Belastung für den Hausarzt
- Beim Hausarzt: Psychiatrie für Nicht-Psychiater
Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (7) Seite 20-22