Plötzlich aufgetretene starke Rückenschmerzen im Lendenbereich beim Bücken und Heben – im Volksmund gerne als "Hexenschuss" bezeichnet – sollten immer auch an einen Bandscheibenvorfall denken lassen. Weniger akute Beschwerden, die aber mit zunehmender Einschränkung der Gehstrecke einhergehen, sind verdächtig auf eine Spinalkanalstenose. Welche Probleme bei diesen beiden Krankheitsbildern zu bedenken sind, wie sinnvolle diagnostische Schritte aussehen sollten und wann welche Therapie erforderlich ist, soll im folgenden Beitrag anhand von zwei Kasuistiken dargestellt werden.
Die lumbale Spinalkanalstenose
Definition: Es handelt sich um eine radiologische Definition, bei der der Durchmesser des lumbalen Spinalkanals weniger als 10 mm beträgt. Diese Morphologie besitzt keinen Krankheitswert. Mit zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit, so dass man mit Überschreiten des 60. LJ bei nahezu allen Patienten eine Spinalkanalstenose vorfindet [1].
Hauptprobleme aus der Sicht des Facharztes: Sehr häufig ist von den betagten Patienten zu hören, dass sie sich erst bei extremen Beschwerden und nahezu unerträglicher Lebensqualität vorstellen, da sie Angst haben, nach einer Operation an der Lendenwirbelsäule querschnittsgelähmt zu sein. Hier könnte bei Verdacht auf eine operationswürdige Spinalkanalstenose eine hausärztliche Aufklärung einen Großteil der Angst nehmen. Die Erklärung, dass im besagten Bereich (LWS)kein Rückenmark vorhanden ist und somit eine Querschnittslähmung nicht möglich ist, würde wahrscheinlich schon viele der betroffenen Patienten früher zur Diagnostik und somit auch früher zur adäquaten Therapie führen und sie somit schneller einer besseren Lebensqualität zuführen.
Ein weiteres Problem ist die Vorstellung der zumeist alten Patienten, dass eine Narkose "in meinem Alter ..." nicht mehr möglich ist. Auch hier muss Aufklärung erfolgen und dem Patienten versichert werden, dass alle Fachrichtungen im Sinne des Patienten handeln und durchaus unter elektiven Bedingungen eine Narkose möglich ist.
In den letzten Jahren wurde leider über die Medien ein verzerrtes Bild der operativ tätigen Kollegen erschaffen, welches nur sehr schwer zu verdrängen ist. Dies gilt besonders für die Kollegen, die an der Wirbelsäule operieren.
Ursache: Die segmentale Degeneration mit Höhenminderung des Bandscheibenfaches und somit Höhenminderung des Segmentes führt zu einer Vorwölbung der Bandscheibenstrukturen in den Spinalkanal hinein. Der Höhenverlust engt auch den Recessus und die Neuroforamina ein. Zudem kommt es zur Aufwerfung des Lig. flavum in den Spinalkanal. Dies wird häufig als "Hypertrophie des Lig. flavum" bezeichnet, was jedoch anatomisch nicht korrekt ist, da es sich vielmehr um eine Verlagerung (Auffaltung) des Bandes handelt, welches zwischen den Wirbelbögen aufgespannt ist. Da sich die Wirbelbögen durch die segmentale Degeneration einander nähern, wölbt sich das dazwischen aufgespannte Band nach innen, in den Spinalkanal. Die knöchernen Strukturen reagieren auf die Segmentinstabilität mit knöchernen Anbauten, wodurch es zu einer Hypertrophie der Facettengelenke kommt.
Folgen: Durch die o. g. Veränderungen kommt es zu einer sekundären Instabilität des Segmentes und zu einem chronischen Gleitwirbel, der das ohnehin eingeengte Segment weiter einengt.
Klinische Symptomatik: In der Regel fallen die Patienten durch eine verkürzte Gehstrecke mit einer Claudicatio-spinalis-Symptomatik und einem inklinierten Gangbild auf. Im Gegensatz zur Claudicatio intermittens bei pAVK reicht jedoch bei der Claudicatio spinalis das bloße Stehenbleiben nicht aus. Die Patienten müssen sich hinsetzen. Weiterhin kann es zu einer belastungsabhängigen Lumbalgie und pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung mit Schweregefühl der Beine beidseits oder auch einseitig kommen [7]. Lordosierende Körperhaltung (Bergabgehen) verstärkt das Krankheitsbild, wohingegen entlordosierende Körperhaltungen, wie z. B. Fahrradfahren, die Beschwerden verringern.
Diagnostik
Anamnese: In Anbetracht der multiplen Differenzialdiagnosen muss diesem Teil der Diagnostik viel Beachtung geschenkt werden. Das folgende Vorgehen hat sich als praktikabel bei der Anamneseerhebung erwiesen:
- Besteht ein inkliniertes Gangbild?
- Reklinationsschmerz?
- Morgendlicher Anlaufschmerz?
- Bestehen Paresen?
- Hüftbeweglichkeit frei?
- Gehstreckenminderung?
- Vorerkrankungen wie Osteoporose, Diabetes mellitus, vaskuläre Vorerkrankungen?
- Blasen- oder Mastdarmentleerungsstörung?
Radiologie
MRT: Es zeigte sich in der Vergangenheit, dass die beste radiologische Methode zum Nachweis einer Spinalkanalstenose die Magnetresonanztomographie ist, die eine Sensitivität von über 90 % und eine Spezifität von über 70 % hat [2].
Röntgen: Die konventionelle Röntgenaufnahme der LWS in zwei Ebenen im Stehen zeigt bereits vorhandene degenerative Veränderungen. Die Funktionsaufnahmen der LWS zeigen vorhandene Gleitwirbel.
Lumbale Funktionsmyelographie: In bestimmten Fällen, in denen eine MRT-Untersuchung zu keinen eindeutigen Befunden führt, kann eine lumbale Funktionsmyelographie indiziert sein. Dies kann z. B. nach Implantation von Fremdmaterial bei Spondylodese oder beim Vorhandensein eines Herzschrittmachers der Fall sein. Weiterhin kann die dynamische Beurteilung der betroffenen Segmente eine Indikation zur Funktionsmyelographie sein.
Therapie
Operativ: Die bei leichtgradigen Stenosen mit moderaten klinischen Symptomen bevorzugte konservative Therapie steht der operativen Therapie bei den hochgradigen Stenosen gegenüber. Prinzipiell muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass eine bildmorphologisch vorhandene Spinalkanalstenose bei fehlender klinischer Symptomatik als Zufallsbefund zu werten ist und keinerlei – weder konservativer noch operativer – Behandlung bedarf.
Eine sichere Operationsindikation besteht bei Vorhandensein neurologischer Defizite, wie z. B. Paresen oder gar einer Konus- oder Kaudasymptomatik. Insgesamt muss jedoch im Gespräch mit dem Patienten der Leidensdruck und die Einschränkung der Lebensqualität eruiert werden. Hierzu hat sich in der täglichen Arbeit die Frage nach der Gehstreckenminderung sehr bewährt. Unabdingbar ist jedoch in jedem Fall die unbedingte Korrelation zwischen dem vorhandenen bildmorphologischen Befund und der passenden klinischen Symptomatik.
In verschiedenen Studien wurde die operative Therapie der konservativen Therapie bei klinisch relevanter Spinalkanalstenose als überlegen beschrieben [8, 9, 10].
Konservativ: Bei moderater Klinik scheint die regelmäßige Anwendung physiotherapeutischer Maßnahmen zur Stärkung der Rückenmuskulatur und der muskulären Dysbalance sehr hilfreich zu sein. Die regelmäßige Einnahme von NSAR und Muskelrelaxantien und Steroiden wird weiterhin diskutiert [3, 4].
Weiterhin werden ebenfalls die lokalen Infiltrationen mit Lokalanästhetika in Kombination mit Steroiden angewendet, die zwar im Einzelfall hilfreich sein können, jedoch keine signifikante nachhaltige Beschwerdebesserung gezeigt haben [5, 6].
Operation: Das Ziel der Operation ist die neurogene Dekompression des betroffenen Segmentes. Hierzu ist es wichtig, präoperativ festzustellen, ob eine segmentale Instabilität vorliegt. Daraus ergibt sich für den Operateur die Entscheidung einer reinen osteoligamentären Dekompression oder der Dekompression in Kombination mit einer Stabilisierung des Segmentes. Die möglichen Varianten der Dekompression sind: Laminektomie, Hemilaminektomie, uni- oder bilaterale Hemilaminotomie, Hemilaminektomie mit Untercutting zur Gegenseite.
Der lumbale Bandscheibenvorfall
Hauptprobleme aus der Sicht des Facharztes: Immer wieder ist der sogenannte Wurzeltod bei lang bestehendem lumbalen Bandscheibenvorfall durch Kompression der Nervenwurzel ein vermeidbares Phänomen. Häufig ist der Grund in einer prolongierten konservativen Therapie trotz Operationsindikation zu suchen.
Bei großvolumigen Bandscheibenvorfällen mit einer entsprechenden Symptomatik sollte nach adäquater konservativer Therapie (s. u.) und fehlender eindeutiger Besserung zur Vorbeugung bleibender Schäden eine operative Therapieoption mit dem Patienten besprochen werden.
Der Beginn einer Kortison-Stoßtherapie kann bereits bei entsprechenden Symptomen vor fachärztlicher Vorstellung erfolgen. Hiermit kann ggf. bereits die Symptomatik so weit gebessert werden, dass eine physiotherapeutische Behandlung begonnen werden kann.
Im Rahmen der Diagnostik wird zeitweise das CT der MRT-Untersuchung vorgezogen, da es beim Radiologen schneller terminiert werden kann und der Patient das Problem der "Platzangst" nicht hat. Hier muss jedoch aus Sicht des Operateurs gesagt werden, dass zur eindeutigen Diagnostik und Beurteilung der ligamentären und neuronalen Strukturen das MRT der Goldstandard ist. Es ist daher aus unserer Sicht unbedingt sinnvoller, bei begründetem Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall "den kleinen Dienstweg" einzuschlagen und ein MRT in die Wege zu leiten.
Anamnese: Häufig sind es inklinierende Bewegungen in Kombination mit Torsionsbewegungen, die zu einem Bandscheibenvorfall mit Austritt des Nucleus pulposus führen. Auch das Heben schwerer Gegenstände in unbequemer Körperhaltung wird oft angegeben. Auf Nachfrage kann der Patient häufig sogar den genauen Zeitpunkt des Geschehnisses nennen. Um funktionelle Ausfälle aufzudecken, ist die Frage nach vermehrtem Stolpern (Fußheberparese) oder dem Aufklatschen des Vorfußes beim Laufen (Steppergang bei Fußheberparese), pressorischem Schmerz (Einengung des Spinalkanals), erschwertem Gasgeben oder Kupplungtreten beim Autofahren (Fußsenkerparese) oder Treppensteigen mit Hochziehen am Geländer (Quadrizepsparese) wegweisend.
Ursache: Ursache eines Bandscheibenvorfalles ist häufig eine ruckartige Bewegung oder schweres Heben in Kombination mit inklinierenden oder torsierenden Bewegungen. Der lumbale Bandscheibenvorfall ist eine Erkrankung des mittleren Lebensalters. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits kleine Einrisse im äußeren Faserring vorhanden, innerhalb der Bandscheibe befindet sich jedoch noch genügend Druck, so dass der gallertige Kern bei Faserringrissen austreten kann. Am häufigsten sind die unteren Segmente der LWS hierdurch betroffen, vor allem L4/5 und L5/S1. Bei Einrissen des äußeren Faserrings und dem Verlagern des Nucleus pulposus kommt es zu Druckasymmetrien innerhalb des Bandscheibengewebes, was schließlich zum Austritt des Nucleus und zum Druck auf die Nervenwurzel führt.
Klinische Symptomatik: Die Beschwerden, die der Bandscheibenvorfall hervorruft, sind abhängig von seiner Lokalisation innerhalb des Spinalkanals. Zentral gelegene Bandscheibenvorfälle ohne Seitenbetonung führen häufig zu starken, plötzlich eintretenden Rückenschmerzen, die sich bei Inklination verstärken. Eine Bandscheibe, die auf Höhe des Bandscheibenfaches mit Seitenbetonung prolabiert, komprimiert die abgehende Nervenwurzel auf gleicher Höhe, kann aber auch die kaudal vom Bandscheibenfach abgehende Nervenwurzel komprimieren. Entsprechend verhalten sich eindeutig nach kranial oder kaudal sequestrierte Bandscheibenvorfälle.
Meist macht sich ein akuter Bandscheibenvorfall mit einer plötzlich einhergehenden einseitigen Schmerzsymptomatik im Bein bemerkbar. Es kann auch zu Gefühlsstörungen und in gravierenden Fällen zu Kraftminderung entsprechend der komprimierenden Nervenwurzel kommen.
Eine Besonderheit bei sogenannten "Bandscheibenmassenvorfällen" mit nahezu kompletter Verlegung des Spinalkanals kann das "Konus-/Cauda-Syndrom" sein, das zum Verlust der Blasen- und/oder Mastdarmkontinenz führen kann. Dies ist ein neurochirurgischer Notfall und bedarf einer umgehenden operativen Entlastung der neurogenen Strukturen, um bleibende Schäden zu vermeiden.
Diagnostik
Anamnese: Auffällig bei der Anamneseerhebung ist häufig der genaue Zeitpunkt, der genannt wird, als die Beschwerden begannen. Dies führt bereits häufig zur Verdachtsdiagnose eines lumbalen Bandscheibenvorfalls als akutes Ereignis.
Auch wenn den Patienten eine konkrete Parese nicht bewusst ist, hilft es, wenn man z. B. nach vermehrtem Stolpern oder dem sogenannten Steppergang, der bei einer Fußheberschwäche auftritt, fragt. Bei Verdachtsdiagnose eines Massenvorfalls mit Konus-/Kaudasymptomatik muss immer nach ungewolltem Urin- oder Stuhlabgang gefragt werden. Gefühlsstörungen im Genitalbereich und eine Reithosenhypästhesie sollten ausgeschlossen werden. Bei unklarer Aussage kann auch die rektal-digitale Untersuchung zur Beurteilung des Sphincter-Tonus indiziert sein.
Radiologie: Der Goldstandard besteht in der Durchführung einer Magnetresonanztomographie (MRT) der LWS. Hierbei lässt sich eine exakte Lokalisation des Bandscheibenvorfalls zeigen. Sollte dies bei Patienten, die metallische Implantate im LWS-Bereich oder einen Herzschrittmacher haben, nicht möglich sein, kann auch ein CT der LWS oder als Ultima Ratio eine Funktionsmyelographie durchgeführt werden.
Therapie: Die Prognose eines akuten Bandscheibenvorfalls ist in der Regel gut. Meist kommt es zum Verlust von Wasser aus dem prolabierten Gewebe (Sequester), was zur Verkleinerung desselben und somit zur Verminderung der neuralen Kompression führt. Dies bedeutet, dass ca. 80 % der akuten Vorfälle konservativ behandelt werden können. Bei persistierender Symptomatik oder sogar vorhandenen neurologischen Defiziten, wie Paresen, sollte jedoch eine operative Therapie in Betracht gezogen werden. Bei hochgradigen Paresen sollte zur Vermeidung bleibender Schäden eine Operation angeraten werden.
Sollten die Beschwerden unter einer konservativen Behandlung in einem Zeitfenster von ca. sechs Wochen zu keiner deutlichen Besserung führen oder aber sich in besagtem Zeitfenster massive Paresen einstellen, sollte die Operation mit dem Patienten besprochen werden.
Ein besonderer Zustand ist der sogenannte "Wurzeltod". Dieser ist unter Umständen sehr tückisch, da der Patient eine Besserung seiner Schmerzen erfährt und dadurch in der trügerischen Annahme ist, dass seine Erkrankung besser wird. Tatsächlich ist jedoch auf Nachfrage häufig eine deutliche Verschlechterung der Kraft vorhanden, so dass die Besserung der Schmerzen als Alarmsignal zu werten ist und nicht (!) als Zeichen einer Besserung. Hier besteht dringende Operationsindikation.
Konservativ: Eine konservative Behandlung bei moderaten Beschwerden kann mit NSAR und muskelrelaxierenden Medikamenten erfolgen. Bei starken Schmerzen oder beginnendem Kraftverlust sollte eine Kortikoidtherapie durchgeführt werden. In meiner Sprechstunde verwende ich dabei ein Zwölf-Tage-Schema (Kasten 2). Hierbei ist darauf zu achten, dass die Patienten auf die Nebenwirkungen des Kortisons aufmerksam gemacht werden, besonders bei bestehendem Diabetes mellitus. Eine weitere Möglichkeit ist die CT-gesteuerte periradikuläre Therapie der betroffenen Nervenwurzel, die zum Abschwellen der gereizten Nervenwurzel führt und somit zur Besserung der Symptomatik. In gebessertem Zustand kann dann mit physiotherapeutischen Übungsbehandlungen zur Stärkung der Rückenmuskulatur und Besserung der muskulären Dysbalance begonnen werden.
Operativ: Das Ziel der Operation ist die neurogene Dekompression der komprimierten Nervenwurzel. Diese erfolgt in unserer Praxis unter einer erweiterten Teilhemilaminektomie und der Dekompression des Spinalkanals im entsprechenden Segment mit Entfernung des Sequesters. Aus dem Bandscheibenfach werden weitere lose Bandscheibenfragmente entfernt und zur Prophylaxe einer Spondylodiszitis in das Bandscheibenfach Gentamycin appliziert. Neben der offenen Operationsmethode kann auch eine endoskopische Operation erfolgen.
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (1) Seite 22-28